Festival „Müssen alle mit“: Arme und Energie, Nerven und Notwist

Bei mir ist gerade große Ausprobierphase angesagt. Am Samstag habe ich beim Festival „Müssen alle mit“ in Stade, kurz MAMF, am Einlass bei der Bändchenausgabe gearbeitet. Ich finde es hochgradig spannend, welches logistische Drumherum nötig ist, um einen Tag lang ein solches Pop-Open-Air über die Bühne zu bringen. Eine feine Meisterleistung an Koordination und Teamwork, Professionalität und Improvisation, Geduld und Leidenschaft.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, Die Nerven, Band Unterschiedliche Gewerke kommen zusammen – etwa die Thekencrew vom Knust aus dem Karoviertel, das Künstlercatering von der Wilhelmsburger Kaffeeklappe sowie der Backline-Service vom Instrumentenhandel Rückkopplung auf St. Pauli. Für mich gehört das alles zur Popkultur dazu. Von der Security, die die Taschen kontrolliert, über den stets am Walkie-Talkie hängenden Veranstalter bis hin zum Musiker, der letztendlich im Rampenlicht steht. Und wir am Einlass dürfen die rund 2000 Besucher des „Müssen alle mit“ willkommen heißen. Eine Aufgabe, die Spaß macht. Und die in variierenden Wiederholungsschlaufen abläuft.

„Müssen alle mit“: Check-in in der Halfpipe

Immer und immer wieder: Anschauen und anlächeln, „bitte zu mir“ und „herzlich willkommen“, Ticket checken und einreißen, Bändchen nehmen und um den Arm legen, zur Zange greifen und die Metallöse am Bändchen zudrücken, Programmheft anreichen und viel Spaß wünschen. Minütlich grüßt das Murmeltier. Kontakt um Kontakt um Kontakt. Die Gäste ziehen weiter aufs Gelände. Songs von Zimt, Swutscher, Goldroger und Rocko Schamoni wehen zu unserem Stand herüber, der in eine Halfpipe des örtlichen Skaterparks hineingebaut wurde. Keep on rolling.

Mit jeder S-Bahn aus Hamburg erhöht sich der Rhythmus. Neue Gesichter. Neues Lächeln. Neue Arme. Arme mit Festivalbändchensammlung. Arme mit Schmuck. Ab und an sogar Arme mit Uhren. Weiße und schwarze, braune und rote. Dünne und dicke, junge und alte. Glatte und raue, bunte und beschriftete. Diese Arme gehören entspannten Menschen. Leute, die auf der Wiese sitzen und Musik hören möchten. Die vor der Bühne stehen und ausrasten wollen. All diese unterschiedlichen Arme führen an diesem Tag nichts Böses im Schilde. Es sind keine Arschlocharme. Es sind Arme, die zusammenkommen. Die sich nur ab und an in den Himmel strecken, wenn ein Song von der Bühne gerade besonders berührend ist. Das ist gut.

Angenehm verstört bis amüsiert bei Die Nerven

Um kurz nach 17 Uhr habe ich Feierabend, was mir zum Glück Zeit lässt, einige Bands des „Müssen alle mit“ anzuschauen. Am meisten freue ich mich auf Die Nerven aus Stuttgart, die ich noch nie live gesehen habe, und auf The Notwist aus Weilheim, bei denen es lange her ist.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air Bei den Nerven fällt mir als erstes auf, dass die drei Musiker auf der breiten Bühne sehr nah beieinander stehen. Das gefällt mir, hat es doch etwas sehr Vertrautes, Verbundenes. Kompakte Energie. Dringlicher Krach. Weltschmerzende Wut. Nervöse Takte. Akzentuiertes Atmen. Irritierender Hall. Ich bin sofort drin und aufgesogen und angenehm verstört bis amüsiert von diesem Rock und Punk und Nichts und Allem.

Drummer Kevin Kuhn ist wunderbar drüber mit seinem MAD-Shirt an irrem Blick. Bassist Julian Knoth schaut freundlich in die Menge. Und Sänger Max Rieger ist ganz selbstverständlich da mit seinen rätselhaften Texten. „Finde niemals zu dir selbst.“ Diesen Satz wiederholt er in Schlaufe. Und wie er diese Worte singt, klingen sie desillusioniert und hoffnungsvoll zugleich. Das ist sehr schön. Das rotiert in mir.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, The Notwist, Band Bei The Notwist legt sich langsam das Dunkel über den Park in Stade, so dass weiße und bunte Lichtkegel die Band und ihren Sound atmosphärisch einkleiden können. Sechs Musiker wirken an Gitarre, Bass und Schlagzeug, an Vibrafon und Percussion, an Synthesizern und elektronischen Effektgeräten. Sechs Arme eines Organismus, der alle Körper vor der Bühne nach und nach absorbiert mit seinem Klang. Halb Mensch, halb Maschine. Ein Geschöpf, dass die Störgeräusche unserer Zeit in Musik fließen lässt. Es knistert und brutzelt, drängt und driftet, wächst an zur Überwältigung, zieht sich zurück, packt einen von hinten. Einfallsreich und freidrehend, merkwürdig und einnehmend.

The Notwist: Etwas öffnet sich sperrangelweit

The Notwist verstehen es seit jeher, so etwas wie einen Rave für Melancholiker zu entfesseln. Und wenn dann bei einem Song wie „Pick Up The Phone“ der sanfte Gesang von Markus Acher einsetzt, dann öffnet sich etwas sperrangelweit. Etwas in mir fällt ab und wird leichter. Und ich bin erneut dankbar, dass Musik so etwas kann. Und noch viel mehr.

"Müssen alle mit", Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, Kettcar, Band Zwischen Die Nerven und The Notwist spielt Kettcar als Ersatz für die erkrankt ausfallenden Turbostaat. Eine Hamburger Bank. Zigfach erlebt. Rock und Rückgrat. „Das Humanitäre ist nicht verhandelbar“, sagt Sänger und Gitarrist Markus Wiebusch zum Kettcar-Song „Sommer ’89“, der von Fluchthilfe erzählt. Von Courage. Starker Applaus. „Müssen alle mit“.

Den Hauptact Zweiraumwohnung schwänze ich und fahre müde mit der S-Bahn nachhause. Es ist gleich 23 Uhr. MAMF-Rückreisende mischen sich mit jenen, die es vom Stadtrand aus zum Feiern auf den Kiez zieht. Träge Arme treffen auf Alarm und Adrenalin. Und die Stadt schreibt sich stetig fort.

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