Gerade als ich dachte, der Gründungsboom bei Festivals würde ein wenig ausklingen, poppte das Nørden Festival in Schleswig an der Schlei auf der Open-Air-Landkarte auf. Das schlicht und schön gestaltete Programmheft versprach ein ambitioniertes Programm aus Musik von Indierock über Soul bis Deutschpop, zudem Artistik und Freiluftaktivitäten wie Bogenschießen, Stand-Up-Paddeling und Sauna. Und das direkt an drei Wochenenden von Ende August bis Mitte September, jeweils von Donnerstag bis Sonntag. Kein ganz kleines Projekt also.
Ich bewundere derart kreativen wie unternehmerischen Mut. Und ich liebe es, mir neue Festival-Gelände anzuschauen. Mich interessiert, welche Ideen zutage treten und wie die Macher es schaffen, eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Also fahre ich am Freitag mit einer Freundin von Hamburg hoch nach Schleswig-Holstein, um das Nørden Festival zu erkunden.
Unser erster Eindruck: Wir fühlen uns sofort sehr wohl. Das liegt vor allem an den vielen dunkelrot angestrichenen Holzhütten, die wie hingewürfelt auf der grünen Wiese stehen. Die Häuschen beheimaten Bars und kulinarisches Angebot, den Merchandise-Stand sowie kleine Design- und Mode-Shops. Und auch die Licht- und Tonpulte der Hauptbühne sind in einem der Hütten untergebracht. Wimpel- und Lichterketten, die kreuz und quer über dem Gelände hängen, unterstreichen den malerischen Effekt zusätzlich.
Das Nørden Festival macht spürbar, wie nah wir an Skandinavien leben
Heutzutage wird diese Art von nordischer Heimeligkeit gerne auch bei uns mit dem dänischen Wort Hygge bezeichnet. Für mich ist das allerdings schlichtweg der Bullerbü-Effekt. Ich denke sofort an die Geschichten von Astrid Lindgren, in denen die Kinder sehr selbstbestimmt in der Natur auf Entdeckungsreise gehen. Und dass das Nørden Festival direkt am Stadtstrand von Schleswig an der Schlei gelegen ist, potenziert den Eindruck von verwunschener Idylle noch einmal.
Das Nørden Festival macht für mich sehr gut spürbar, wie nah wir in Norddeutschland an Skandinavien leben. Und dass zudem eine starke Verbindung zu den baltischen Ländern existiert. Das schlägt sich an diesem Freitag sehr schön im künstlerischen Programm nieder.
Den Auftakt macht der Musiker Gløde, ein grundsympathischer Typ, der eigentlich mit Band auftritt, an diesem frühen Abend aber solo unterwegs ist. Seine warmherzigen Singer-Songwriter-Lieder singt er – wahlweise zu akustischer Gitarre oder Piano – auf Deutsch oder Dänisch. Ein perfekter Soundtrack, um den Blick von der Bühne über das schilfbewachsene Ufer der Schlei wandern zu lassen und den wilden Formationsflügen der Stare zuzuschauen. Ein ruhiges Gefühl von Freiheit.
„Jetzt ist die Zeit, den Sommer gehen zu lassen, und sich zu freuen, dass er nächstes Jahr wiederkommt“, sagt Gløde ganz freundlich und zuversichtlich.
Carnival Youth singen zum Teil auf Lettisch
Der Herbst zieht äußerst frisch über die Schlei heran. Zehen und Nase werden kalt. Wir trinken daher den ersten Glühwein des Jahres und lauschen, bei einer Hütte direkt am Wasser, dem herzerweiternden mehrstimmigen Gesang von The Notes. Das Trio aus Estland singt Teile seines Repertoires in seiner Landessprache. Mit gefällt das sehr, diesen unvertrauten Klängen zuzuhören. Eine schöne Reise im Kopf lässt sich so beginnen.
Und fortgeführt wird dieser Ausflug in sprachliche Gefilde mit dem Konzert von Carnival Youth aus Riga, die ebenfalls nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Lettisch singen. Eine tolle Kombination ist das zusammen mit dem rhythmusverliebten Indiepop des Quartetts. Harmonien, Tempiwechsel und viele feine musikalische Details ergeben einen hymnischen und mitreißenden Sound. Schon lange habe ich keine Band mehr erlebt, die derartig dauerhaft strahlt bei einem Auftritt. Das macht unglaublich Spaß. Und lädt dazu ein, sich in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit warm zu tanzen, um später dann angefüllt und glücklich durch die Nacht zurück nach Hamburg zu fahren.
Das Konzept des Nørden Festivals muss erst noch ankommen
Wieder zuhause, wo die Häuser höher und weniger hölzern sind, lese ich beim Schleswig-Holsteiner Zeitungsverlag ein Interview mit Manfred Pakusius, dem aus Hamburg stammenden Veranstalter des Nørden Festivals. Darin erfahre ich, dass es bei dieser Premiere rund 2000 Dauergäste gab, aber die Resonanz in der Region noch verhalten ausgefallen sei. Einer der Hauptgründe: Das komplexe Konzept müsse erst nach und nach bei den Leuten ankommen.
Ich muss gestehen, dass ich mich bei meinem Besuch sehr stark auf die Musik fokussiert habe und die übrigen Angebote wie etwa die Feuer-Akrobatik weniger beachtet habe. Ich mag jedoch den Gedanken, dass jeder Gast seine Vorlieben herauspicken kann. So entsteht eine entspannte Mischung aus Stadtfest und Popfestival, das nicht zu uncool ist für die Jugend und nicht zu wüst für die Älteren. Oder umgekehrt.
Das Nørden Festival, das mit städtischen, regionalen und europäischen Mitteln gefördert wird, hat mit der Stadt Schleswig einen Fünf-Jahres-Vertrag abgeschlossen. Ich bin gespannt, wie sich dieses anspruchsvolle Projekt entwickelt. Und ich plane fest, im kommenden Jahr wieder hinzufahren – ins Bullerbü-Open-Air-Land im Norden.