„Wilde Zeiten“ heißt ein Buch mit Hamburg-Bildern des Fotografen Günter Zint, das jetzt im Junius Verlag erschienen ist (49,90 Euro). Und wie ich die gut 250 Seiten durchblättere und zunehmend in diese spannungsgeladene schwarz-weiße Welt der Jahre 1965 bis 1989 eintauche, frage ich mich: Waren die Zeiten damals wirklich wilder, schrulliger, roher? Oder sind wir es einfach zunehmend weniger gewohnt, Situationen und Menschen ohne Pose, ohne Filter, ohne Instagramability zu sehen?
Günter Zint, Jahrgang 1941, ist der große Chronist der Hamburger Szene. Er fotografierte die Beatles und Jimi Hendrix. Er dokumentiert das Leben von Clubs und Kommunen, in Herbert- und Hafenstraße. Er schaut mit seiner Kamera in die Seele von Musikern, Lebenskünstlerinnen und Aktivisten.
Günter Zint zeigt die Energie, das Zottelige und Unperfekte
Natürlich verstand und versteht sich auch Günter Zint auf die Kunst der Inszenierung. Etwa bei einem Foto der britischen Rockband John’s Children, die er nackt, nur von Blumen umrankt, darstellte. Oder beim Bild von Sängerin Nina Hagen, wie sie mit markant aufgerissenen Augen vor zwei treu schauenden Pferden hockt. Doch oftmals wirken die Arbeiten von Günter Zint unverblümt, ehrlich, in positiver Weise beiläufig.
Ob Party oder Demonstration – die Energie, die Aggression, die Euphorie, das Zottelige und Unperfekte, das Günter Zint zeigt, fasziniert mich sehr. Verschrobene Visagen, schiefe Brüste, schräge Blicke.
Selbstverständlich gibt es auch aktuell zahlreiche grandiose Fotografen, die nah und ungestellt, dokumentarisch und fotojournalistisch arbeiten. Ich muss vielmehr darüber nachdenken, dass wir alle mit dem Smartphone nun zu Chronisten der Gegenwart werden. Dass wir somit die Chance haben, das Hier und Jetzt ganz pur abzubilden und zu veröffentlichen. Und dass wir uns doch oftmals dazu entscheiden, uns optisch eher von der Realität wegzubewegen. Hin zum Geschönten, Durchdachten, Gestylten.
Dellen und Schmutz, Merkwürdigkeiten und Melancholien
Ich will an dieser Stelle gar nicht dumpf und laut in das „Früher war alles besser“-Horn stoßen. Dafür liebe ich es selbst viel zu sehr, auf dem Smartphone mit Filtern und Fotobearbeitungsprogramm herumzuspielen. Und lustvolles Maskieren und Posieren gehören für mich zur Popkultur ohnehin zwingend dazu.
Mir schlägt beim Betrachten des Bildbandes von Günter Zint nur schlichtweg entgegen, dass vor noch gar nicht allzu langer Zeit offenbar mit anderen Augen fotografiert wurde. Vielleicht unschuldiger, womöglich weniger reizüberflutet, nicht direkt die Fülle der bereits existenten Bilder mitdenkend.
Ich frage mich, wie sich unsere Wahrnehmung und unser ästhetisches Empfinden in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Zudem bin ich großer Fan von Ecken und Kanten, Dellen und Schmutz, Merkwürdigkeiten und Melancholien. Sie sollen bitte immerfort ihren Platz haben. In der Kunst wie im Alltagsleben.
Günter Zint jedenfalls liebte alle Charakteren und Emotionen, die unangepassten besonders. Das ist seinen Fotografien deutlich anzumerken. Er war zudem ein Besessener. „Über zwei Millionen Bilder hat er in den letzten fünfzig Jahren gemacht“, erzählt Tania Kibermanis im Vorwort zum „Wilde Zeiten“-Buch.
Eimer Wasser auf die Polizei
„Da war ich einfach im richtigen Moment an der richtigen Stelle“, sagt Günter Zint selbst über sein Engagement im Star-Club. Dieses perfekte Timing sollte ihn durch seine Karriere hindurch begleiten.
Zum Beispiel löste er genau in dem Moment aus, als Polizisten Ende 80er-Jahre ein besetztes Haus an der Bernhard-Nocht-Straße stürmten und jemand ihnen aus einem Fenster einen Eimer Wasser auf die Helme kippte. Die Dynamik dieses rebellischen Schwalls hat die Jahrzehnte im Foto überdauert. Schwarz-weiße Zeitgeschichte.
Hamburgs Musikfotografinnen und Konzertfotografen
Als Musikjournalistin bin ich überaus froh, dass es in Hamburg diverse tolle Fotografen gibt, die das popkulturelle Geschehen der Stadt seit Jahren und Jahrzehnten professionell und passioniert festhalten. Isabell Schiffler mit ihrem Jazzarchiv zum Beispiel. Stefan Malzkorn, der sich zudem gerade mit viel Esprit um die kulturelle Belebung seiner Nachbarschaft in Hamburg-Hamm kümmert. Und Katja Ruge, die sich mit ihrem Projekt „Ladyflash“ unter anderem auf Frauen im Pop spezialisiert hat. Und die auch, worüber ich sehr glücklich bin, die Fotos auf meiner Webseite gemacht hat.
Isabell, Katja und Stefan erstellen sowohl Konzertfotos als auch Porträt- und Pressefotos für Musiker. Sie alle haben ihren ganz eigenen Blick. Und ihre eigenen künstlerischen Vorstellungen, ein Bild aufzubauen. Mich begeistert, wie sie oft aus einfachen Situationen eine stilistisch eigensinnige Welt erschaffen. Katja zum Beispiel erzählte mir mal, wie sie Sängerin Björk einst ganz simpel auf einer Verkehrsinsel positionierte. Entstanden ist ein kokettes Kornfeldfoto. Als hätte Björk einen Ausflug aufs Land gemacht.
Livegefühl und Künstlerpersönlichkeit in ihrer Essenz
Ich beobachte gerne, wie die Fotografen bei Konzerten hoch konzentriert an der Rampe der Bühne stehen. Meist dürfen sie nur während der ersten drei Songs eines Auftritts fotografieren. Und dann gilt es, den Flow der Performance immer und immer wieder zu fixieren. In der Hoffnung, dass dieses eine Bild entsteht, das Livegefühl und Künstlerpersönlichkeit in ihrer Essenz transportiert. Eine Kombination aus Können und Kunst. Und ich als Betrachterin kann im Nachhinein eintauchen in die Szenerie. Ich erlebe das Konzert rückblickend noch einmal anders nach. Im besten Fall eindringlicher, fokussierter.
Seit einiger Zeit folge ich deshalb auf Instagram unter anderem dem Hamburger Fotografen Charles Engelken, der viel in kleineren Clubs wie dem Molotow fotografiert. Gefühlt scheint er entweder mitten im Moshpit des Publikums oder mit auf der Bühne zu stehen. Alles ist unmittelbar. Springend, schwitzend, schreiend. Ganz neu entdeckt habe ich für mich den Fotografen Tim Brüning (danke, Katja, für den Tipp), der sich Künstlern und Szenen cool und ungefiltert nähert.
Wäre es nicht schön, alle diese Hambuger Fotografen mal zu einer Ausstellung zusammenzubringen? Und sie über Vergangenenheit, Gegenwart und Zukunft der Musikfotografie ins Gespräch zu bringen? Denn die wilden Zeiten sind hoffentlich noch lange nicht vorbei.