Das Setting erscheint harmlos, die Inhalte sind es nicht. Wenn Schauspielerin Sophie Rois very british zu einer Tasse Tee lädt, geht es am Tisch keineswegs bloß oberflächlich höflich zu. Im Gegenteil.
Unter dem Motto „Have a cup of tea mit Sophie Rois – Songs und Storys über Inzest, Unschuld und Klassenbewusstsein“ präsentiert das Schauspielhaus in Hamburg einen Abend mit Erzählungen des britischen Schriftstellers Ian McEwan sowie Liedern der englischen Band The Kinks. Ich finde es stets sehr spannend, wenn unterschiedliche künstlerische Disziplinen verschränkt werden. Nach dem fulminanten Bowie-Stück, das ich vor einigen Wochen ebenfalls im Schauspielhaus gesehen habe, ist diese Inszenierung wesentlich reduzierter angelegt.
Sophie Rois liest zwei Geschichten Ian McEwans aus den 1970er-Jahren
Auf der Mitte der Bühne nah an der Rampe steht ein kleiner runder Tisch, der als Teetafel mit einem Porzellanservice eingedeckt ist. Zwei Musiker setzen sich, Marc McRae und Clemens Maria Schönborn, der ebenfalls Regie geführt hat – in dunkle Anzüge gekleidet und mit akustischen Gitarren ausgestattet. Es folgt Sophie Rois. Schwarz-weiß gepunktete Bluse, schwarze Hose, spitze Schuhe, forscher Schritt und ein Lächeln, das cool und herausfordernd ist.
Zwei Geschichten McEwans aus den 1970er-Jahren wird sie lesen. „Erste Liebe, letzte Riten“ und „Homemade/Hausmittel“. In der ersten Story weht die Brise sommerlich hinein in die Wohnung eines jungen Liebespaares. Eine vielschichtige Erzählung zwischen liebestoller Leichtigkeit und sozialer Zerrüttung, zwischen simplen Vergnügungen und einfacher Arbeit.
Eine unaufdringliche Verbindung von Musik und Lesung
Toll finde ich, wie gut und wechselseitig verstärkend die unterschiedlichen akustischen Eindrücke wirken. Sophie Rois lässt uns mit ihrem Vortrag in die Rolle des männlichen lyrischen Ichs schlüpfen. Oftmals sitzt sie mit ihrem Manuskriptstapel in der Hand ganz vorne auf der Kante ihres Stuhls. Sie lädt die Lesung auf. Sie wispert und deklamiert, sie liest mit verschiedenen Stimmen und steigert sich hinein, begibt sich etwa mit dem Protagonisten in eine ausufernde sexuelle Schöpferfantasie.
Wie bei einem guten Soundtrack setzen parallel zum Gelesenen die Gitarren mit sachtem Spiel ein. Sophie Rois unterbricht dann ihren Vortrag, nickt ein wenig mit dem Kopf zum Takt und beginnt zu singen. Rau und zugleich kindlich. Nicht mit dem Druck des Rock, sondern kunstvoll nebenbei. Marc McRae und Clemens Maria Schönborn begleiten sie mit leisem Gesang. Eine schöne entspannte Mehrstimmigkeit. Mir gefällt diese unaufdringliche Verbindung von Musik und Literatur sehr gut. Fließend und organisch.
Die Lieder von The Kinks lassen das Gesagte nachschwingen
Kinks-Songs wie „Pictures In The Sand“ unterstreichen mit ihrem beschwingten Midtempo-Flair nicht nur die sommerliche Atmosphäre, sondern zugleich die Ironie, die Sophie Rois fein herausarbeitet. Und je weiter wir mit der famosen Schauspierin in die Handlung vordringen, desto selbstverständlicher fügen sich die Lieder ein. Sie eröffnen eine weitere Bedeutungsebene, die das Gesagte kommentiert, ergänzt, nachschwingen lässt.
Die anfängliche Hingabe der Hauptfigur zum Leben der Common People, die das Stück „Village Green“ reflektiert, kehrt sich im Laufe dieses Sommers in eine „Dead End Street“. Die Geliebte geht in der Fabrik arbeiten. Und das romantisierte Leben als Aalfischer erweist sich als gescheitertes Unterfangen. Die Umstände drücken. Eine Ratte arbeitet sich durch die Wand in das Liebesnest vor und wird zum Sinnbild für eine verwahrlosende Beziehung.
Die Handlung kippt ins Verstörende
In der zweiten Geschichte wird der Tonfall drastischer. „Homemade/Hausmittel“ scheint zunächst einfach von einem pubertierenden wie hochgradig gewitzten Jungen zu erzählen, der vor dem Google-Zeitalter über Mundpropaganda von einem etwas älteren Freund möglichst viel von den Segnungen des erwachsenen Daseins erfahren möchte. Doch als er den Plan fasst, seine Jungfräulichkeit zu verlieren, indem er sich an seiner kleinen Schwester vergeht, kippt die Handlung ins Verstörende.
Wie die Hauptfigur das Vati-Mutti-Spiel mit der Schwester bis aufs Äußerste vorantreiben will, schildert McEwan detailliert. In die extreme Tragik mischt sich ein starker humoristischer Unterton. Der absolute Tabubruch als sarkastisches Gagfeuerwerk – äußerst irritierend. Und wenn dann kurz vor dem Akt das Gitarristen-Duo die berühmten Kinks-Verse „Girl, you really got me goin‘ / you got me so I don’t know what I’m doing“ anstimmt, ist das wie ein Schlag in den Magen. Die Unschuld ist nun endgültig verloren.
Ich merke erst beim Schlussapplaus, dass ich völlig angespannt dagesessen habe. Worte und Musik haben mich mit ihrer hinterlistigen Wucht vollends gepackt. Definitiv ein Abend, der unter die Oberfläche, unter die Haut geht. Der einen nachdenken lässt, zum Beispiel über das Verhältnis von Macht und Ohnmacht. Und der zeigt, dass Pop je nach Kontext immer wieder ganz neu gehört werden kann.
Sophie Rois am Schauspielhaus: „Probleme Probleme Probleme“ von René Pollesch, Uraufführung 6. April 2019
Titelfoto © Ulfig Hartmann Ahrens