Die zweite Woche in Brüssel. Unser Arbeitswohnprojekt findet in seinen Rhythmus zwischen Schreibtisch und Stadtspaziergang. Allerdings sind wir kurzzeitig zu zweit, da Julia für ihren Blog Beautyjagd auf eine Rohstoffmesse nach Paris gereist ist. Matze durchstreift derweil die ansässigen Weinläden und füllt den Kühlschrank mit verschiedensten Biersorten. Rein zu Forschungszwecken, versteht sich. Mit seinem Blog Chez Matze ist er auch auf Instagram präsent, wo er einige kulinarische Brüssel-Genüsse zeigt. Und ich führe meine musikalische Spurensuche fort. Unter anderem im Konzertsaal Cirque Royal. Doch dazu später mehr. Denn seinen Ausgang nimmt natürlich alles stets in unserem Domizil, einer Fabriketage im Viertel Schaerbeek.
Mittlerweile sind mir einige der unter uns probenden Musiker im verwinkelten Gängesystem unseres Hausflurs begegnet. Instrumente schleppend und Boxen schiebend. Ich hatte zwar Französisch in der Schule und an der Uni. Aber ohne Praxis. Weshalb ich nach einem ersten Bonjour meistens ins Englische wechsele. So auch im Gespräch mit den Nachbarn: „Ah, you are the band!“ Gegenfrage: „The band?“
In einer kurzen Plauderei erfahre ich, dass in unserer belgischen Factory nicht nur eine Band übt, sondern ein ganzes Kollektiv, bestehend aus mehreren Formationen. Das erklärt auch die wechselnden Sounds und Lautstärken die Woche hindurch. Montag zum Beispiel scheint eher ein krautrockiger Tag zu sein. Ich bin gespannt, welche Klänge und Konstellationen wir noch erleben werden. Unterdessen habe ich eine weitere Konzertstätte in der Nachbarschaft besucht.
Der Cirque Royal in Brüssel: Plüschsessel für 3500 Gäste
Gut zehn Minuten zu Fuß von uns liegt zwischen botanischem Garten und dem Parc des Bruxelles der Cirque Royal oder, auf Niederländisch, der Koninklijk Circus. Das 1878 eröffnete Gebäude fasst heute 3500 Leute in seinem vieleckigen Rund. In dem imposanten Theater mit seinen angemessen roten Plüschsesseln soll an diesem Abend Singer-Songwriter Rufus Wainwright spielen. Mit meinem Ensemble in Hamburg, den Octavers, singen wir seinen Song „One Man Guy“. Allein aufgrund dieser Verbundenheit musste ich mir am Vortag noch schnell ein Ticket für das Konzert kaufen.
Den Cirque Royal, der in eine Häuserzeile integriert ist, muss ich kurz suchen, weshalb ich etwas abgehetzt auf meinem Platz oben im Saal auf einem der Balkone ankomme. In zehn Minuten soll Rachel Eckroth, Wainwrights Keyboarderin, mit dem Vorprogramm beginnen. Von Konzerten im Theaterkontext bin ich es in Hamburg gewohnt, dass zum Zeitpunkt des Beginns die Türen geschlossen werden. Doch siehe da: Die Stuhlreihen sind fast alle noch leer, obwohl das Konzert nahezu ausverkauft ist. Und so spielt Eckroth ihre eindringlichen Synthpop-Oden tapfer als Einlaufmusik für das Publikum.
Illuminierter Himmel und New-York-Kulisse für Rufus Wainwright
Zeit, den Cirque Royal in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Die Kuppelkonstruktion erinnert mit seiner kreisrunden Auslassung in der Mitte ein wenig an das Pantheon in Rom. Ein beeindruckender Himmel. Unterschiedlich illuminiert scheint mal die Sonne aufzugehen, mal ein nächtliches Firmament zu leuchten. Sehr schön ist das. Und auch der Hauptakteur des Abends ist offensichtliche fasziniert von diesem Ambiente. Mit seinem Faible für Cabaret, Oper, Drama und Spektakel passt Rufus Wainwright nur zu gut in diese schillernde Location.
Mit Zylinder auf dem Kopf betritt der Musiker die Bühne. Als Hommage an seine Heimatstadt hängt hinten an der Wand eine gemalte New-York-Kulisse. Mit seiner Band – zwei Mal Keyboard, Gitarre, Bass und Schlagzeug – spielt sich Rufus Wainwright in zwei Sets durch sein höchst abwechslungsreiches wie bewegendes Werk. Puristisch und opulent. Blues und Disco, Kammerpop und Orchestrales, Cineastisches und Zartes. Zwischen Flügel, Gitarre und Sologesang wechselnd. Crooner, Diva, Conférencier. Er feiere gut 30 Jahre Musikkarriere, erzählt er in charmant gebrochenem Französisch. Das Publikum, hingerissen.
Das Traurige, Weise, Fragile, Strahlende
Der Liederreigen reicht von älteren Songs wie dem elegischen „Barcelona“ bis zu brandaktuellen Stücken wie „Sword Of Damocles“, mit dem er sich explizit an US-Präsident Trump wendet. Umwerfend sind auch die Coverversionen, mit denen er sich vor seinen Heldinnen verneigt. Erstmals singt er eine Nummer von Serge Gainsbourg, die Wainwright derzeit für eine Jane-Birkin-Hommage einstudiert: „La Chanson de Prévert“. Völlig aufgewühlt, mitgenommen und begeistert hat mich seine Interpretation von Joni Mitchells „Both Sides Now“. Die gesamte wahrhaftige Kraft seiner Stimme kommt da zum Schwingen. Im Saal. In mir. Das Traurige, Weise, Fragile, Strahlende.
Eine univserselle Musik für viele verschiedene Herzen. Links von mir sitzt ein älteres Paar, das Niederländisch redet, rechts von mir eine junge Frau, die Französisch spricht. Der Sound tönt fein, klar und komplex bis zu uns hoch oben auf dem Balkon. Der Abend endet mit „Imaginary Love“, „Going To A Town“ und dem Beatles-Cover „Across The Universe“. Auf meinem Heimweg vom Cirque Royal zu unserer Fabriketage singe ich „One Man Guy“ vor mich hin. Rufus Wainwright hatte den Song mehrstimmig mit Band intoniert. Einer von vielen magischen Momenten dieser Konzertnacht in Brüssel.
Am 13. April spielt Rufus Wainwright ein ausverkauftes Konzert auf Kampnagel in Hamburg.