In den vergangenen Tagen unseres Arbeitswohnprojekts in Brüssel durfte ich die Popkultur der Stadt auf ganz unterschiedlichen Ebenen kennenlernen. Ich bin sehr angetan von der Gastfreundschaft, Offenheit und Diversität der hiesigen Szene. An dieser Stelle möchte ich von zwei Konzerten erzählen, die ich an Spielstätten jenseits der gängigen Clubkultur erlebt habe. Und zwar von der Initiative Indies Keeping Secrets sowie vom Record Store Day.
Indies Keeping Secrets: Konzerte an geheimen Orten
Bei meinen Recherchen über Popmusik in Brüssel stieß ich auf ein Team, dass geheime Konzerte an ungewöhnlichen Locations veranstaltet. Das Ganze läuft unter dem charmanten Namen Indies Keeping Secrets. In versteckten Gärten und auf privaten Dachterrassen, in Schlössern und Fabriken, im Comic-Museum und in einem Swimmingpool war die Initiative schon zu Gast. Ich meldete mich also voller Neugierde für den Newsletter an. Und bereits wenige Tage später erhielt ich die Nachricht, dass bald ein weiterer Auftritt anstünde. Ein Countryfolkduo. Ort: geheim.
Ich reservierte kostenfreie Tickets. Und anderthalb Tage vor dem angekündigten Datum bekam ich erneut Post mit Uhrzeit und Treffpunkt. Ich fühlte mich an frühere Zeiten als Pfadfinderin erinnert. Meine Schnitzeljagdfreude war definitiv geweckt. So eine Spurensuche fände ich in meiner Hamburger Heimat bereits spannend genug. In einer mir noch nicht so vertrauten Stadt ist diese Praxis natürlich ungleich aufregender. Und zudem eine tolle Möglichkeit, eine weitere unbekannte Ecke Brüssels kennenzulernen.
Country aus New York in einer belgischen Fabrikhalle
Und so brechen wir von unserer Fabriketage im Stadtteil Schaerbeek auf nach Saint Gilles im Südwesten der Stadt. An einem Pavillon auf dem Place Bethléem versammeln sich um kurz vor acht nach und nach an die 150 Leute. Wir sind ein wenig zu sehr damit beschäftigt, zu plaudern und die auf dem Platz fußballspielenden Kinder zu beobachten. Deshalb sehen und hören wir gar nicht, wer da das Signal zum Aufbruch gegeben hat. Jedenfalls setzt sich die Menge wie von Zauberhand geführt in Bewegung. Wir hinterher.
Wie eine Demonstration ohne Schilder laufen wir durch einige Straßen und kehren schließlich in eine renovierte wie lichtdurchflutete Fabrikhalle ein. Auf Stühlen und Teppichen sowie stehend verteilt sich das Publikum im Raum. Und eine der Initiatorinnen von Indies Keeping Secrets erklärt uns, dass wir uns im Palazzo befinden, einem neu eröffneten Coworkingspace für Kreative. Die Künstlerinnen und Künstler schenken Bier an einer improvisierten Bar aus. Und dann beginnt auch schon das Konzert. Auftritt: The Brother Brothers.
Die Zwillingsbrüder David und Adam Moss aus New York spielen empfindsamen Country, Folk und Bluegrass. Gitarre, Geige und Cello sowie mehrstimmiger Gesang ergeben einen feinen Fluss. Ihrer hoch harmonischen Musik ist anzuhören, dass die zwei eben schon ihr gesamtes Leben lang zusammen verbringen. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes eingegroovt sind.
Besonders im Ohr ist mir ihr Song „Ocean’s Daughter“. Die Brüder erzählen, dass die Nummer nach den heftigen Waldbränden an der Westküste der USA entstanden sei. Stundenland seien sie die Küste hoch nach Kanada durch Rauch gefahren. Eine Erfahrung, die die Musiker motivierte, ein Lied zum Thema Klimawandel zu schreiben. Mit dem „Banjo Song“ haben sie aber auch einen genretypischen Liebeskummersong im Repertoire. Und bei dem schnelleren „In The Nighttime“ wird sogar gejodelt.
Spende im Nutellaglas
Seit fünf Jahren organisieren die Leute von Indies Keeping Secrets einmal im Monat ihre geheimen Gigs. Ein Pendant existiert zudem in Barcelona. Ich muss natürlich sofort darüber nachdenken, ob solch eine Reihe nicht auch in Hamburg gut funktionieren würde. Allerdings sei es gar nicht so einfach, erfahren wir noch, immer wieder außergewöhnliche Stätten zu finden.
Am Ausgang bedanken wir uns bei The Brother Brothers für ihr schönes Konzert. Und wir geben eine Spende für den Abend in ein Nutellaglas. Dann geht es durch die Straßen Brüssels zurück zu unserer Fabriketage. Es ist noch einmal richtig kalt geworden mitten im Frühling. Aber das Herz, das ist gut gewärmt.
Record Store Day bei Chez Pias in Brüssel
Seit elf Jahren feiern unabhängige Plattenläden einmal im Jahr den Record Store Day. Mehr als 2000 Geschäfte weltweit machen so auf ihr musikalisches Know-how aufmerksam. Zahlreiche Sammlerinnen und Sammler werden zudem angelockt durch limitierte Vinyl-Editionen, die an diesem Tag erscheinen. In den sozialen Netzwerken habe ich verfolgt, wie sich der Hamburger Plattenladen Michelle Records für den zu erwartenden Ansturm rüstet. Und in Brüssel wollte ich natürlich auch ein wenig Record-Store-Day-Luft schnuppern.
So begebe ich mich nach einem leckeren afrikanischen Essen im Stadtteil Matonge und nach exquisiter Nascherei beim Chocolatier Laurent Gerbaut zum Plattenladen Chez Pias. Zwischen spröden, an diesem Samstag verwaisten Bürohäusern steht da eine Bühne auf der Straße. Das Duo Portland produziert zart driftenden Dreampop an Keyboard und Gitarre. Und ihr Auftritt wird in einem Wohnwagen daneben auf Vinyl mitgeschnitten. Rund 50 Leute lauschen. Ein echtes Nerdfest. Die Dichte an mit Platten gefüllten Jutebeuteln ist hoch.
Plattenladen als geschmackvoll eingerichtetes Aushängeschild
Im Anschluss spielt im Innern Beautiful Badness, das Projekt des belgischen Komponisten Gabriel Sesboué, einen Mix aus Neoklassik und Electropop. Zeit, sich untermalt von den pulsierenden Klängen ein wenig umzuschauen. Der Plattenladen Chez Pias ist das geschmackvoll eingerichtete Aushängeschild und zugleich Foyer der renommierten Plattenfirma Play It Again Sam, kurz [PIAS].
Anfang der 1980er-Jahre in Brüssel gegründet, spicken namenhafte Acts wie Agnes Obel, Oasis, die Arctic Monkeys und Tom Waits die [PIAS]-Historie. Und einige der bekanntesten Albumcover hängen groß gezogen an den Wänden — von The Prodigys „The Fat Of The Land“ bis zu Nick Caves „The Boatsman’s Call“. Zu den weltweit agierenden Büros zählt auch eines in Hamburg mit Sitz nahe St. Katharinen bei der Speicherstadt.
Und zum Artist-Roster von [PIAS] gehören ebenfalls die Österreicherin Soap & Skin sowie der Berliner Jungstötter. Dessen wunderbar schwelgerisches Album „Love Is“ zählt für mich zu den frühen Highlights des Musikjahres 2019. Am Sonntag spielen beide im nahe gelegenen Botanique. Ein weiterer popkultureller Abend in Brüssel, auf den ich mich extrem freue.