Nørden Festival: Immer noch die Musik

„Aufräumen mit Marie Kondo“ ist eine beliebte Netflix-Serie, in der Menschen lernen können, das Volumen an Dingen in den eigenen vier Wänden zu vermindern. Die Poetry-Slammerin Selina Seemann erzählt auf der Bühne des Nørden Festivals in Schleswig ihre ganz eigene Version von Entrümpelung: Sie gerät in einen regelrechten Ausmist-Wahn — so lange, bis ihre Wohnung komplett niederbrennt und nur eine auf ihrer Schulter hockende Socke übrig bleibt. 

Nørden Festival, Schleswig, Baltic Sea, Festival, Open air, Niels Frevert, Grapell, Janos, concerts, art, culture, theatre, literature, schleiDas Bedürfnis nach Reduktion und Übersicht ist in unseren komplexen Tagen offenbar besonders ausgeprägt — wie auch immer wir es dann zu erfüllen versuchen. Insofern passt Selina Seemanns Text hervorragend zu dem Open Air, das an drei Wochenenden noch bis zum 15. September an der Schlei stattfindet.

Auf diesem Blog hatte ich bereits im vergangenen Jahr über meinen ersten Besuch beim Nørden Festival geschrieben. Und über das Konzept, Pop, Kunst, Literatur, Film, Straßentheater sowie Workshop-Angebote aus dem baltischen und skandinavischen Raum zu präsentieren. Um mir anzuschauen, wie sich das Nørden Festival bei seiner zweiten Ausgabe entwickelt hat, fahre ich am Sonntag mit zwei Freundinnen von Hamburg aus Richtung dänische Grenze. 

Nørden Festival: Poetry Slam und schwedischer Pop

Zunächst fällt auf, dass die Buden mit Handwerkskunst und Kulinarischem nun kompakter beieinander stehen. Die kleine Flaniermeile, die direkt beim Eingang beginnt, gefällt mir gut. Und da bei der Gästezahl trotz steigender Tendenz angesichts des großzügigen Geländes weiterhin Luft nach oben ist, freuen sich die Anbieter gewiss über gebündelte Besucherströme.

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Der Schwede Janos auf der Gartenbühne an der Schlei.

Was mir beim Nørden Festival erneut extrem gut gefällt, ist die im besten Sinne entschleunigende Wirkung. Ich bin zwar durchaus Fan von Krawall und Remmidemmi. Aber dass es da nicht — wie bei anderen Open Airs — an jeder Stelle wummert und lockt und kracht und promotet, ist für so einen Spätsommersonntag durchaus angenehm. Wir schlendern zum Strand und über Steg, der ins spiegelglatte Wasser ragt. Und wir betrachten jene, die nur mit einem Handtuch bekleidet dampfend am Ufer stehen, da sie soeben aus dem Sauna-Fass kommen. 

Zeit, sich einzulassen. Zum Beispiel auf den Vortrag der Autorinnen und Autoren beim Norden Slam. Auf Texte wie den von Quinn Christiansen, der mitreißend und überaus amüsant erzählt, wie normal Homosexualität ist. Der Schwede Janos wiederum sieht mit Sonnenbrille, Sweatshirt und Ballonseidenhose aus, als käme er gerade von einem 72-Stunden-Rave. Doch dann singt er auf der lauschigen Gartenbühne mit Blick auf die Schlei schönste Singersongwriter-Oden. Ihm folgen seine Landsleute Grapell, die den Nachmittag mit ihren mehrstimmigen Popharmonien angenehm soft dahindriften lassen.

Niels Frevert: auch mal nach Norden reisen

Besonders freue ich mich beim Nørden Festival auf das Konzert von Niels Frevert am frühen Abend. Seine lebensklugen Songs sind mir seit Jahren gute Begleiter, Katalysatoren und mitunter auch Rettungsanker. Erst zwei Tage zuvor ist sein neues Album „Putzlicht“ erschienen: Gitarrenpop über das Ringen nach Worten und die Suche nach Schönheit. Doch beim Auftritt auf der Hauptbühne setzt er mit seiner Band zunächst auf alte Vertraute. Auf Lieder wie „Baukran“ und „Speisewagen“. Und selbstironisch gibt es die Nummer „Der Typ, der nie übt“. Vor dem Losfahren hätten sie noch proben müssen, sagt Frevert. Nun gut. Hier und da ein verpasster Einsatz. Aber Dynamik und Details der Musik, die sind doch sehr beglückend.

Nørden Festival, Schleswig, Baltic Sea, Festival, Open air, Niels Frevert, Grapell, Janos, concerts, art, culture, theatre, literature, schleiUnd Frevert ist gut aufgelegt. Ein schöner Kontrast zu seinen berührenden Stücken. Toll sei es, erzählt der Musiker, für ein Konzert auch mal nach Norden zu reisen und nicht immer nur nach Süden. Und überhaupt: Wo denn die Schleswiger so ihre Platten kaufen würden. „Haithabu-Vinyl“ rufen einige aus dem Publikum.

Mit Stücken wie „Immer noch die Musik“, „Putzlicht“  und „Als könnte man die Sterne berühren“ kommt dann noch reichlich neues Material. Und die hell tänzelnden Gitarren und der sehnsuchtsvolle Gesang verweben sich mit der Dämmerung und fliegen fort mit den dunklen Vogelschwärmen, die vorbeiziehen. Lichter gehen an. Ein Blinken am Horizont. Als ob das Glück schon immer so war.

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