Tschüs Zehnerjahre. Ahoi 20er. Ob sie nun wild, ruhig oder komplex werden mögen. In meiner Reihe „Biggy Pop — Take Five“ geht es heute um prägende persönliche Popmomente des vergangenen Jahrzehnts. Letztlich gibt es Hunderte und Tausende solcher Situationen, die musikalisch aufgeladen sind. Die bewegend, lehrreich und herzerweiternd waren. Aber womöglich bleiben jene Erlebnisse am ehesten in Erinnerung, die überdeutlich zeigen: Musik verbindet.
Flight Of The Conchords in Kopenhagen: Die Reise zum Nerd
2010 war für mich das Jahr des Nerds. Ich überlegte, mit „Nerdship“ eine Singlebörse für merkwürdige Menschen zu eröffnen. Ich schrieb fürs Hamburger Abendblatt eine Geschichte über die Kultur des Kauzigen mit der Überschrift: „Im Informationszeitalter sind wir die Alpha-Männchen“. Ich kaufte trotz guter Augen eine Brille mit schwarzem Gestell, um meinen inneren Nerd zu kanalisieren. Und noch lieber als „The Big Bang Theory“ schaute ich „Flight Of The Conchords“. Jene Serie über zwei Neuseeländer in New York, die sich als Singer-Songwriter durchschlagen, aber so arm sind, dass sie sich eine Kaffeetasse teilen müssen. Ihre grandiosen Parodien auf Popsongs und Musikstile könnten einen natürlich zu der These verleiten: Es gibt nichts Neues mehr. Es bleibt nur noch, sich über Altes lustig zu machen. Aber da ich ja Kulturoptimistin bin, waren Flight Of The Conchords für mich einfach ein schön-schrulliger Auftakt der Zehnerjahre. Eine Aufforderung, quer auf die Dinge zu blicken.
Um dieses Lebensgefühl zu feiern, fuhren wir zu viert nach Kopenhagen, um unsere Underdog-Helden Flight Of The Conchords live zu erleben. In meinem Fotoalbum nannte ich die Reise den All-Girl-Nerd-Weekender. Unser Auto fing kurz vor Lübeck an, Geräusche zu machen. Ein Zwischenstopp bei einer Werkstatt am Wegesrand ergab, dass wir mit einem Mietwagen weiterfahren mussten. In Kopenhagen stellte sich heraus, dass es einen Buchungsfehler gab, weshalb wir ersatzweise in einem unglaublich versifften Bed And Breakfast einquartiert wurden. Die Stadt war teuer und ausgebucht. Also blieben wir. Am Kühlschrank hingen Fotos unserer Vermieterin Ulla aus besseren Tagen. Und wir überlegten, was wohl in der Zwischenzeit passiert sein mag. Warum irgendwann die Kraft fehlte, sich und die Wohnung zu sortieren. Wir stromerten durch die pittoreske Stadt. Unbeschwerte Tage voller neu wachsender Witze. Von dem Konzert im Falconer Salen weiß ich nur noch, dass wir relativ weit weg von der Bühne saßen. Dass es lustig, aber nicht weltbewegend war. Die guten Momente hatten wir bereits vorher geschaffen.
Pulp und Sufjan Stevens beim Primavera Festival: Nostalgie und Neues
Im Jahr 2011 reisten wir zum Primavera nach Barcelona. Anlass war, dass die von uns verehrten Pulp ihr erstes Reunion-Konzert für das Festival angekündigt hatten. Wir waren also so alt geworden, dass wir Bands aus unserer Vergangenheit neu aufleben lassen wollten. Dass wir ein Gefühl von Aufbruch suchten, dass uns in den 1990er-Jahren prägte. „Let’s all meet up in the year 2000“, sang Jarvis Cocker damals. Wie weit das schon wieder weg schien. Und so standen wir um halb zwei nachts in der spanischen Sommernacht auf dem Asphaltboden des Open-Air-Geländes inmitten von Fans, die aus Manchester angereist waren. Und wir schrieen die Verse mit, als müssten wir ihre Gültigkeit lautstark in den dunklen Himmel meißeln. „Wanna live with common people like you.“ War das nun das Ende der Ironie und der Anfang der absoluten Retromania? Oder ein Abschied, der Platz machte für etwas Neues? Für Sufjan Stevens zum Beispiel, der ebenfalls auf dem Festival spielte.
Keinen Künstler habe im Laufe der Zehnerjahre mehr angehört, schätze ich. Damals war ich noch kein Hardcore-Fan, aber wir stellten uns für sein Indoor-Konzert in einer Art Messehalle an. Und als er mit seinem Konzert begann, verschob sich etwas in mir. Einer dieser Popmomente, der abgespeichert bleibt, weil sich etwas öffnete. Verwirrend und beglückend und überwältigend. Die Band startete. Und ich fing an zu weinen. Heulen ist wohl das bessere Wort. Ich konnte ebenso wenig aufhören wie der Typ in der Reihe hinter mir. Eine spezielle Energie lag im Raum. Sufjan Stevens trug Engelsflügel. Und bunte Luftballons stiegen mit den Harmonien und der Melancholie und der Hoffnung empor. Ich bin immer wieder zutiefst dankbar, wenn sich solche magischen Popmomente ereignen. Nicht planbar. Und wunderschön.
Nils Koppruch: Abschiede und Weiterwirken
Die Zehnerjahre waren die Dekade, in der der Tod Einzug hielt. Privat und popkulturell. Die einfache Erkenntnis bleibt: Trauer ist letztlich der Auftrag, noch intensiver und bedachter zu leben. Noch freudvoller. Noch verzeihender. Noch leichter. Genannt sei an dieser Stelle Nils Koppruch. Gestorben am 10. Oktober 2012. Ich hatte noch nie einen Nachruf geschrieben über jemanden, den ich persönlich kannte. An diesem Tag bei der Zeitung zog ich mich in ein Einzelbüro zurück und hörte seine Lieder. Ich erinnerte mich an ein Kaffeetrinken an der Wohlwillstraße auf St. Pauli. Eine Stunde Wahrhaftigkeit, nach der andere ihr Leben lang suchen. Offener Blick unter Stirnfransen. Dieses Tiefe und Verschmitzte.
Immer wieder kommen Menschen zusammen, um sich von den Bildern inspirieren zu lassen, die Nils Koppruch geschaffen hat. Musikalisch und als Maler. Da war zum Beispiel dieser Abend in der Galerie Oberfett in Altona im September 2017, wo die Werke von Nils Koppruch zu einer einmaligen Ausstellung zusammengetragen wurden. Aus Wohn- und Kinderzimmern, Küchen, Büros und Cafés brachten Freunde und Fans seine Kunst herbei. Hirsche, Vögel und Wale. Badende und Angler. Nackte und Trinkende. Aus der Zeit und ins Leben gefallen. Und immer wieder singen Menschen seine Lieder. So zum Beispiel die Band Staring Girl bei einem Konzert im Knust Anfang 2019. Das Gute bleibt. Und verbindet. Nils Koppruch wusste das, als er sang: „Und erzähl mir die Stille, / mach, dass ich weiß, du bist immer noch da, / auch wenn du schweigst.“
Tonbandgerät in New York: Wegbegleitung durch die Zehnerjahre
Die gesamten Zehnerjahre durfte ich das Hamburger Quartett Tonbandgerät auf ganz unterschiedlichen Ebenen begleiten. Die nahbare Poesie von Texterin Sophia Poppensieker und der unmittelbare Gesang von Ole Specht hatten bei mir bereits 2008 mit dem Song „Ozean“ einen feinen Nerv getroffen. Isa Poppensieker am Bass und Jakob Sudau am Schlagzeug komplettieren diese ultimativ sympathische Band. Irgendwie strahlten die vier für mich schon immer eine verspielte Reife aus. Offen, neugierig und zugleich reflektiert. Und ich freue mich riesig, wie Tonbandgerät nach und nach gewachsen ist mit ihrem federleichten tiefgängigen Pop. Und wie gut sie nach wie vor miteinander wirken. Mit „Zwischen all dem Lärm“ ist 2018 das nun mehr dritte Album erschienen, das „die Geräte“ in diesem Jahrzehnt veröffentlicht haben.
Einer meiner liebsten Popmomente mit Tonbandgerät ist ihr Auftritt in einer Schule in New York im Frühling 2014. Die Band war im Auftrag des Goethe Instituts auf Tour durch die USA. Mit Nightliner und allem drum und dran. Ich hatte bei Freunden in der Nähe übernachtet und lief am Morgen hoch nach Harlem, um Ole, Sophia, Isa und Jakob in der Aula der High School zu treffen. Das junge Publikum wurde mit den typischen gelben Schulbussen aus der Umgebung angekarrt. Die Schülerinnen und Schüler hatten die Songs von Tonbandgerät vorher im Unterricht durchgenommen. Und da standen sie die amerikanischen Fans dann mit ihren selbst gemalten Schildern, schrieen und sangen die Verse mit. „Es ist alles wieder da / nur irgendwann anders.“ Am Tag zuvor war ich mit der Band durch Manhattan und über die Brooklyn Bridge gelaufen. Etwas Vertrautes im Anderswo. Und Zeugnis dessen, wohin die eigene Schaffenskraft einen führen kann.
Molotow: Tanzen im guten wilden Hamburg
Freunde dieses Blog wissen, dass ich großer Fan des Molotow Musikclubs bin. Der Laden steht für sehr vieles, was in dieser Stadt popkulturell schlecht läuft und gleichzeitig besonders toll ist. Verdrängung, Gentrifizierung, Unsicherheit und Arbeiten unter prekären Bedingungen einerseits. Und andererseits Solidarität, Ideenreichtum und das gute wilde Leben. Häufig habe ich bereits über Nächte im Molotow geschrieben. Über famose Festivals wie die Burger Invasion zum Beispiel. Oder über besondere Konzerte wie den Record-Release-Abend von Die Höchste Eisenbahn. Die Zehnerjahre sind für das 1990 gegründete Molotow die wohl bewegendste Dekade gewesen. 2013 der Auszug aus den Esso-Häusern. Der Umzug in ein Interimsquartier an der Holstenstraße. Und schließlich im Herbst 2014 der Einzug des Molotow in das jetzige Quartier am Nobistor — ein mehrgeschossige Entdeckeroase in Sachen Rock ’n‘ Roll. Und ein Zuhause für alle musikalischen Wahlverwandten.
Oft sind es für mich die kleinen Popmomente, die mich immer wieder aufs Neue verbinden mit diesem Ort. Die Möglichkeit zum Beispiel, sich im Halbdunkel tanzend zu verlieren. Und die Musik noch einmal anders zu finden. Intensiver. Aufregender. Soghafter. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich im Molotow das erste Mal „Red Eyes“ von The War On Drugs hörte — erschienen auf ihrem 2014er-Album „Lost In The Dream“. Verloren im Traum. Das Keyboard setzt ein. Die Gitarren kommen hinzu. Der Gesang startet unaufgeregt. Der Sound deutet die Euphorie bereits an. „I won’t get lost inside it all, I’m on my way.“ Zwischenzeitig explodiert dann der gesamte Song ganz sanft aufs Schönste. Und mit ihm die Tanzfläche. Das Herz sowieso.