Ich vermisse das gute wilde Leben – ein Zwischenstand

Wie lässt sich das Vakuum füllen, das durch den Ausfall des guten wilden Lebens entsteht? Es gab die Schockstarre im März. Es gab Versuche, sich zu orientieren. Und es gab einen April, der wie ein Fingerschnippen verging zwischen Corona-News, Arbeiten und Adaption. Jetzt, im Mai, habe ich das Gefühl, ein Plateau erreicht zu haben. Einen Zwischenstand. Ich habe mich gewöhnt an reduziertere Tage. Es geschieht weniger. Zumindest äußerlich. Der Input, die Inspiration und Irritationen, die Konzerte und Nachtleben in sich bergen, sind etwas Dahinfließendem gewichen. Etwas Ruhigem und Innerlichem.

Statt auszugehen lese ich stundenlang. Romane sind zu meinem Surrogat geworden für das, was gerade nicht ist. Ich verschlinge Geschichten, die mit Musik zu tun haben. L.A. in den den 70er („Daisy Jones & The Six“). Hamburg in den 90ern („Harte Jungs“). New York in den Nuller-Jahren („How to kill a rock star“). Chemnitz in den 2010er-Jahren („Superbusen“). Mit all diesen Büchern ziehe ich durch Kaschemmen und Clubs. Ich diskutiere mit ihren Figuren an imaginierten Tresen die Songzeilen von fiktiven Bands. Ich betrinke mich zwischen den Zeilen und nüchtere im nächsten Kapitel wieder aus. 

Zustände, die uns zusammenhalten

Dieser erfundene Rock ’n’ Roll lenkt mich ab von realer Melancholie. Und die Freude an der popkulturellen Dichtung lässt mich kurz das Entsetzen über absurde Verschwörungserzählungen vergessen. Wort für Wort wird mir beim Lesen zudem klar, was ich in dieser neuen Wirklichkeit vermisse. 

Ich vermisse es, an einen Ort zu kommen und nicht genau zu wissen, was passiert. Sich auf ein Abenteuer einzulassen. Sich neu erfinden zu können. Ich liebe es, am Anfang des Abends in einen Club zu gehen. Und der Saal riecht noch nach den Aufregungen der vergangenen Nacht. Oder Stunden später in eine Bar zu stolpern. Und alles schlägt einem entgegen: Songs und Stimmen und Rauch und Überschwang. Ich merk was auf der Haut und das macht Sinn. Schnaps in den Fugen des Tresens. Schweiß in der Luft. Zustände, die uns zusammenhalten.

Ich vermisse die ganze himmelhochjauchzende Eigendynamik

Ich vermisse es, mich in eine Ecke zu schieben und mir all die Gesichter anzuschauen. Dicht an dicht. Wie sie sich durch die Lautstärke anschreien. Sich gerade die Welt erklären. Oder ihr Leid klagen. Oder ihre Euphorie teilen. Ich mag es, wie Gespräche ins Absurde abgleiten. Und dann unterbrochen werden, da der DJ dieses eine Lied auflegt, das keine Unterhaltung duldet.

Ich vermisse die Blicke und die Konfusion und die Körpersprache und die ganze himmelhochjauchzende Eigendynamik. Berühren und sich berühren lassen. Wie alle Menschen in der Nacht feine Fäden spinnen und diese über Tanzflächen, Tresen und Treppen ziehen, durch Straßen und Hinterhöfe, bis ein wunderbar chaotisches, alles verbindendes Knäuel entsteht. 

Die kulturellen Katalysatoren abhanden

Ich vermisse es, auf der Tanzfläche zu stehen. Von Licht und Dunkelheit geschluckt zu werden. Und dann setzt ein zigfach gehörtes Stück ein. „Red Eyes“ von The War On Drugs zum Beispiel. Da ist dieser treibende, aber noch verhaltene Beat. Und dann nach fast zwei Minuten explodiert die Musik und eine Moment lang ist da dieses Glück, absolut präsent zu sein und sich doch selbst vergessen zu können. 

Die kulturellen Katalysatoren sind uns derzeit abhanden gekommen. Ich vermisse es, einen Musiker auf der Bühne zu sehen, der wie ein gefallener Engel singt. Seine Verletzlichkeit zu spüren und meine eigene zu erkennen. Ich möchte wieder einer Band zuhören, deren Chemie beweist, dass mehrere Leute gemeinsam viel mehr sind als die Summe der einzelnen Teile. Ich will von einem Sound durchdrungen werden, dessen Wucht und Schönheit auf etwas Größeres verweist. Energie, Hoffnung, Freiheit. 

Wie alles weitergeht

Immer wieder wird in den vergangenen Wochen betont, dass Pop und Kultur ebenfalls systemrelevant sind. Ich merke jedenfalls, dass sie relevant für mein System sind. Ich  bin unsicher, aber gespannt und auch optimistisch, wie das alles weitergeht. Bis dahin ist es wichtig, zu vermissen. Denn mit diesem Gefühl lässt sich anknüpfen an die Zukunft.

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