Musikszene Hamburg — die Sache mit dem Streaming

Verflachen wir jetzt alle im 2-D? Gewöhnen wir uns an einen Konzertbetrieb vor dem heimischen Bildschirm? Die Füße hochgelegt. Die Erwartungen heruntergeschraubt. Der Kühlschrank nah. Die Menschen fern. Please don’t wake me. No, don’t shake me. Leave me where I am. I’m only streaming. 

In den vergangenen Wochen habe ich darüber unglaublich viele Gespräche geführt. Mit Freunden, Branchenprofis sowie mit Kolleginnen und Kollegen, etwa mit meinem Team beim Nachtclub Überpop auf NDR Info, wo wir seit Mitte März Sendungen zum Zusammenhang von Corona-Shutdown und Popkultur produzieren.

Werden die Leute nach der Pandemie anders ausgehen?

Wie muss sich die Musikszene in Zeiten von Corona neu erfinden? Werden die Leute nach der Pandemie anders ausgehen? Weil sie die Reduktion womöglich lieben gelernt haben. Und weil andere Formate das alte wilde Leben ersetzt haben könnten. Wird es überhaupt ein „nach der Pandemie“ geben? Wird Post Corona bald ein neues Genre sein? Und wer ist dann überhaupt noch da, um Musik zu machen, zu veranstalten, auszuleuchten, abzumischen und zu versorgen? 

Die Akteure im Rampenlicht, also Musikerinnen, Sänger und Bands, sind von der Corona-Krise ebenso betroffen wie jene, die hinter den Kulissen arbeiten. „Die nächsten 100 Tage übersteht die Veranstaltungswirtschaft nicht“ — mit dieser Aussage ruft die Branche in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni zur „Night Of Light“ auf. Gebäude sollen dann rot angestrahlt werden, um auf die prekäre Lage von Spielstätten, Event-Agenturen, Messebauern, Caterern, Technikdienstleisterinnen und Dekofirmen aufmerksam zu machen.

Aktion, Barkombinat, Mutter, Juni 2020, Corona, Protest, Hamburg, Senat, GastronomieGanz aktuell hat das neu gegründete Barkombinat in Hamburg diesen Freitag Kneipen und Kaschemmen in Hamburg wie etwa die Mutter an der Stresemannstraße verhüllt. Zu sehen ist da nur noch ein Schild mit der Frage: „Für immer zu ab 2020?“ Die Einschläge kommen spürbar näher. Das ist absolut bitter und frustrierend. Die ersten streichen die Segel, etwa die Kneipe Landgang am Grünen Jäger („Kiosk, Cornern und jetzt Corona. Das schaffen wir nicht“) oder das Traditionsgeschäft Theaterkasse Schumacher in der Innenstadt. Seit 117 Jahren wurden dort Eintrittskarten verkauft. Corona beschleunigt die digitale Disruption. 

Streaming vom Trost bis zum Overkill

Ich muss an die ersten Tage des Shutdowns denken, als Popkünstlerinnen und Bands flugs kleine Sessions aus dem Wohnzimmer oder ihrer Küche gestreamt haben. Damals war das noch irgendwie neu und aufregend. Guck mal hier. Schau mal dort. Ach was, die auch. Dieses und jenes dann noch parallel. Mit dem Quarantäne-Buddy auf 1,50 Meter Abstand ließ es sich da ganz passabel aufs Sofa hocken. Gerne bei einem starken Cocktail. Denn es war die Phase, in der noch nicht absehbar war, wie sich die Fallzahlen hierzulande entwickeln würden. Zerstreuung war willkommen. 

Für das Hamburger Abendblatt schrieb ich über ein Streaming-Konzert, das der Singer-Songwriter Tom Klose am Samstag, den 14. März, gegeben hatte. Per Paypal Geld in den virtuellen Hut werfen und klatschen via Emoji. Das war anfangs gut und auch tröstend. Aber bald stellte sich bei mir eine Art Streaming-Overkill ein. Zwischen Gemeinschaftsbedürfnis und Aufmerksamkeitsökonomie, zwischen künstlerischem Ausdruck, Solidaritätsaufruf und Katastrophenkatharsis spielten und sangen unglaublich viele Musikerinnen und Musiker ins Internet hinein. Und das kostenlos. Eigenes Grab schaufeln oder im Licht bleiben, das war und ist eine der vielen Fragen.

Professionalisierung und neue Allianzen

Ein reales Konzertticket zu kaufen, das war früher auch eine Entscheidung für ein konkretes Ereignis, für eine Band, eine DJ, einen Club, einen Veranstalter, ein Label. Jetzt ließ sich auf einmal zwischen Konzerten hin- und herzappen wie im Fernsehen oder auf einer Dating-Plattform. Besser als gar nichts. Kleine Lichtblitze sowie wahrhaftige Momente hier und da. Und doch kein Ersatz fürs Analoge. Streaming-Konzerte, das bedeutet: Schnell nebenbei noch eine Mail schreiben. Mal eben ein Brot schmieren. Rock ’n‘ Roll geht dann doch irgendwie anders. Und Überhöhung durch Pop auch.

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Sarajane bei Quaratunes

Interessant finde ich, wie schnell sich das Streaming in den vergangenen drei Monaten professionalisiert hat. Wie einige Player übrig bleiben. Wie sich also die anfängliche Anarchie allmählich verflüchtigt und sich doch eher tradierte Strukturen der Branche im Netz reproduzieren. Das ist schlecht, zum Beispiel in Hinblick auf den Gender Gap und mangelnde Diversität im Popbusiness. Aber es gibt auch positive Effekte: Durchaus spannend wird es, wenn neue Allianzen entstehen. Wenn etwa das Clubkombinat Hamburg gemeinsam mit der Initiative United We Stream aus Hamburger Spielstätten sendet. Oder wenn sich die Interessengemeinschaft RockCity mit dem Veranstaltungstechniker PM Blue und dem Konzertveranstalter Karsten Jahnke zusammentut, um bei dem Format Quaratunes bekannte und unbekanntere Acts der hiesigen Szene zu präsentieren. Und um Spenden einzusammeln.

Solidarität statt Schweiß

Gestreamt wird im Fall von Quaratunes qualitativ hochwertig aus einer Industriehalle im Hamburger Süden. Und um die Liebe zu Konzerten weiter lodern zu lassen, taugt Streaming in diesem Fall dann doch. Ich habe mich gefreut über vertraute Akteurinnen wie Miu und Sarajane auf der Bühne und Ole Specht von Tonbandgerät als Moderator. Ich habe die DJ- und Rollschuhkünste der Rollerskate-Jam-Crew bewundert. Und ich war begeistert, als die Kulissenbauer die von mir geliebte Frau Hedi (in Ansätzen) nachgebaut haben: Auf der Party-Barkasse hätten die Beatbrüder The Honey Riders eigentlich ihre Album-Release-Sause gefeiert. Nun eben mit Abstand vor separiertem Publikum online mit Soli-Schnaps-Bestellung per Mausklick. Ja. Besser als nichts. Doch schöner wäre Schweiß gewesen, Seegang und seeliges Schunkeln.

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Swutscher im Molotow

Aber ach. Immerhin lässt sich weiter Neues entdecken. Diese Woche Donnerstag zum Beispiel die Hamburger Band Human. Während die Brachialbarden von Swutscher in Schwarz-Weiß im Molotow auftraten, gab das Duo ein Streaming-Konzert bei Quaratunes — gemeinsam mit The Kecks, die ich ja vor kurzem erst für diesen Blog interviewt habe.

Die Hamburger Band Human bei Quaratunes

Das Duo Human hat sich 2016 gegründet und spielt Alternative & Synth Pop, der stark geprägt ist durch dynamisches Schlagzeugspiel sowie einen eleganten Wechsel von Gitarre und Synthesizern. Gut gefallen bei der Quaratunes-Sessions hat mir zum Beispiel der Song „Rich But Broke“. Ein dunkles Pathos, das am Inneren zieht. Eine dringlich drückende Gitarre. Und fein abgestimmter Harmoniegesang. Zudem eingesprengte Stimmen aus dem Off. Ein schöner Hauch von Apokalypse. Untermalt von Visuals aus farbigem Nebel. 

Das Duo erzählt dann noch, dass sie den Lockdown zum Songschreiben genutzt haben. Ich hoffe, die Band dann auch mal live erleben zu können. Noch ist ungewiss, ob sie ihre Tour durch Frankreich, Holland, England und Deutschland im Oktober werden spielen können. 

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Human bei Quaratunes

Ein Vers aus den Songs von Human schwingt nach: „Did you have a good life, before you die — enough to base a movie on?“ Eine gute Frage, über die ich in der ein oder anderen Form gerade in der Corona-Isolation selbst verstärkt nachdenken musste. Wie lebe ich mein Leben? Wie priorisiere ich? Habe ich genug Gelegenheiten genutzt, als es noch möglich war? Und jetzt, wo sich alles langsam lockert, was will ich da machen — und was nicht?

Das Spelunkige streamen: DJ-Sets aus dem Komet

In Sachen Streaming habe ich gemerkt, dass sich bei mir einige Favoriten herauskristallisiert haben. Vermutlich dem Selektionsprozess bei der einstigen realen Konzertfülle nicht unähnlich. Toll fand und finde ich kleine charmante Projekte, die einen besonderen Spirit transportieren und ein gewisses Community-Feeling herstellen können. Fantastisch funktioniert hat für mich diesbezüglich das DJ-Set-Streaming der Musikbar Komet.

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Irgendwie hat Betreiber Baster es geschafft, das Spelunkige seines Ladens aus der Erichstraße auf St. Pauli auf die Plattform Twitch zu transportieren. Schön skurrile Deko, grandiose Musik von Soul bis R ’n’ B, zudem beherzte Publikumsinteraktion via Chat und mit in die Kamera gehaltenen Zetteln. Herrlich. Nach wie vor lässt sich übrigens für den Erhalt der Bar spenden. Und der Komet hat seit vergangener Woche auch testweise seine Türen wieder geöffnet.

Ganz langsam wieder hinaus- und auszugehen, das fühlt sich dann auf einmal neu und aufregend an. Ich bin sehr gespannt, wie wir uns künftig verhalten werden zwischen real und digital. 

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