Es tut dieser Tage immer wieder in der Seele weh, die Wunderlandschaften des Pop nicht live und in Farbe besuchen zu können. Und noch mehr zieht es am Herzen, wenn solch eine kunterbunte Musikwelt das erste Mal vor Publikum hätte inszeniert werden sollen. Der Hamburger Newcomer-Preis Krach+Getöse wurde zwar in diesem Jahr bereits das zwölfte Mal vergeben. Aber bisher hatte die Ehrung tagsüber im kleinen Kreis stattgefunden und hatte eher die Anmutung einer liebevoll gestalteten Pressekonferenz. 2020 sollte alles anders werden. Wie anders, das hatten die Organisatorinnen des Verbandes RockCity Hamburg aber gewiss nicht auf dem Zettel. Corona, you know.
Eine große Abendgala hätte es werden sollen. Mit anarchistischem Dreh, mit Talk, Jubel und natürlich Musik. Eine schöne Ahnung, wie wunderbar popkulturell verwunschen und informativ inspirierend die ganze Sause hätte sein können, zeigte sich nun diese Woche. Die Krach+Getöse-Preisverleihung ging wie geplant im Nochtspeicher auf St. Pauli über die Bühne. Allerdings verlief die Show aufgrund der Hygienemaßnahmen frei nach dem Deichkind’schen Slogan: Hauptsache nichts mit Publikum. Menschen gab es nichtsdestotrotz. Tolle obendrein.
Gala-Show als Streaming-Format
Vielkönner Miguel Martinez moderierte den Award gemeinsam mit meiner grandiosen NDR-Kollegin Siri Keil, die wie ich zum Team der Sendereihe Nachtclub Überpop gehört. Ein charmantes wie blitzgescheites Gespann.
Als Streaming-Format, realisiert von der findigen Wilhelmsburger Produktionscrew Hirn & Wanst, ließ sich die Krach+Getöse-Verleihung überall ansehen. Ausgestrahlt wurde das Ganze auf der Plattform United We Stream, die eng mit der Clubkultur verwoben ist. Und eben genau vor einer solchen Spielstätte, eben dem Nochtspeicher, nahm das Moderationsduo die virtuelle Menge in Empfang. Ich bin ja keine Fashionbloggerin. Aber ein nachtschattig glitzerndes Top sowie ein Shirt von Künstler Stefan Marx sind schon sehr weit vorne. I’m starting to feel okay.
Mehr als in Ordnung ging dann auch die Reise ins Innere des Nochtspeichers, mitten hinein ins Krach+Getöse-Refugium. Da spielte die Band Danube’s Banks um den Tresen drapiert Betörendes von Swing bis Balkan-Beats. Da tummelten sich Fuchs und Igel, Meerschwein und Frischling auf einem Flokati-Feld auf der Bühne. Und da umkreiste eine Kleinstkamera auf Modelleisenbahnschienen die begehrten Krach+Getöse-Pokale.
Neue Preiskatergorien wie „Keimzelle New Music“
Im Gespräch mit Siri und Miguel erläuterte RockCity-Chefin Andrea Rothaug das Konzept des Preises, der in Kooperation mit der Haspa Musik Stiftung realisiert wird. Ein Jahr erhalten fünf Newcomer ein individuell zugeschnittenes Coaching-Programm, Studio-Slots, Auftrittsmöglichkeiten, Interviewtraining sowie je 1200 Euro Preisgeld. Im vergangenen Jahr habe ich bereits hier auf dem Blog über Idee, Ablauf sowie die Auswahl 2019 geschrieben. In Corona-Zeiten wird die Förderung durch Krach+Getöse neu justiert, erklärte Andrea. Hin zum Digitalen. Krach+Getöse könnte somit auch zum Experimentierfeld und Innovationsmotor werden, um angehende Musikerinnen und Musiker inhaltlich, ästhetisch und wirtschaftlich gut aufzustellen. Das ist wichtig. Denn wir brauchen — jetzt erst recht — kluge und kritische, empowernde und mitreißende Stimmen im Pop.
Neu in diesem Jahr war nicht nur die Gala im Pandemie-Korsett. Es sind auch einige Sonderkategorien hinzugekommen. Die Auszeichnung für die Rubrik „Keimzelle New Music“ ging an die Hoodkinder, die Hip-Hop-Kultur von der Straße in den Club bringen. Als „Musikprojekt mit Einsatz für Toleranz, Vielfalt und Respekt“ wurde die Agentur EQ Booking gekürt, die Ende 2019 auch den Hamburger Musikpreis gewonnen hatte. Und den Krach+Getöse-Publikumspreis für das beste Nachwuchskonzert bekam an die junge Popkünstlerin Tyna für ihren Auftritt im Logo am 14. November 2019. Im Gespräch mit Siri und Miguel erzählte sie unter anderem, dass sie sich für die Deutsche Depressionshilfe engagiert. Stark. Eine coole Lady, die ihre dunklen Seiten in Songs mit viel Rockpopwumms kanalisiert.
Apropos Musik: Als Intermezzo gab es live auf der Bühne Powerrap mit Haltung von Mariybu auf die Ohren, bevor Miguel und Siri dann die Hauptpreisverleihung präsentierten. Aber auch die lief natürlich im Corona-Style ab. Das heißt: Chefin Rothaug höchstselbst begab sich — ausgestattet mit Schutzanzug und goldener Mund-Nasen-Maske auf eine Roadshow, um die Pokale zu überreichen. Und zwar auf unterschiedlichsten Gefährten vom Kanu bis zum Bobbycar.
Gewinner*innen von Neo-Soul bis zu avantgardistisch-entspanntem Sound
Nun aber Trommelwirbel! Die Awards gingen an: Neo-Soul-Sängerin Douniah, an M.Byrd mit seinem zeitlosen Gitarrenpop, an Singer-Songwriterin Friedo, Nina Chuba mit ihrem ultralässigen Pop und an die Band Monako mit ihrem ganz eigenen avantgardistisch-entspannten Sound. Sie machten das Rennen bei insgesamt 200 Bewerbungen. Ausgewählt hatte die fünf Newcomer eine Jury — bestehend aus den Musikerinnen Alin Coen und Ebow, der Musikberaterin, Veranstalterin und DJ Pamela Owusu-Brenyah, dem Produzenten Philipp Schwär sowie den Musikern Deniz Jaspersen (Herrenmagazin) und Jakob Amr (Leoniden).
Ich hoffe, ich kann einige der gekürten Newcomer und Nachwuchskünstlerinnen demnächst persönlich kennenlernen und hier auf dem Blog näher vorstellen — mit ihren jeweiligen Sounds, Haltungen und Persönlichkeiten. Denn letztlich geht es ja um dieses ganz spezielle Gefühl, das sich beim Hören neuer Songs im glücklichsten Fall einstellt. Und das Jurorin Alin Coen so beschreibt: „Wenn die Musik tief ins Innerste dringt und dann als Gänsehaut wieder den Weg an die Oberfläche findet.“ Genau so.