Reeperbahn Festival 2020 — hybrid durch die Pandemie

Am morgigen Mittwoch beginnt das Reeperbahn Festival. Ein simpler Satz. Und dennoch hätte ich im Frühjahr nicht gedacht, dass ich ihn auf diesem Blog schreiben würde. Vielmehr erfüllte mich mit dem popkulturellen Shutdown von Konzerten und Festivals eine Zeit lang eine Art tocotronischer „Sag alles ab“-Fatalismus. Nun findet das viertägige Pop-Event statt. Und doch ist in diesem merkwürdigen Corona-Jahr alles anders. Die Sause aus Club-Shows und Konferenz-Programm geht als sogenanntes Hybrid-Festival über die Bühnen. Das heißt: in einem Mix aus gestreamtem Angebot und realem Programm. Wie das wohl wird?

Reeperbahn Festival, LogoNormaler Weise, also ohne weltweite Pandemie, wäre ich Tage vor dem Reeperbahn Festival bereits damit beschäftigt, mir einen Ablaufplan zu erstellen aus Konzerten und Talks, vor allem aber aus beruflichen Meetings. Seien es Eins-zu-eins-Gespräche mit Menschen aus der Branche, zu denen ich sonst nur per Mail in Verbindung stehe. Seien es die vielen Receptions von Platten- und Bookingfirmen, von Lobbyverbänden und Ländervertretungen. Oder seien es all die Drinks, Schnacks und Kennenlerntreffen am Rande. 

Die meisten dieser Networking- und Business-Termine fallen dieses Jahr flach. Und aufgrund des eingeschränkten Reiseverkehrs wird St. Pauli als Austragungsort wesentlich weniger international sein. Das bedauere ich sehr. Aber wer weiß: Womöglich hat diese Reduktion andererseits auch etwas Positives. Eine Konzentration auf das Wesentliche zum Beispiel. Auf die Musik. Ich bin gespannt. 

Hoch subventioniertes „Frühstücksfernsehen“

Der Auftakt zum Reeperbahn Festival gestaltet sich jedenfalls schon einmal anders als in den 14 Jahren zuvor. Statt am ersten Tag meinen Festival-Pass abzuholen, checke ich bereits einen Tag vorher online in die Konferenzplattform ein. In diesem digitalen Raum sind ab Mittwoch früh Panels sowie On-Demand-Präsentationen von Labels und Organisationen zu erleben. Flugs lege ich mir ein Profil an, um im Laufe des Reeperbahn Festivals mit anderen Konferenzgästen in Kontakt treten zu können. Ich bin neugierig, ob das funktioniert. Oder ob die Leute zu bildschirm-müde sind aufgrund all der Zoom- und Skype-Interaktionen in den vergangenen Corona-Monaten.

Screenshot, Reeperbahn Festival, Webseite, Hamburg, Clubs, Konzerte, St. Pauli, Konferenz, MusikbrancheAls eine Art „Frühstücksfernsehen“ bezeichnet Konferenz-Chef Detlef Schwarte das Angebot. Das reale Konzertprogramm rund um den Kiez startet wiederum am frühen Nachmittag. Und zwar stark reduziert und hochgradig gefördert. Gut 9000 statt ansonsten 50.000 Gäste empfängt das Reeperbahn Festival 2020. Und auch die Zahl von rund 160 Programmpunkten für Festivalgänger sowie 100 Talks fürs Fachpublikum ist deutlich niedriger als die Auswahl der Vorjahre. Statt der regulären 600.000 Euro Unterstützung von Bund und Land erhält das Reeperbahn Festival dieses Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Euro. Das heißt: Rund drei Viertel der Sause — also sowohl Konzerte als auch Konferenz — sind subventioniert. 

Aufmerksamkeit für Solo-Selbstständige

„Ökonomisch ist das Reeperbahn Festival ein Kunstprodukt“, sagt Festival-Chef Alexander Schulz im „Mopo“-Interview über die Ausgabe 2020. Natürlich lässt sich das Ganze jetzt als hochgezüchtetes Projekt ohne Anbindung an die realen Nöte der Musikbranche abtun. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Im Gespräch mit Kollegin Frederike Arns erklärt Schulz weiter, dass in dem „Apparat“ der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft 85 Prozent Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer beschäftigt sind. Wenn diese wichtigen Akteurinnen und Akteure auf einem Event wie dem Reeperbahn Festival endlich wieder zu tun haben und ihre Arbeit so zudem mehr Aufmerksamkeit erhält, ist schon viel gewonnen. 

Alexander Schulz, Reeperbahn Festival
Alexander Schulz, fotografiert von Jim Kroft (Titelbild fotografiert von Dario Dumancic)

Von vielen Menschen aus meinem Umfeld weiß ich, dass sie ihr Festivalticket für nächstes Jahr haben umbuchen lassen. Die Aussicht auf weniger Konzerte ohne schönes wogendes wie schwitziges Live-Feeling schreckte dann doch viele ab. Neben Open-Air-Shows, zum Beispiel auf dem Heiligengeistfeld und dem Spielbudenplatz, finden in einigen Clubs bestuhlte Indoor-Gigs statt — mit ausgetüfteltem Hygienekonzept, versteht sich.

Old school vor der Bühne oder new school vorm Rechner?

Also: Wie wird es sich anfühlen, das Reeperbahn Festival 2020 (oder wie Musikenthusiast Nils es nennt: das Reepandemie Festival )? Entscheidungen fällen statt Auskundschaften? Schlange stehen statt Stromern? Abstand statt Ausrasten? Oder statt old school vor der Bühne direkt komplett new school vorm Rechner?

Wie wohl und sicher fühlt sich jede und jeder Einzelne dieser Tage in einem Club? Und im großen Bild betrachtet: Können Lösungsansätze zur Krisenbewältigung entwickelt werden? Welche Impulse wird dieses hybride Get-Together aussenden — in die Musikszene und womöglich auch in die Gesellschaft?

Ich bin jedenfalls optimistisch, dass sich auch dieses Jahr anregende Begegnungen ergeben und inspirierende Konzerte ereignen werden. Nur eben anders. Wir alle lernen derzeit unglaublich viel. Über uns. Über andere. Über virtuelles und reales Leben. Jetzt ist die Zeit, in der die Popkultur zeigen kann, wie innovativ sie ist. Und wie verbindend.

Rückblick auf das vergangene Jahr:

Reeperbahn Festival — Fazit 2019: Lasst uns reden

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