Das Reeperbahn Festival ist nun bereits zwei Tage gelaufen. Und auch wenn dieses Jahr Corona-bedingt vieles anders ist als sonst, bleiben einige Effekte doch gleich. Dieses Festival-Gefühl von „müde und zugleich leicht drüber“ vermengt sich zu einem ganz eigenen Flow. Und meine Stimme wird langsam tiefer und rauer vom vielen Reden. Denn trotz Distanzauflagen ist es zum Glück möglich, sich überall auf St. Pauli mit anderen Musikbegeisterten auszutauschen. Vor Ort habe ich diverse Konzerte real gesehen. Meine Highlights werde ich in einem separaten Blogpost beschreiben. Doch da das Reeperbahn Festival aufgrund der Pandemie als Hybrid-Event angelegt ist, bin ich natürlich auch gespannt auf das gestreamte Konferenz-Programm.
Das Team des Reeperbahn Festivals hat wochenlang an einer Online-Plattform gebastelt. Mit einem separaten Konferenz-Ticket sind auf sieben Kanälen Talks zu Themen der Musikbranche live zu erleben. Viele der Gespräche lassen sich dort auch im Nachgang anschauen. Zudem stellen Länder wie Litauen und Regionen wie Nordrhein-Westfalen ihre Popszene in On-Demand-Videos vor. Als Frühstücksfernsehen läuft darüber hinaus ab zehn Uhr morgens den ganzen Tag lang eine Festival-Spezial-Sendung. Dieser „Rooftop Channel“ wird unter anderem moderiert von meiner tollen Kollegin Sara Kelly-Husain und bietet Interviews sowie Hintergrundinfos.
Die Konferenz im Netz — von Ticketing bis zu TikTok-Marketing
Ich habe mir exemplarisch für das rund 100 Punkte umfassende Programm — von Ticketing bis zu TikTok-Marketing — eine Diskussion ausgesucht. Die von mir hoch geschätzte Lena Ingwersen moderierte ein interessantes Panel zum Thema Musiktourismus. Lena ist Teil der Keychange Initiative, die sich für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in der Branche einsetzt. Zudem ist sie Projektmanagerin für das Music Cities Network, das sich der Kooperation zwischen besonders musikaffinen Städten widmet.
Ich durfte ja im vergangenen Jahr während meines einmonatigen Wohnprojekts in Brüssel erleben, wie bereichernd es ist, in die Popszene einer anderen Stadt einzutauchen. Und ich weiß von vielen Menschen aus meinem Umfeld, dass sie definitiv Musiktouristen sind. Dass sie also für Festivals und Konzerte in andere Städte reisen. Und dass sie Orte gezielt besuchen, weil das Musikleben dort besonders vielfältig ist.
Musiktourismus als Wirtschaftsfaktor
Diese Reisen sind nicht nur beglückend für all die popkulturell Unternehmungslustigen, sondern sie sind auch ein wachsender ökonomischer Faktor. In der zum Reeperbahn Festival veröffentlichten Studie „Musikwirtschaft in Deutschland 2020“ heißt es: „Während der Umsatz mit U-Elektronik, Diskotheken und audiovisuellen Medien mit Musikinhalten in etwa konstant blieb, wuchsen die über den Musiktourismus erwirtschafteten Umsätze um drei Milliarden Euro und betrugen für das Jahr 2019 somit insgesamt 13 Milliarden Euro. Die Effekte ergeben sich aus den Ausgaben von Musikreisenden. 2019 traten die Deutschen etwa 6,5 Millionen Musikreisen mit Übernachtungen an, wovon allein fast 90 Prozent auf Kurzurlaubsreisen zurückzuführen sind. Hinzukommen noch etwa 361 Millionen Tagesreisen, die durch den Besuch einer speziellen (Musik-)Veranstaltung (z.B. Konzert) motiviert wurden“.
Eine beeindruckende Entwicklung, die durch den eingeschränkten Reiseverkehr in Corona-Zeiten jedoch heftig ausgebremst wird. Der Talk über Musiktourismus präsentiert verschiedene Perspektiven, wie Musikstädte mit der Corona-Krise umgehen. Kultursenator Carsten Brosda schildert die Situation in Hamburg. Kate Becker, Direktorin für Kreativwirtschaft im US-amerikanischen King County, erläutert die Lage in Seattle. Und der Brite Shain Shapiro spricht für den Verband Sound Diplomacy, der gleich mehrere Musikstädte vertritt. Die beiden internationalen Gäste sind online zugeschaltet. Das neue Normal.
Erst die lokale Szene stärken, dann international vermarkten
Jetzt sei genau die Zeit, um zu promoten, wie wichtig Musik auf ganz unterschiedlichen Ebenen ist, erklärt Shain Shapiro. Und er betont, dass die Branche unbedingt als ganzheitliches Ökosystem zu betrachten sei. Mit Musiktourismus als integralem Bestandteil. Carsten Brosda ergänzt: „Zuerst müssen wir das Musikleben der Stadt aufrechterhalten, dann können wir es vermarkten“. Sprich: Erst muss das musikalische Erbe vorhanden sein, eine aktuelle Szene, ein Narrativ.
Hamburg hat zum Glück einige Förderprogramme aufgesetzt, um diese Infrastruktur zu bewahren respektive zu retten. Etwa durch die kurzfristige Förderung von Open-Air-Konzerten. Oder durch den neuen Gagenfond von 500.000 Euro, den die Kulturbehörde nun gemeinsam mit dem Hamburger Verein RockCity aufgelegt hat. Musikerinnen und Musiker können da ihre Defizite ausgleichen, die bei Live-Konzerten mit reduziertem Publikum oder bei kostenfreien Streaming-Konzerten entstanden sind.
Die „music worker“ unterstützen beim Wiederaufbau nach Corona
Die Pandemie habe einige ernsthafte Ungleichheiten innerhalb des musikalischen Ökosystems aufgezeigt, reflektiert Kate Becker. Beim Wiederaufbau nach Corona müsse der Fokus etwa darauf liegen, all die „music worker“ mitzunehmen. Das heißt: All die Beschäftigten in den Clubs und Konzerthallen zu unterstützen, die derzeit ohne Arbeit sind.
Es ist also eine Zeit, die trotz all ihrer Bedrohung und Merkwürdigkeit dazu genutzt werden kann, Versäumnisse und Engpässe der Vergangenheit aufzuzeigen und die Branche als Ganzes in Zukunft widerstandsfähiger zu gestalten.
Die Konferenz des Reeperbahn Festivals — Lob und Tücken
Auch wenn ich merke, dass es mich stark wieder aufs reale Reeperbahn Festival zieht, bin ich doch froh, mir diese halbe Stunde Zeit genommen zu haben. Insgesamt steht solch ein Streaming-Angebot natürlich immer vor technischen Herausforderungen. So hakte mitunter der Ton oder die Aussagen der zugeschalteten Gäste litten unter starken Feedback-Störungen. Manche Teile des Programms starteten später als geplant. In andere konnte ich mich nicht einklinken. Etwa in das „Matchmaking: Meet The Koreans“. Anhand der Kommentare sah ich, dass ich offenbar nicht die einzige war, der es so erging.
Auch wenn ich die Energie einer Präsenzveranstaltung vermisse, das Nachfragen und die Nachlese vor Ort: Alles in allem ist es absolut bemerkenswert, wie das Reeperbahn Festival die Konferenz in den digitalen Raum gehoben hat. Ich bin gespannt, wie diese Blaupause für die Zukunft angewendet wird. Ob das Hybride beibehalten wird. Oder ob wir, etwa mit einem Impfstoff gegen Covid-19, verstärkt zu Events zurückkehren, in denen die Gäste anwesend sind.