Drei Tage des Reeperbahn Festivals 2020 sind nun vorüber. Und wie ich bereits in meinem vorigen Blogpost über die gestreamte Konferenz angekündigt habe: Heute möchte ich von musikalischen Highlights erzählen, die ich bisher auf dem Festival erlebt habe. Denn auch wenn in diesem merkwürdigen Corona-Jahr vieles anders abläuft auf St. Pauli — die Musik berührt nach wie vor. Die Popkultur strauchelt und kämpft heftig, aber sie ist da. Und selbst wenn das Programm des diesjährigen Reeperbahn Festivals deutlich abgespeckt ist, ist es nach wie vor nur möglich, bloß einen Bruchteil des Angebots zu „schaffen“. Da ich mich bald in den vierten und letzten Festivaltag begeben möchte, daher an dieser Stelle auf die Schnelle drei Newcomer-Highlights: Jettes, Betterov sowie Tara Nome Doyle. Und am morgigen Sonntag schreibe ich dann wie auch 2018 und 2019 mein Fazit zum Festival hier auf dem Blog.
Jettes (Freitag, 14.30 Uhr, Spielbude XL)
Eine hochgradig sympathische Band. Instant verliebt. Da springt bei mir sofort der Motor an, der in den slackernden 90er-Jahren so gut geölt wurde. Äußerst beglückend, wie Jettes den Grunge und Rock’n’Roll ins Heute überführt. Und mit mehrstimmigem Harmonie- und Wechselgesang an spröden Gitarren kriegt man mich ja ohnehin. Das Quartett um Sängerin und Gitarristin Laura Lee besitzt ein Charisma zwischen lässiger Wurstigkeit, Selbstironie und Empowerment. Sie würden Musik „ohne große Innovation, aber mit sehr viel Energie“ machen, hätte im „Spiegel“ gestanden, erzählt Lee zwischen zwei Songs. Und sie kontert trocken: „Das ist ja wohl besser als umgekehrt. Wir wollen den Rock’n’Roll nicht neu erfinden“. Überhaupt Rock’n’Roll zu haben, ist in diesen Tagen ja sowas von Gold wert.
Betterov (Donnerstag, 16.30 Uhr, Fritz Bühne, Festival Village)
Ist das die neue Brüchigkeit oder verhaut sich da gerade jemand grandios im Gesang? Wie so häufig, wenn Musikern bereits ein kleiner Hype vorausgeht, stehe ich erst einmal etwas forschend vor der Bühne. Eine Art neoromantischen Postpunk produziert der junge Mann namens Betterov mit seiner Band. Manche Songs kommen noch ein wenig tastend daher. Aber dann sind da diese Nummern, in denen Stimme und Sound den sonnigen Nachmittag aufs Schönste dunkel durchdringen. „Stille, Stille, Stille in mein Herz hinein“, singt Betterov laut und toll. Einige Leute in ihren Pandemiequadraten vor der sehr hohen Bühne können bereits mitsingen. Das Denkmal vom ollen Bismarck ragt im Hintergrund von St. Pauli gigantomanisch empor. Ein absurder Kontrast zur theatraler Nachdenklichkeit von Betterov, die mir natürlich deutlich lieber ist. Mitunter hatte ich den Eindruck, dass der Künstler seine Lieder über die „Irrenanstalt“ und die „pure Langeweile“ lieber in einem nebelverhangenen Club gespielt hätte als exponiert im gleißenden Tageslicht. Da wäre ich gerne dabei.
Tara Nome Doyle (Freitag, 19.30 Uhr, Knust)
Mit sanfter Gewalt nimmt mich die Musik von Tara Nome Doyle unmittelbar gefangen. Die Musikerin mit den norwegisch-irischen Wurzeln singt in beiden Muttersprachen. Sowie in universellen lautmalerischen Klängen, die keiner Übersetzung bedürfen. Ich bin völlig begeistert, was für eine Vielschichtigkeit ihre wuchtig-schwebenden Popchansons entfalten. Suchend, expressiv und ganz viel dazwischen. Tara Nome Doyle begleitet sich am Piano. Und ihr Mitmusiker setzt an der Gitarre driftende Akzente. Textlich sind ihre Songs kunstgewordenes Leben. Und da spannt Tara Nome Doyle den Bogen wunderbar weit und schillernd. Ob sie nun eine Liebesnacht schildert oder — mein persönliches Highlight — ihre Liebe zu Schnecken metaphorisch verdichtet. 35 Minuten dauert ihr Konzert im Knust im Rahmen der „Wunderkinder“-Reihe des Reeperbahn Festivals. Ein popkultureller Traum, der viel zu schnell vorübergeht.
* das Titelbild wurde fotografiert von Marvin Contessi