Biggy Pop — Take Five: fünf neue Songs aus Hamburg

Die Uhren sind umgestellt. Der Abend kommt früher. Der Herbst ist die ideale Zeit, sich Geschichten erzählen zu lassen. In dieser Ausgabe meiner Reihe „Biggy Pop — Take Five“ stelle ich fünf neue Lieder vor, die in Hamburg erschienen sind. Welche Stories bergen diese Songs? Was sagen sie aus über die Gegenwart? Inwiefern liefern sie Denkanstöße? Und was für Fantasien beflügeln sie? Mit dabei sind Stücke von fluppe, Die Cigaretten, Lina Maly, Poems For Jamiro und The Kecks.

fluppe — „Aals“ 

fluppe, Aals, Single, Song, Musik, Hamburg, Pop, Take FiveMich faszinieren Geschichten, die stets eine gewisse Rätselhaftigkeit behalten. So ergeht es mir mit „Aals“ von der Hamburger Band fluppe. Mir gefällt das Bild, das Sänger Josef Endicott spröde sprechsingend entwirft: Wie Aale in den Morast hinabgleiten. Weit unten dem Aas begegnen. Dem, was halb zersetzt übrigbleibt. Zum einen lässt sich die Nummer verstehen als (kapitalistischer) Kreislauf von Fressen und Gefressen werden, wie die Band selbst erklärt. Für mich steckt in „Aals“ aber noch eine andere Deutung. „An der Oberfläche ist die Spannung manipuliert“, heißt es in der Mitte des Songs. Für mich transportieren die Lyrics den Wunsch, das allzu Offensichtliche zu verlassen. Tiefgang zu suchen, bedeutet aber immer auch, in die Dunkelheit zu gehen. Zu forschen in unwirtlichen Lebensräumen. Nicht immer klar sehen zu können. Und sich auch mit der eigenen Sterblichkeit zu befassen.

Passend dazu die Musik: eine düstere Dringlichkeit. Auch etwas Unbehagliches. Hinaus aus der Komfortzone. Schubladen lassen sich aufziehen und halb wieder schließen, um daraufhin neue zu öffnen. Post-Punk, Indie-Rock, German Angst, Hamburg Untergrund. Hauptsache, es bewegt. Und das tut Josef Endicott gemeinsam mit Gitarrist Christian Klindworth, Bassist Lars Brunkhorst und Schlagzeuger Antoine Laval. Zu finden ist „Aals“ auf der EP „Billstedt“, die diesen Oktober bei den Hamburger Labels Chateau Lala (digital) und La Pochette Surprise (Tape) erschienen ist. 

Die Cigaretten — „Psychose“

Die Cigaretten, Psychose, fünf neue Lieder, Single, Song, Musik, Pop, Take FiveMit Geschichten, in denen jemand mit Plüschtieren spricht, kriegt man mich ja sofort. Bei der Hamburger Band Die Cigaretten werden die soften Gefährten zu einer Art Ersatzfamilie, während die reale brutal wegzubrechen scheint. Ein Mädchen berät sich in ihrem Zimmer mit ihren Stofftieren. „Doch von unten hört man das Geschrei / etwas bricht in ihr entzwei“, heißt es in „Psychose“. Eine Grunge-Nummer, die zwischen Nachdenklichkeit und Eruption, zwischen Verzweiflung und Wut changiert.

Mir gefällt das Schlaglichtartige des Songs sehr. Wie da mit wenigen Sätzen ein düsteres Panorama entfesselt wird. Ein sozialer Abgrund, der sich aufgrund der Kürze umso heftiger und dunkler auftut. Zu hören ist „Psychose“ auf der EP „Crashkid“, die Die Cigaretten dieser Tage bei Audiolith Records veröffentlicht haben. Besonders beeindruckend ist auch das psychedelisch-filigrane Cover-Artwork von Ruscha Voormann, der Tochter von Illustrator Klaus Voormann.  

Lina Maly — „Fühl“ feat. Antje Schomaker

Lina Maly, Fühl, Antje Schomaker, fünf neue Lieder, Single, Song, Musik, Hamburg, Pop, Take Five„Fühl“ ist ein Song, der nach Intimität und Rückzug klingt. Die Hamburger Sängerin Lina Maly erzählt von Vertrautheit und Geborgenheit. Bei ihr driften diese Begriffe jedoch nicht ins Teezettelchenhafte ab. Vielmehr lässt sie diese vermeintlich einfachen Gefühle vielschichtig schillern. Mit warmer sachter Stimme und puristischem Arrangement zur Gitarre singt Lina Maly von feinen Augenblicken der Nähe, aber auch von deren Flüchtigkeit: „Doch dieses wundersame Schweigen hat kein Bleiben / und manche Dinge sind nur schön, wenn man weiß, sie vergehen.“

Ein Lied, als kommt man nach einem Herbstspaziergang nach Hause. Wenn sich eine wohlige Ruhe ausbreitet. Durch das behutsam angelegte Duett mit Antje Schomaker erhält „Fühl“ weitere schön leuchtende Nuancen. Den Song hat Lina Maly im September auf ihrer EP „Hush Hush / Hamburg“ herausgebracht — und zwar auf ihrem eigenen Label Drei Tulpen Records.  

Poems For Jamiro — „Change“

Poems For Jamiro, Change, fünf neue Lieder, Single, Song, Musik, Hamburg, Pop, Take FiveMit ruhiger Kraft erzählt das Hamburger Duo Poems For Jamiro von Veränderung. „Change“ ist ein eindringlicher Popsongs, der dafür plädiert, sich Zeit zu lassen, um Wandel zu bewirken. „At the very right time in the very right place / we make a change“. Mich spricht der Text sehr an. Denn häufig habe ich das Gefühl, dass ich für Neujustierungen zunächst eine gewisse Gärphase brauche. Und auf einmal fühlen sich Zeit und Ort genau richtig an, um Dinge mit frischem Wind anzugehen. Eine Art innerer Shift, der dazu beiträgt, anders auf Situationen, Menschen und sich selbst zu blicken. Mir gefällt es sehr gut, wie klug und bedacht die Sängerinnen und Multiinstrumentalistinnen Nina Müller und Laila Nysten all die Prozesse verdichten, die zu nachhaltigen Veränderungen führen. Schmerz anerkennen, Vergangenes loslassen, Eigenverantwortung übernehmen.

Ihr poppiger Appell, der noch verstärkt wird durch energetische Drumbeats, lässt sich sowohl auf persönlicher Ebene lesen als auch gesellschaftlich. Und gerade in der aktuellen Corona-Krise, in der sich vieles nach überfordernder Stagnation anfühlt, vermittelt Poems For Jamiro mit „Change“ einen hoffnungsvollen Spirit. Ihre Single ist im Oktober bei dem Hamburger Label Popup Records erschienen.  

The Kecks — „All For Me“

The Kecks, All For Me, Single, Song, Musik, Hamburg, Pop, Take FiveDie merkwürdigen und dunklen Seiten der Liebe lotet die Hamburger Band The Kecks aus. „All For Me“ besitzt eine elegante Melodramatik, wie ich sie etwa bei Jarvis Cocker und Pulp liebe. Andererseits bricht in dem Song auch immer wieder etwas Rohes hervor, das an der Seele reißt. Eine düster-romantische Indie-Ballade, deren Lyrics mich an diesen Blumfeld-Vers erinnern: „Wir sind politisch und sexuell anders denkend“.

„If that seems strange / well, I can’t really help it / cause we’re not arranged like the others“, singt Lennart Uschmann. Und die Gitarre scheint seine Ausführungen ohne Worte fortzusetzen. Erst schlendernd, dann ausbrechend. Das Video zu „All For Me“ unterstreicht den theatralen Charakter der Nummer. Im Stil der Commedia dell’arte betreten maskierte Figuren die Bühne und verfallen allmählich den Obsessionen, von denen Uschmann singt. Das Surreale wird ausgestellt wie in einem Museum. Uschmanns weiß geschminktes Gesicht ist zudem eine feine Verneigung vor David Bowies Verwandlungen zum Harlekin. Ganz bewusst veröffentlichen The Kecks ihre Musik übrigens nach dem DIY-Prinzip. Also: Vorhang auf für diesen tollen Song. 

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