„Sounds of Hamburg“: Popkultur durch die Jahrzehnte

In den 90er-Jahren bin ich vor allem wegen der Musikszene nach Hamburg gezogen. Jochen Distelmeyer sang bei Blumfeld: „Wir sind politisch und sexuell anders denkend.“ Das Leben an der Elbe schien wie ein großes Versprechen an Andersartigkeit. Ein Sammelbecken für Kritisches und Krudes. Die süße Schönheit schräger Vögel würde da goutiert und genährt. Ganz so wie die räudigen Möwen am Hafen. Und tatsächlich war ich hoch beglückt, mich staunend in die Clubs und Kaschemmen zu werfen. Ich wollte sofort alles erschließen und erleben. Auch wenn ich nun schon fast 25 Jahre in Hamburg lebe, ist meine Liebe zur hiesigen Szene nach wie vor von diesem Impuls getrieben. Ich bin überzeugt: Hamburg ist ein Pflaster, auf dem Popkultur bestens gedeiht. Insofern war ich natürlich äußerst neugierig auf das Buch „Sounds of Hamburg“, das nun im Junius Verlag erschienen ist.

Cover, Sounds of Hamburg, Hamburg, Junius Verlag, Alf Burchardt, Bernd JonkmannsAuf fast 300 Seiten versammeln der Journalist Alf Burchardt und der Fotograf Bernd Jonkmanns die Musikgeschichte der Stadt von 1960 bis 2020. Die beiden sind mittlerweile gute Bekannte auf diesem Blog. Über ihre Bücher „Hamburg Calling“ und „Hamburg Vinyl“ habe ich bereits geschrieben. Und dass „Sounds of Hamburg“ nicht in ein einziges museales Nostalgiefest ausartet, dafür sorgt bereits das Vorwort von Frank Spilker. 

Der Sterne-Sänger macht deutlich, dass die in Hamburg entstehenden Sounds und Utopien seit der Beatmusik immer wieder auch heftigen Vermarktungsmechanismen unterliegen. Protest, Pop, Produkt — dieser Dreiklang liegt nicht so weit auseinander, wie sich manche wünschen. Gleichzeitig erläutert er, dass das Lebenswerte an der Stadt stets aus ganz verschiedenen Sehnsüchten erwächst. Und wie diese Sehnsüchte in Zyklen gedeihen und vergehen, zeigt bereits das erste Kapitel von „Sounds of Hamburg“, in dem Alf Burchardt den Aufstieg und Fall des Star-Clubs schildert. Und zwar kompakt auf einer Seite. Denn Grundidee und Herzstück des Buches ist es, die Pophistorie der Stadt anhand von Plattenveröffentlichungen zu erzählen.

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Von Lindenberg bis Lake, von Antje Schomaker bis Albrecht Schrader

Und so ist „Sounds of Hamburg“ vor allem ein feines Kompendium, um in die Fülle der Produktionen durch die Jahrzehnte hinweg einzutauchen. Auch wenn gerade für die ersten Jahrzehnte auch Singles und EPs gezeigt und besprochen werden, liegt der Fokus vor allem auf kompletten Alben. Von Lindenberg bis Lake, von Palais Schaumburg bis Kolossale Jugend, von den Goldenen Zitronen bis zu den Absoluten Beginnern, von Kante bis DJ Koze, von Boy bis Schnipo Schranke, von Antje Schomaker bis Albrecht Schrader.

Alle Platten und ihre Cover werden in dem Buch von gut informierten Texten flankiert. Bei zentralen Alben holt Alf Burchardt weiter aus und erzählt Anekdoten, die nicht einfach auf Wikipedia zu finden sind. Etwa, dass sich die Hamburger Sixties-Band The Beathovens im Streit auflöste, nachdem der Schlagzeuger im Star-Club ein zu langes Solo gespielt hatte. Dass Philipp Grütering von Deichkind sein erstes Equipment mit einer Musik für Eiswerbung finanzierte hatte. Oder dass Helena Hauff ihre ersten Musikproduktionen als Jugendliche mit Tonträgern bestritt, die sie in der öffentlichen Bücherhalle ausgeliehen hatte.

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„Sounds of Hamburg“ zeigt auch, wie männlich geprägt die Popmusik ist

Für mich persönlich ist es wirklich schön, in dem Buch vor allem ab den 90er-Jahren geballt all die Platten zu sehen, die ich mir damals oft direkt am Erscheinungsdatum gekauft habe. Jenseits von Hamburg zunächst per Mailorder, später dann unter anderem im Zardoz am Altonaer Bahnhof bei André und Starlight Steve.

Was bei dieser komprimierten pophistorischen Kompilation allerdings auch brutal ins Auge fällt: Selbst wenn Werke von Acts wie den Liverbirds, Ulla Meinecke, Xmal Deutschland, den Mobylettes, Die Braut haut ins Auge, Annett Louisan, Y’Akoto, Die Heiterkeit, Sophia Kennedy, Miu und Haiyti gewürdigt werden, zeigt „Sounds of Hamburg“ doch auch, wie enorm männlich geprägt die Popmusik lange Zeit war und heute noch ist. „Luft nach oben“ ist da noch untertrieben.

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Ein fulminantes Nachschlagewerk und zugleich ein Gefühl von Abschied

Insgesamt habe ich es sehr genossen, durch die Seiten zu blättern, mich festzulesen und zwischendurch die ein oder andere Band auf YouTube aufzurufen. Bei der Lektüre habe ich mich aber auch gefragt: Wie lange wird ein Buch wie „Sounds of Hamburg“, das ja stark dem Format Pop-Album huldigt, noch in dieser Form funktionieren.

Aller steigenden Vinyl-Verkäufe zum Trotz: Die Vertriebswege verschieben sich zunehmend ins Digitale. Immer mehr Bands veröffentlichen Song für Song statt Platte für Platte. Zudem reichen die finanziellen Mittel gerade zu Beginn einer Pop-Laufbahn oft nicht mehr aus für den großen Wurf namens Album. Insofern ist „Sounds of Hamburg“ ein fulminantes Nachschlagewerk, das zugleich wie der Abschluss einer gewissen Ära der Popmusik wirkt. Vom rein Physischen hin zu etwas anderem, nicht minder Interessantem. 

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