„Mein Beitrag‟ mit Rauchen: lautstark Widerstand leisten

„Es geht um soziale Bewegungen. Um Widerstand. Um den Versuch herauszukommen aus Missständen‟, sagt Nadine, Sängerin der Hamburger Band Rauchen, über das aktuelle Album „Nein‟. Genauer gesagt über das zweite Kapitel dieser hoch politischen Platte. Denn „Nein‟ ist in Form von drei EPs erschienen: Zu Beginn schildert die Band ihre Sicht auf den gesellschaftlichen Ist-Zustand. Teil zwei befasst sich, wie eingangs erläutert, mit den aktuellen Möglichkeiten, sozial ungerechte Strukturen zu verändern. Und zum Schluss entwirft Rauchen eine Art Mischform aus Träumen und Utopien. Einen Zukunftsblick, der keine konkreten Antworten liefert, sondern zu eigenen Gedankenspielen anregen soll. Die drei Kapitel verhandeln in jeweils vier Songs die Bereiche Feminismus, Kapitalismus, Polizeigewalt und Liebe. Themenfelder, wie Nadine erzählt, die sie als Songschreiberin am meisten umtreiben. Für mein Blogprojekt „Mein Beitrag‟ habe ich mit Nadine sowie mit Gitarrist Philo gesprochen. Zur Band gehören zudem Fritz am Bass und ein weiterer Fritz an den Drums.

In der Artikel-Reihe „Mein Beitrag‟ schreibe ich über junge Musiker*innen und was sie mit ihrer Kunst in die Gesellschaft hineingeben. Bei Rauchen gefällt mir zum einen äußerst gut, wie sich ihr Album „Nein‟ lyrisch entwickelt. Von ganz klarer Kante mit wenigen Worten hin zu einer angenehmen Rätselhaftigkeit, die neue Räume eröffnet. Zum anderen finde ich es sehr spannend, dass bei Rauchen der Sound an sich eine große disruptive Kraft entfaltet. Dass sie die Grenzen konventioneller Musik ausloten und überschreiten. Jenseits von Gefälligkeit und Anpassung. 

Die Turbulenzen der Welt in Krach kanalisieren

Rauchen, Album, Nein, Band, Hamburg, Hardcore, Postpunk, Nadine, Philo, Fritz, Mein Beitrag, Blogprojekt, Biggy Pop, Kapitalismus, FeminismusDie Gegenwartsanalyse der ersten EP spiegelt sich in drückender Postpunk-Monotonie wider. Inklusive stoisch intensivem Gesang. Der sich auflehnende Geist des zweiten Teils entlädt sich brachial in Hardcore und Noise. Geprägt vor allem von Nadines Stimme, die ihre Worte in markerschütternde Schreie ausbrechen lässt. Im dritten Kapitel wiederum ist der Sound weniger eruptiv. Die utopischen Ideen münden in treibende und mäandernde Songs zwischen Shoegaze, Postpunk und avantgardistischem Experiment.

„Gerade durch den starken Kontrast von der ersten zur zweiten EP wollten wir auch anecken‟, sagt Philo. Nicht nur gesamtgesellschaftlich. Um lautstarker Störfaktor zu sein. Indem sie die Turbulenzen der Welt in Krach kanalisieren. Die vermeintliche softe Ouvertüre von „Nein‟ durchkreuzt auch die Erwartungen innerhalb des eigenen Genres. Das Hardcore-Umfeld, in dem sich die Band bewegt, hat – wie alle Szenen – bestimmte Hör- und Sehgewohnheiten. Die Rauchen jedoch nicht durchgängig bedienen möchte. Statt schwarzer Hoodie-Uniformität tritt Nadine auch schon mal im Blümchenkleid plus Glitzer auf die Bühne. Und die restlichen Bandmitglieder kommen auch gerne mal wie Indie-Nerds rüber. 

Kritik an den neoliberalen Auswüchsen von Arbeitsverhältnissen

Mich erinnert dieser Non-Konformismus in der eigenen Bubble an die Goldenen Zitronen, die schon früh einen eingeschliffen Punk-Gestus unterliefen. Zum Beispiel, indem sie extra bunte Klamotten oder Kleider trugen. Dass Rauchen die Veröffentlichung von „Nein‟ aufgesplittet hat, geschah ebenfalls, um tradierte Abläufe aufzubrechen. „Ich finde es total angestaubt, dass im Rock nach wie vor nur Alben zu zählen scheinen‟, erklärt Philo. Rauchen liebt es also, anders zu denken. Sowohl in Bezug auf das künstlerische Konzept, als auch in Hinblick auf das politische System. Und konkret eben mit Fokus auf Feminismus, Kapitalismus, Polizeigewalt und Liebe.

Im Spannungsfeld des Kapitalismus betrachtet Rauchen vor allem das Berufsleben zwischen Verausgabung und Reproduktion der Arbeitskraft. In dem Song „Alles‟ geht die Band damit ins Gericht, wie Hierarchien in der heutigen Jobwelt oftmals verschleiert werden. Der Grund: eine zunehmende Verflechtung von privater und professioneller Ebene. „Die Chefin gibt dir alles / Fitness / Biokantine / Abmahnung / Kündigung / Existenzangst‟, schreit Nadine in dieser impulsiven und nur gut eine Minute langen Nummer. Knapp verdichtet zeigt sie auf, wie die Fürsorge einer Firma blitzschnell kippen kann. Und der Vorgesetzte, der sich zuvor noch als Kumpel geriert hat, ist auf einmal gar nicht mehr so freundlich, wenn der oder die Angestellte nicht optimal performed. „Ein Boss ist nicht dein Freund / ein Boss ist keine Freundin‟, erklärt Nadine resolut kreischend ihre Kritik an den „neoliberalen Auswüchsen von Arbeitsverhältnissen‟. 

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Rauchen, fotografiert von Hannah Agel (so auch das Titelbild).

Über Rechtsextremismus bei der Polizei

Für Rauchen ist es ein erstes Anliegen, Ungleichheiten zu benennen. Und dann nach Lösungsansätzen zu suchen. Etwa beim Thema Polizeigewalt. Der Song „Monopol(y)‟ entstand in einer Zeit, als vermehrt rechtsextremistische Handlungen und Haltungen innerhalb der Polizei zu Tage traten. Immer wieder war von sogenannten Einzelfällen die Rede. „Polizeigewalt ist schwer anzuzeigen von den betroffenen Personen. Es kommt kaum zur Strafverfolgung‟, erklärt Nadine. Deshalb fordert sie mit ihrer Band in dem Song „Aufnahme‟ dazu auf, aggressives Verhalten seitens der Polizei zu dokumentieren, also sichtbar zu machen. Und in der Nummer „T-Rex‟ malt sich Rauchen aus, dass die Institution in einer nicht näher definierten Zukunft gänzlich abgeschafft ist. Die Überreste der Staatsmacht, wie wir sie kennen, sind dann nur noch im Museum zu betrachten. 

Auch wenn diese Vorstellung radikal erscheinen mag, so ist es doch gerade die Aufgabe von Kunst und eben auch Popkultur, andere Zustände zu imaginieren. „Utopie bedeutet ja, dass etwas erst einmal sehr weit weg scheint von unserer Realität‟, sagt Nadine. Mit ihren Einsichten und Ausblicken verfolge sie keineswegs den Anspruch, in irgendeiner Form komplett oder absolut zu sein. „Das Schönste, was durch unsere Songs passieren kann: Dass die Kids, die in der Szene nachkommen, sich interessieren und ein Buch zum Thema lesen‟, erklärt Nadine. Und Philo ergänzt: „Ich sehe es als unseren Beitrag, Leute zum Nachdenken und Diskutieren anzuregen. Aber nicht mit erhobenem Zeigefinger.‟ Für beide ist Musikmachen immer und definitiv politisch. Auch, um feministische Positionen und Anliegen zu artikulieren.

Wie präsent der Feminismus in der Gesellschaft ist

„Zu dominant, zu promisk und muskulös / viel zu behaart, zu überschminkt und doch so stark / zu laut, zu leise, zu hysterisch‟, singt Nadine in „Angst‟. Der Song schildert, wie eine facettenreiche und nicht stereotype Weiblichkeit von Männern häufig noch als Bedrohung wahrgenommen wird. „Es geht um all die Anforderungen, die an Frauen gestellt werden. Der Grat, auf dem eine Frau gesellschaftlich alles richtig macht, ist sehr schmal‟, sagt Nadine. In dem Song „Nicht‟ bricht sich allerdings Bahn, wie präsent der Feminismus mittlerweile in der Gesellschaft ist. „Die Zeiten sind vorbei‟, erklärt Nadine und meint damit, dass sexistische Übergriffe verstärkt gesehen, besprochen und sanktioniert werden. 

In „Schlüsselkind‟ zeichnet die Band das Bild einer Welt, in der Frauen in der Dunkelheit ganz sorglos unterwegs sein können. Ohne den Schlüssel zur Abwehr in der Hand zu halten. „Ich habe eine Umfrage auf Instagram gestartet, wie sich der Alltag verändern würde, wenn es kein Patriarchat mehr gäbe‟, erläutert Nadine. Der Song ist eine Collage der Antworten, die sie erhalten hat. Bis hin zu der Vision, nachts einfach nur „im Schlüppi‟ umherzulaufen. Sich nicht einmal mutig fühlen. Sondern einfach frei. Eine schöne Vorstellung. Die aber in stetem Konflikt steht mit dem Erlernten, Verinnerlichten. Mit dem „antrainierten Monster‟, wie Nadine die Konventionen in dem Song „Wasserglas‟ nennt. 

Liebe zwischen offener Beziehung und Eifersucht

In „Wasserglas‟ wird eine offene Beziehung von Eifersucht zerfressen. „Der Versuch, Liebe anders zu leben, stößt an alte Werte und Normen‟, erklärt Nadine. Ein Dilemma, dass sich nicht einfach auflösen lässt. Was aber immer spürbar ist bei Rauchen: Der Wille zur Subversion. Wenn auch nicht ein sofortiger Ausbruch aus bestehenden Verhältnissen, so doch auf jeden Fall ein energischer Anstoß. Um zu hinterfragen und sich zu informieren, um sich zu reiben und zu positionieren, um sich auszutauschen und ins Handeln zu kommen.

Die bisherigen Teile von „Mein Beitrag‟:

Dunya aus Hamburg

K.ZIA aus Brüssel / Berlin

Still Talk aus Köln

Mulay aus München / Berlin

Mino Riot aus Saarbrücken

Anoki aus Schweinfurt / Berlin

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