In Kooperation mit ESNS Exchange // Wir leben in unfassbar komplexen Zeiten. Und mich faszinieren Pop-Künstler*innen besonders stark, die mit ihrer Musik, Performance und Persönlichkeit einen Resonanzraum schaffen für all die Geschehnisse in der Welt. Einer der Acts, den ich aktuell äußerst interessant finde, ist Priya Ragu. Sie verkörpert eindrucksvoll, dass viele Menschen mehrere Leben in sich tragen. Und auch in sich tragen müssen. Geboren wurde sie als Priya Ragupathylingam in der Schweiz als Tochter tamilischer Eltern, die in den 80er-Jahren vor dem Bürgerkrieg aus Sri Lanka geflüchtet waren. Heute fusioniert sie R&B mit dem Sound Südindiens zu einem höchst betörenden Mix. Kein Wunder also, dass sie 2022 nicht nur für Preise wie die Swiss Music Awards und die MTV Music Europe Awards nominiert war. Sie führt auch die Charts der Artists an, die in diesem Jahr von dem renommierten Programm ESNS Exchange protegiert wurden.
Seit 1986 präsentiert das Festival Eurosonic Noorderslag, kurz ESNS, im niederländischen Groningen jeweils im Januar spannende Newcomer*innen. Viele Bands und Solo-Artists sind in den Folgemonaten auf europäischen Bühnen zu erleben und auch verstärkt in den Medien präsent. Diese Dynamik wird befeuert vom Förderprogramm ESNS Exchange, das 2023 sein 20. Jubiläum feiert. Und das es sich zur Aufgabe gemacht hat, herausragenden popkulturellen Talenten außerhalb ihrer Heimat eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Erreichen Newcomer*innen ohne Förderung noch genug Reichweite?
Insgesamt blickt ESNS Exchange in diesem Jahr auf 353 Shows, die von 148 ihrer Acts gespielt wurden. Trotz all der immensen Herausforderungen, die die Live-Branche in diesem dritten Corona-Jahr zu bewältigen hat, sehen sich die Verantwortlichen mit diesen Zahlen auf einem guten Weg, an vorpandemische Zeiten anzuknüpfen. Diese Bilanz wirft für mich allerdings auch die Frage auf, inwiefern Newcomer*innen ohne entsprechenden Schub noch zu der gewünschten Reichweite gelangen. Denn im kleinen bis mittleren Konzert-Segment hat vor allem der noch nicht so bekannte Nachwuchs mit geringen Publikumszahlen und gleichzeitig steigenden Kosten zu kämpfen.
Am Ende des Jahres resümiert ESNS Exchange zudem, welche ihrer unterstützten Acts am meisten gebucht wurden. Priya Ragu lieferte sich dabei 2022 ein Kopf-an Kopf-Rennen mit der britischen Rockband Yard Act. Gefolgt von der irischen Popsängerin CMAT und der ukrainischen Rapperin Alyona Alyona. Von der Post-Punk-Band Enola Gay aus Belfast sowie der Pianistin und Singer-Songwriterin Holly Humberstone aus London.
Und auch auf den weiteren Plätzen zeigt sich, wie sehr die Fusion verschiedener Einflüsse den Sound unserer Tage prägt. Altın Gün aus Amsterdam verbindet türkischen psychedelischen Folk mit tanzbarem Pop. Go_A mixt ukrainische Folklore mit Elektronika. Joe & The Shitboys von den Färöer Inseln laufen beim ESNS Exchange unter „bisexual vegan punk“. Und Wet Leg von der Isle of Wight mischt mit ihrem fulminant schrulligem Humor und feministischer Attitüde das breitbeinige Indierockhausen derzeit ohnehin aufs Schönste auf.
Schieflagen ansprechen, bis es womöglich nervt
Ich bin sehr froh, dass immer neue spannende Sound-Kombination entstehen. Und auch, dass lange totgeschwiegene Themen in Pop-Songs zum Ausdruck kommen. Und zwar immer und immer wieder. Bis es womöglich zu viel erscheint oder sogar nervt. Denn erst dann findet meines Erachtens eine Enttabuisierung statt. Erst dann wird es wirklich irgendwann normaler, also weniger schambesetzt, zum Beispiel über Körper, Mental Health und Diskriminierungen zu reden.
In meiner Blog-Reihe „Mein Beitrag“ habe ich mich in diesem Jahr damit befasst, wie sich junge Bands und Pop-Künstler*innen in ihrer Musik mit Gesellschaft und Politik befassen. Und auch Priya Ragu steht exemplarisch für ein derzeit wachsendes Selbstverständnis, äußere Schieflagen und innere Konflikte deutlich anzusprechen.
Priya Ragu mit „Adalam Va!“, von Tarantino bis zum tamilischen Kino
„Als ich jung war, hatte ich das Gefühl, meine Herkunft verstecken zu müssen – das war nicht cool genug“, erzählte sie jüngst der britischen Vogue. Bis auf eine Ausnahme: die Musik. Doch obwohl sie bereits früh mit ihrem Vater und ihrem Bruder auf Festen auftrat, wählte sie zunächst einen vermeintlich sichereren Berufsweg und arbeitete in der technischen Abteilung von Swiss Airlines. Als Popstar, der erst mit Mitte 30 richtig durchstartet und sich nach eigenem Bekunden im Tomboy-Look am wohlsten fühlt, diskutiert sie unter anderem Themen wie Age- und Lookism.
Im Video zu ihrer aktuellen Single „Adalam Va!“ tanzt sie in lässigen Oversize-Klamotten durch das märchenhafte Ambiente von Strawberry Hill, einem schlossartigen Landhaus in der Nähe von London. Der Song, der erneut von ihrem Bruder Japhna Gold produziert wurde, ist deutlich treibender als ihre bisherigen Nummern. „Adalam Va! handelt von Hoffnung in den dunkelsten Tagen. Von der frischen Energie, die aus solchen Phasen hervorgehen kann“, erklärt Priya Ragu. In dem Video verquickt sie eine geschmeidig-coole Choreografie mit Martial-Arts-Elementen und Anspielungen auf großes Kino von Tarantino bis hin zum tamilischen Krimi. Eine Mischung, die Spaß macht. Und inspiriert.