Was wäre, wenn wir das Leben viel mehr als Laborsituation begreifen? Als Versuchsfeld, das wir mit neugieriger Leichtigkeit beschreiten. Durchaus geleitet von unserem Eigensinn, von unseren Talenten und von unserer Intuition. Aber mit dem Wissen, dass im Ausprobieren und im Austausch die eigentliche Schönheit liegt, nicht im perfekten Resultat. Diese Idee haben der Pianist Volker Bertelmann alias Hauschka und der Percussionist Kai Angermann im Großen Saal der Elbphilharmonie grandios ausgebreitet. Ihr hochgradig intensives Konzert war Prozess und Ergebnis zugleich. Dabei hätte Volker Bertelmann einfach auf Nummer sicher gehen und zum Beispiel Klavierwerke von seinem Album „A Different Forest“ spielen können. Stücke von ruhiger, nahezu meditativer Kraft. Er hätte sich auch eingehend für seine zweite Oscar-Nominierung und seinen Bafta-Filmaward feiern lassen können, die er für den Soundtrack zu „Im Westen nichts Neues“ erhalten hat. Doch dass er gerade primär Musik für Filme und Serien komponiert, erwähnt er eher am Rande.
Stattdessen loten Hauschka und Kai Angermann in der Elbphilharmonie lieber mit reichlich Risikofreude die Spielräume ihrer Instrumente aus. Der Flügel, an dem Hauschka im Halbdunkel agiert, ist da kein harmonieseliges Gerät. Das Piano wird an diesem Abend zum Rhythmus- und Rauschmittel. Mehr Störfaktor als Schönklang. Ein elektrifiziertes, verfremdetes und präpariertes Instrument. Gemeinsam mit Percussionist Kai Angermann entfesselt er für eine gute Stunde eine auf- und abschwellende Improvisation, aufgeladen mit ungemein vielschichtigen Details. Wie eine dystopische Ode an unsere tosende Welt. In steter Repetition driften und dröhnen die Klänge durch Körper und Kopf. Sodass ich mich kurz frage, ob bei einem EEG sichtbar wäre, wie sich beim Hören meine Hirnströme verändern, sich womöglich an diesen kunstvollen Rave angleichen, während ich in eine Art unruhige Hypnose verfalle.
Die durchaus brutale Wirkmacht der Wiederholungen
An seiner Station agiert und forscht Kai Angermann an Vibraphon, Becken, Trommeln und kleinerem Schlagwerk. Und im Dialog zwischen Hauschka und dem Percussionisten verschieben sich die Soundmuster mal minimal, mal in größeren Schüben. So wie vieles im Leben immer wiederkehrt und sich doch mit einer innerlichen Wucht nach und nach verändert.
Zum Teil scheinen die beiden jeweils ganz für sich zu spielen, ohne sich anzusehen, verbunden über den Klang. Im Laufe der Konzerts verlassen sie jedoch für einige Minuten ihre Instrumente und begegnen sich an einem Aufbau im hinteren Bereich der Bühne. Kai Angermann bearbeitet einen vertikal aufgehängten Gong. Hauschka spielt Synthesizer und Elektronica. Zurück an Piano und Percussion steigert sich der Sound zu einem dermaßen dichten wie eindringlichen Sound, dass es offenbar einigen im Publikum zu viel wird und sie frühzeitig den Saal verlassen. Schade. Denn dieses spannungsgeladene Pulsieren, diese über Strecken durchaus auch brutale Wirkmacht der Wiederholungen, erfährt am Ende eine tolle Katharsis.
Am Ende: etwas löst sich
Mit Verve entfernt Volker Bertelmann alle Präparationen von seinem Flügel. Die Kabel und Klebestreifen. Die Holzstifte und die Klebebandrolle, mit denen er die Saiten beklopft und bearbeitet hatte. Alles landet geräuschvoll auf dem Boden der Elbphilharmonie. Und er setzt an zu einer harmonischen Befriedung. Sein einnehmendes Spiel klingt nach der drastischen klanglichen Erfahrung zuvor umso befreiender und beglückender. Ein Ballast fällt ab. Etwas löst sich. Viel Applaus. Ein stark nachhallender Abend. Bei dem — als Bonus sozusagen — noch eine neue Künstlerin zu entdecken war.
Im Vorprogramm spielte die junge und hoch charismatische Musikerin und Komponistin Dobrawa Czocher, die mit Cello und Loopstation einen empathisch vibrierenden Orchesterklang erzeugte. Ein Name, den es sich zu merken gilt. Und zuletzt noch eine weitere Empfehlung: Der Auftritt von Hauschka und Kai Angermann stammt aus dem Portfolio der Konzertdirektion Palme. Für die kommenden Wochen steht da ein sehr fein kuratiertes Programm auf dem Plan — vom Club bis zum Konzerthaus. Als nächstes unter anderem zum Beispiel mit The Notwist in der Fabrik (13. März), dem Kaiser Quartett im Kleinen Saal der Elbphilharmonie (24.3.) und Charlotte Brandi im Nachtasyl (30. März). Für weitere Hörerlebnisse und Grenzverschiebungen.