Noch bin ich herzerfüllt vom Norden Festival in Schleswig, das ich vier Tage lang moderieren durfte. Und schon liegt das Reeperbahn Festival an. Das heißt: sehr viel Musik, sehr viele Menschen. Für mich ist das jedes Jahr ein überbordender wie erfüllender Mix an Input, Inspiration und Austausch mit vertrauten, neuen und lieben Leuten. In Zahlen bedeutet das für 2024: 45.000 Musik-Fans erleben 480 Konzerte sowie 40 Lesungen, Live-Podcasts und Ausstellungen in vier Tagen und Nächten in Hamburg. Zudem 240 Programmpunkte bei der Konferenz mit 400 Speaker*innen aus 52 Nationen. Wow. Speaking of Reizüberflutung. Also erst einmal locker rein und bei bestem Wetter hin zum Festival Village auf dem Heiligengeistfeld auf St. Pauli. Was mir sofort auffällt: Es sind viele junge Leute am Start zwischen Bühnen und Flatstock-Posterausstellung, zwischen Skateboard-Halfpipe und 3D-Druck-Container. Das liegt unter anderem daran, dass die Jugendkultur-Konferenz TINCON mittlerweile an das Reeperbahn Festival angedockt ist. Ein kluger Zug.
Diskutiert die Branche doch aktuell intensiv die Frage: Wie lässt sich das junge Publikum nach der Erfahrungslücke der Pandemie-Jahre und in der aktuell herausfordernden Krisenlage wieder für Popkultur begeistern. Und zwar sowohl für den Besuch von Konzerten, Festivals und Club-Veranstaltungen, als auch für ein Berufsleben im Pop-Business. Beim Panel „Generationswechsel in der Musikbranche“ erzählt etwa Ralph Christoph, Gründer der c/o pop in Köln, wie sie ihre Convention nach Corona gezielt auf junge Menschen ausgerichtet haben. Und wie es auch schlichtweg die Aufgabe älterer Profis ist, engagierten Nachwuchs zu finden und diesen einzubinden. Es geht also darum, Know-how weiterzugeben und zugleich auf junge Perspektiven zu vertrauen.
Wo steht die Branche und welche Aufgaben gilt es, in Zukunft anzugehen?
Die Themenpalette der Talks beim Reeperbahn Festival reicht von Nachhaltigkeit bis KI, von Machtmissbrauch in der Musikbranche bis zur Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Resilienz im Pop bis zu politischem Engagement in Zeiten des Rechtsrucks. Eine tolle Bandbreite.
Ein starker Fokus liegt in diesem Jahr auf der übergreifenden Frage: Wo steht die Branche derzeit und welche Aufgaben gilt es, in Zukunft anzugehen? Diskussionsgrundlage ist dabei die zum Reeperbahn Festival frisch veröffentlichte Studie „Musikwirtschaft in Deutschland 2024“. Daher kommt das im Titel dieses Blogposts wegen der schönen Alliteration etwas salopp angekündigte „Cash“. Es geht also um Geld, Gewinne, Ökonomie, vor allem aber um die Lebensgrundlage von fast 156.000 Erwerbstätigen, die von der Popbranche leben. Also auch um: faire Bezahlung.
Laut der Musikwirtschaftsstudie sind die Umsätze von 2019 bis 2023 von 14,8 auf 17,4 Milliarden Euro gestiegen. Ein Zuwachs von 18 Prozent. Die Ergebnisse zeigen also erst einmal, dass die Musikbranche nicht nur ein kulturell wichtiger Faktor in der Gesellschaft ist, sondern auch ein ökonomischer. Beim Get-Together „Soundcheck Hamburg“ erklärt Kultursenator Carsten Brosda allerdings auch, dass die Erlöse innerhalb der Branche gerechter verteilt werden müssen. Sodass das Geld auch tatsächlich bei den Musikschaffenden ankommt. Das heißt: die Zahlen sehen nicht für alle gleichermaßen so rosig aus, wie auf den ersten Blick vermuten lässt.
Deep Dive in die Studie „Musikwirtschaft in Deutschland 2024“
In dem Panel „Alles ist Zahl“, das ich auf dem Reeperbahn Festival moderiere, machen wir mit einer toll besetzen Runde noch einmal einen Deep Dive hinein in die Studie. Birgit Böcher vom Verband Deutscher Musikverlage und Georg Sobbe vom Bundesverband der Musikindustrie betonen, wie wichtig diese Zahlen sind, um sich auch gegenüber der Politik als einflussreiche Größe zu positionieren. Christian Gerlach von der Veranstaltungsagentur Neuland und Musikmanagerin Tina Krug (Honey & Spice) geben spannende Einblicke in ein immer zahlengetriebeneres Arbeiten – von der Streaming-Analyse bis zu Ticketverkäufen. Ihre Devise: Zahlen für die eigenen Strategien nutzen. Aber zugleich Ruhe bewahren. Und vor allem an die Artists und ihre Entwicklung glauben.
Der Tenor insgesamt: Durch Corona ist der Branche der Wert valider Zahlen noch einmal bewusster geworden. Zum Beispiel wenn es um die Legitimierung von Förderungen geht. Und die Musikwirtschaft ist insgesamt enger zusammengerückt. Der große Wunsch ist daher, nicht zu dem „Hauen und Stechen“ der vorpandemischen Jahre zurückzukehren. Sondern: Trotz Preisdruck und Inflation in und zwischen den Teilbereichen vom Instrumentenhandel bis zu Recorded Music besser zu kooperieren und zu kommunizieren.
Keychange-Studie zur Geschlechtergerechtigkeit stimmt nachdenklich
Und noch eine wichtige Umfrage wird im Zuge des Reeperbahn Festivals veröffentlicht: die dritte Keychange-Marktforschungsstudie zur Geschlechtervielfalt im deutschen Musikmarkt. Die Ergebnisse stimmen nachdenklich: FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter-, Trans- & Agender) glauben noch nicht an eine Chancengleichheit in der Branche. „Die befragten Akteur*innen bewerten die Situation weiterhin überwiegend kritisch, zum Teil sogar kritischer als bei der Studie vor drei Jahren“, erklärt die Initiative Keychange, die sich seit Jahren für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Popindustrie einsetzt.
Ein weiteres Resultat: „In Bezug auf gesundheitliche Themen wie Menstruation und Menopause ergab die Studie, dass knapp vier von zehn der Befragten Einschränkungen in ihrem Berufsleben wahrnehmen, in den meisten Unternehmen aber nicht offen darüber gesprochen wird.“ Ich sag mal so: Luft nach oben.
Konzerte von Bibi Club bis Pip Blom, von Moonpools bis Beth McCarthy
Wo Keychange allerdings bereits sicht- und hörbare Erfolge zu verzeichnen hat, ist die Repräsentation von FLINTA*-Personen auf den Bühnen. Beim Reeperbahn Festival 2024 erlebe ich, ohne es bewusst geplant zu haben, fast ausschließlich Bands, in denen mindestens eine Frau am Start ist. Bibi Club aus Kanada mit ihren Indie-Pop-Oden zwischen Schreddern und Schwelgen. Soffie mit starker Stimme, klarer Haltung und ihrer Utopie „Frühling“. Pip Blom aus den Niederlanden, die nachmittags charmant wie impulsiv in den Molotow-Backyard hineinkrachen. Die Schweizer Shoegaze-Gruppe Moonpools, die druckvoll verträumt den Sonnenuntergang auf dem Spielbudenplatz verstärkt. Die immer wundervoller werdenden Willow Parlo aus Hamburg mit ihrem hypnotischen Dreampop. Oder die höchst show-agile und für den Anchor Award nominierte Beth McCarthy, die mal eben sämtliche Pop-Personas von Avril Lavigne über Pink bis Miley Cyrus in sich vereint und zu etwas Eigenem überhöht.
Das Reeperbahn Festival ist für mich besonders spannend, wenn ich neue Ideen und leidenschaftliche kritische, kluge Menschen kennenlernen kann. Sehr anregend ist zum Beispiel das Panel „Collective Empowerment – von feministischen Musikkollektiven lernen“. Eyob Öder vom Berliner DJ-Kollektiv xcuse:u und Yung Womb von der Hamburger Slic Unit erzählen von ihrem Engagement zwischen Passion und Professionalisierung, zwischen steigenden Preisen und Solidarität, zwischen Clubsterben und eigenen Safe Spaces.
Panel „Wo ist die Crewlove?“ zur Lage von Selbstständigen
Der Wunsch nach Gemeinschaft äußerst sich auch sehr stark auf dem zweiten Panel, das ich auf dem Reeperbahn Festival moderiere. Unter dem Titel „Wo ist die Crewlove?“ rede ich mit tollen Expert*innen über die Lage von Selbstständigen in der Musikbranche. Marcus Pohl, Gründer der Produktionsfirma Artist Alliances, setzt stark darauf, Kompetenz und Selbstbewusstsein der Freelancer*innen in Sachen Preiskalkulation und Verhandlungen zu erhöhen. Sein Credo: nicht um wortwörtlich jeden Preis jeden Job annehmen. Johannes Everke vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft fordert mehr Rechtssicherheit seitens der Politik für die Arbeit von Freien.
Eine Möglichkeit für mehr Crewlove und Absicherung möchte Tontechniker Timo Bittner bieten. Mit „viele“ gründet er derzeit eine Genossenschaft, die Technikschaffende fest anstellt. Das soll Entlastung bieten in Sachen Administration und Lohndumping verhindern. Musikerin und Labelbetreiberin Lina Holzrichter wiederum stellt das Artist-Netzwerk D-Popkultur vor, das freien Musiker*innen eine stärkere kollektive Stimme verleiht.
Receptions, Receptions, Receptions vom Hamburg-Haus bis nach Korea
Das Reeperbahn Festival bietet ganz unterschiedliche Ebenen, um sich mit der Musikwelt zu verbinden. Im Hamburg-Haus, das dieses Jahr im Häkken mitten auf dem Kiez beheimatet ist, präsentiert etwa die feine Agentur Backseat ihr Portfolio mit den famosen Musikerinnen Ami Warning und Betti Kruse. Bei strahlender Sonne wiederum tauche ich ein in die wundervolle Diversity-Crowd von RockCity Hamburg. Gemeinsam mit Carsten Brosda schauen sie auf ihre Aktivitäten der vergangenen Monate zurück und geben einen Ausblick auf die Konferenz Operation Ton Ende Oktober 2024. Ich gucke auch beim frühabendlichen Brunch des bayerischen Popverbands vorbei. Und beim „S(ch)nacken mit der Initiative Musik“ geht es dann auf Bundesebene weiter.
450 Acts aus mehr als 30 Nationen treten beim Reeperbahn Festival mit Konzerten in 80 Spielstätten auf. Und diverse Länder richten mit ihren Export-Büros für Musik eigene Receptions aus. Ich besuche seit Jahren auf jeden Fall den koreanischen Empfang, den die Organisationen Mu:con und Kocca gemeinsam mit der Hamburger Agentur Pop up ausrichten. Sehr ausführlich tausche ich mich da aus über eines meiner Lieblingsthemen: K-Pop und K-Culture.
Das neue Musik Treffen Hamburg versammelt die Szene vor der Komet Bar
Neu in diesem Jahr: die Alternativ-Veranstaltung Musik Treffen Hamburg, bei der sich die hiesige Szene und Subkultur in Clubs präsentiert, die nicht am Reeperbahn Festival teilnehmen. Von der Hedi übers Hafenklang bis zum Pudel. Der Empfang des Musik Treffen Hamburg vor der Komet Bar gerät zum freundlichen Who is who vieler toller Personen, die das Musikleben der Stadt am Laufen halten. Allerdings haben Die-Hard-Musikfans auch schon angemerkt, wie schade es ist, dass sie die Konzerte des Musik Treffen Hamburg nicht besuchen können, da sie bereits einen Reeperbahn-Festival-Pass haben. Und zu viel sei eben zu viel. Nächstes Jahr soll es eine Fortsetzung geben. Es bleibt also interessant.
Und sonst? Der an das Reeperbahn Festival angedockte extra Irrsinn: Linkin Park veranstalten mit ihrem Label Warner mal eben eine Drohnen-Show über dem Kiez, um auf ihr neues Album hinzuweisen. Und K.I.Z. starten kurzfristig am Millerntor den Vorverkauf für ihr „Nur für Frauen“-Konzert und sorgen für die wohl längste Schlange bei diesem Festival.
Von Powerhouse Alli Neumann bis Spirit Animal Kate Nash
Zudem drei bis fünf besonders schöne Ereignisse: Charisma-Powerhouse Alli Neumann erhält den Keychange-Inspiration-Award. Und sie spielt im Rahmen des Reeperbahn Festivals in der Elbphilharmonie. Die grandiose Uche Yara, die ich beim Reeperbahn Festival 2023 für mich entdeckt habe, gewinnt den VUT Indie Award als beste Newcomerin. Und Kate Nash ist mittlerweile so etwas wie das Spirit Animal des Reeperbahn Festivals. Am Samstag gibt sie direkt zwei Konzerte. Inklusive Bad in der Menge auf dem Spielbudenplatz und Dirty-Dancing-Einlage in der Großen Freiheit.
Ich muss mich jetzt erst einmal ausruhen, all die Musik und all die Eindrücke wirken lassen und verbleibe inspiriert sowie gelassen mit Lyrics der hinreißenden Betti Kruse: „Alles hat seine Zeit / Und seinen Beat“.
Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2024 gibt es in meinen Highlights auf Instagram
Die lieben Kolleg*innen:
Stets empfehlenswert sind die Artikel und der Content der super sympathischen Menschen von Musicspots, zum Beispiel auf Instagram
Immer wieder begegne ich auf dem Reeperbahn Festival auch Anke vom Blog Nimmst du mich mit, schaut doch mal bei ihr vorbei
Das Hamburger Abendblatt, allen voran mein lieber Kollege Tino, hat auf dem Reeperbahn Festival einen Pop-up-Podcast-Container bespielt und tolle Interviews mit Menschen aus der Branche geführt
Eine Antwort auf „Reeperbahn Festival Fazit 2024 — zwischen Cash und Crewlove“
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