Die Hallyu, die koreanische Welle, erreicht immer heftiger auch Europa und Deutschland. Während es hierzulande seit Jahren eingeschworene K-Pop-Fans gibt, sprechen Musik und Kultur aus Südkorea nun offenbar immer größere Zielgruppen an. Das lässt zumindest ein Blick in die Konzertkalender vermuten. Sei es Seventeen beim Berliner Festival Lollapalooza. Sei es die große Messe Kcon in Frankfurt im September. Oder sei es Ateez, die im Februar 2025 in die Arenen nach Köln und Berlin kommen. Agenturen wie die Karsten Jahnke Konzertdirektion in Hamburg integrieren verstärkt auch K-Pop und seine Spielarten in ihr Portfolio. In diesem Sommer habe ich in meiner Radiosendung Nachtclub Überpop mit Hannah Pfitzenmaier, Tourpromoterin bei Jahnke, über koreanische Pop- und Fankultur gesprochen. Jahnke veranstaltet auch die Show von NCT Dream in der Uber Arena in Berlin, die ich am 6. November besuche. Angesichts der deprimierenden US-Wahlergebnisse wirkt dieses Konzert wie eine positive Utopie, die Menschen über Musik international verbindet.
Shirts, Haare, Lidschatten — alles strahlt in der Signatur-Farbe Grün
Bereits am Hamburger Hauptbahnhof stoße ich auf Fans von NCT Dream, die ihre Accessoires auf die Signatur-Farbe der Band abgestimmt haben. Als ich dann am Abend in Berlin in der East Side Mall nahe der Arena beim K-Idol-Store vorbeischaue, sind immer mehr Leute in hellem Grün zu sehen. Shirts, Haare, Lidschatten — alles strahlt in Nuancen von Limette.
Der K-Idol-Store erstreckt sich auf gut 140 Quadratmetern und existiert seit rund einem Jahr. Dort entdecke ich auch einiges an Alben und Merch, das ich während meines vierwöchigen Aufenthalts in Seoul in den vielen K-Pop-Stores gesehen habe. Etwa das tolle eher experimentelle Soloalbum von RM von BTS samt umfassendem Artwork. Der K-Idol-Store gibt an diesem Tag einige Goodies wie Fotokarten und Armbänder von NCT Dream aus. Ich liebe solche kleinen Andenken. Und der Laden hat eine Late-Night-Öffnung angesetzt, damit die Fans nach der Show von NCT Dream noch einmal zusammenkommen können. Natürlich geht es dabei auch um Shopping. Aber eben auch darum, einen Treffpunkt bieten zu können.
Fankultur im K-Pop: die Euphorie des Miteinanders
Seit Langem habe ich für ein Arena-Konzert mal wieder eine Karte für den Innenraum statt eines Sitzplatzes. Das erweist sich als sehr schöne Erfahrung. Vor Beginn hocke ich mich, wie so viele, zum Warten einfach auf den Boden. Ich komme ins Gespräch mit einem jungen Fan aus Bielefeld, der neben mir sitzt. Sie war im vergangenen Jahr bereits bei der zweiten Tour von NCT Dream dabei. Seit dem Morgen ist sie an der Arena und zeigt mir einige der vielen Freebies, die sie von anderen Fans erhalten hat. Armbänder und kleine liebevoll gestaltete Goodiebags. Sie ist solo für sich angereist, allerdings nicht lange alleine geblieben. Und ich lasse mich sehr gerne von dieser Euphorie des Miteinanders anstecken.
Die K-Pop-Übergruppe NCT: wie das Marvel Universum aufgefächert
Die Show von NCT Dream ist in vier Akte plus Zugabe aufgeteilt. Dramaturgisch toll arrangiert zeigt sich so über zweieinhalb Stunden die Vielseitigkeit und Entwicklung der Boygroup. NCT, das ist ein wenig so zu verstehen wie das Marvel-Film-Universum. Nur für K-Pop eben. Also es gibt einen Gesamtverbund, der sich in verschiedene Welten diversifiziert.
NCT steht für Neo Culture Technology, gegründet von der Firma SM Entertainment. Die meisten Mitglieder haben als sogenannte SMRookies auf ihr Debüt hintrainiert. Zu NCT als übergreifende Formation gehören 25 Sänger, Rapper und Tänzer, die auf verschiedene Subunits aufgeteilt sind. Als dritte Einheit etablierte sich NCT Dream im August 2016 mit der Single „Chewing Gum“. Die sieben Team-Member sind: Mark, Renjun, Jeno, Haechan, Jaemin, Chenle und Jisung. Wobei alle ebenfalls in der Subunit NCT U vertreten sind, Mark und Haechan sogar zusätzlich bei NCT 127. Ein ganz schönes Pensum also.
Das Comeback von Mitglied Renjun nach Mental-Health-Problemen
Zum Glück werden Themen wie Mental Health und Erschöpfung nicht totgeschwiegen. Bei der aktuellen Tour hat Member Renjun lange aufgrund von Angstzuständen und schlechter gesundheitlicher Verfassung ausgesetzt, was auch öffentlich von SM Entertainment kommuniziert wurde. Die Tour unter dem Titel „The Dream Show 3: Dream( )scape“ startete im Mai mit drei Konzerten in Folge im Gocheok Sky Dome in Seoul. Sie führte dann über Asien bis nach Latein- und Nordamerika. Der europäische Tour-Zweig startete Ende Oktober in Rotterdam. Seitdem ist Renjun wieder mit auf der Bühne dabei. Dementsprechend wird der Sänger mit chinesischen Wurzeln auch beim Auftritt in Berlin besonders heftig bejubelt.
Die Show von NCT Dream beginnt mit dem impulsiven „Box“ und dem Ausruf: „Don’t put me in a box / I’m banging on the roof“. Womöglich auch ein lyrischer Verweis darauf, wie stereotypisiert K-Pop und ihre Idols nach wie vor oftmals wahrgenommen werden. Der erste Akt spielt optisch und musikalisch mit einem dunkel-romantischen Thema. Und mit „Drippin“ performded NCT Dream auch direkt einen meiner Lieblingssongs. Die ausgefeilten Rap-Parts und der akzentuierte, tatsächlich tröpfelnde Rhythmus entfesseln einen dramatischen Sog. Und es ist einfach wohltuend, in das kollektive Erleben in der Arena einzutauchen. Viele Fans schwenken Lightsticks mit dem markanten hellgrünen Kubus im NCT-Dream-Design. Eine unglaubliche Energie im Rund aus Kreischen, Tanzen und leuchtenden Emotionen. Dieser gute Vibe ist vor allem zu spüren, als sich die Mitglieder ausgiebig vorstellen. Wobei Marc, der kanadische Wurzeln hat, auf Englisch die Conférencier-Rolle des Abends übernimmt.
„We Go Up“ verbindet mühelos ultracoolen Rap mit empowerndem Gesang
Zum zweiten Akt kehren die sieben Member in lässigen Schuluniformen zurück. Vor allem eine Nummer wie „We Go Up“ verbindet mühelos ultracoolen Rap mit empowerndem Gesang. Very cheerful. Die Chemie der Band springt definitiv über, wenn sie von ihrem bald erscheinenden Album erzählen. Und wenn sie versuchen, den Inhalt der neuen Musik sowohl in sexy, als auch in süßen Posen darzustellen (Stichwort: aegyo). Hübsch albern, bevor NCT Dream dann mit „Walk With You“ in ein herrlich kitschiges Winterwonderland entführen.
NCT Dream lässt show-technisch nichts anbrennen. Das zeigt sich besonders im knallbunten wie mitreißenden dritten Akt. Mit „Yoghurt Shake“, „Pretzel“ und „Candy“ werden alle kulinarisch-musikalischen Wünsche erfüllt. Mit Choreografien on point und voller Details. Und auf einmal stehe ich in einem Regen aus unzähligen Papierherzen, die von der Decke fallen. Alle Sinne werden wie in einem Traum umfangen. Immer wieder fliegen Konfetti und Streamer hinab im Laufe der Show. Bis der emotionale Speicher voll und der Boden komplett bedeckt ist. Too much? Ja. Und das ist genau deshalb so fantastisch.
Mit Flaggen zeigen die Fans, woher sie für die Show in Berlin angereist sind
„Fireflies“ ist Party pur. Und bei „Hello Future“ zeigt sich erneut, wie eindrucksvoll Show-Konzepte im K-Pop umgesetzt werden. Mit innovativen Visuals und einer kantig-fließenden Choreo sowie mit dem perfekten Wechsel von Rap und Gesang. Im vierten Akt wird es mit Songs wie „Skateboard“ eher punkig-urban. Und vor der Zugabe entfaltet sich die Fankultur rund um NCT Dream noch einmal aufs Schönste. Die Fans halten Schilder mit Liebesbekundungen und Insider-Witzen hoch. Und mit Flaggen zeigen sie, woher sie extra für die Show in Berlin angereist sind. Das äußerst diverse Publikum setzt sich aus Fans von Italien über Dänemark bis Tschechien zusammen. Sie jubeln, sie weinen, sie singen mit, sie sind gemeinsam am Leben.
Der Zugaben-Teil gestaltet sich dann surreal soft. In weißen Anzügen singt NCT Dream von der Bühne herab. Der finale Song „Like We Just Met“ ist ein echter Tearjerker. Die Member drehen ihre Abschiedsrunde. Und es fallen weiße Papierschnipsel herab. Wie der erste Schnee. Wer gerne K-Drama, also koreanische Serien schaut, der weiß, was das bedeutet: Beim ersten Schnee verliebt man sich. Und das habe ich wieder ein Stück mehr getan. In die Musik, in die Atmosphäre, in die zugewandte Art. Ein Eskapismus, der sich sehr real anfühlt.