Reeperbahn Festival, Tag 2 – preisverdächtig

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Wieso besuchen Menschen eigentlich das Reeperbahn Festival? Der stets süffisante wie satirische Kollege Linus Volkmann singt in seinem neuesten Video für das WDR-Format „Cosmo“: „Wer will betrunkene Plattenbosse sehen? Der muss diese Woche nach Hamburg gehen.“ Ha ha, herrlich. Klar, Netzwerken beim Bier gehört gewiss zu diesem Poptrubel dazu. Aber zum Glück geht es ja letztlich doch um: Musik.

Der Täubling, Rap, Hiphop, Bunny, weird, Reeperbahn Festival, Prinzenbar, Hamburg, Clubs, Pop Und viel spannender (sowie hochgradig irritierender) als betrunkene Plattenbosse finde ich zum Beispiel einen rappenden Typen, der aussieht, als habe der Joker aus Batman einen Hasen gefrühstückt. Der Täubling aus Leipzig sorgt am zweiten Tag des Reeperbahn Festivals in der Prinzenbar rasch für Einlassstopp. Zu old-schooligen Beats feuert dieser horrormaskierte Typ wie ein degenerierter Hase Cäsar seine Frontalbeschimpfungen heraus. Flankierend schenkt ein barbrüstiger Lakai Champagner aus und ein androgynes Wesen im Regenmantel tanzt sich schlängelnd um den Hauptperformer herum.

Zwischen Der Täubling und Altın Gün: Kontrast ist Königin

Das Reeperbahn Festival lebt für mich davon, sich wechselbadend in unterschiedliche popmusikalische Zustände begeben zu können. Der Satz „and now to something completely different“ lässt sich hervorragend praktizieren. Das hält die Synapsen auf Trab. Zum Beispiel, wenn es nach Der Täubling direkt zu Altın Gün in den Kaiserkeller geht. Eine Art türkische Variante von Sly And The Family Stone. Satt groovende, psychedelische Funk- und Rock-Energie, die sofort meine innere Lavalampe anschaltet. Das Sextett aus Amsterdam ist toll aufeinander eingespielt. Betörender Gesang, grandios verschachtelte Rhythmik, fließende Melodien von Gitarre, Keyboard und Saz.

Und dies sind nur zwei Beispiele aus der zweiten Nacht des Reeperbahn Festivals, die zeigen: Kontrast ist Königin.

Reeperbahn Festival, Clubs, Italian, Showcase, Aquarama, Sommersalon Begonnen habe ich Tag zwei entspannt am frühen Nachmittag mit Pizza und Focaccia beim Italian Showcase im Sommersalon. Immer mehr Länder schicken, zum Teil über eigene Pop-Export-Büros, ihre vielversprechenden Musiker aufs Reeperbahn Festival. Die Sonne scheint wie ein natürlicher Scheinwerfer auf die Schaufensterbühne dieses kleinen Kiezladens. Und die Band Aquarama aus Florenz spielt einen schönen Surfpop, mit dem sich sehr hübsch in Kommendes driften lässt.

Natürlich ist das Reeperbahn Festival für mich tatsächlich auch eine gute Gelegenheit, Menschen und ihr Musikbusiness kennenzulernen. Ich kann zudem Leute treffen, mit denen ich bisher nur gemailt, aber noch nie von Angesicht zu Angesicht gesprochen habe. So habe ich zum Beispiel ein interessantes Gespräch mit Hele Maurer von Rola Music.

Die Firma mit Sitz in Portland, Wien und neuerdings auch Hamburg bietet Booking, Management und Promotion schwerpunktmäßig für Newcomer. Das finde ich großartig, denn ich liebe es, unbekannte Bands zu entdecken. Haley Heynderickx etwa, eine der Rola-Künstlerinnen, ist eine Amerikanerin mit philippinischen Wurzeln, die einen irisierenden, intensiven sowie warm verzerrten Folkrocksound produziert.

Helga Award, die wahnwitzigste Gala auf dem Reeperbahn Festival

Vom Onyx Hotel, wo viele Business-Meetings stattfinden, eile ich einmal quer über die Reeperbahn zum Imperial Theater. In der plüschigen Spielstätte wird der Helga Award verliehen – ein Preis, der die Festivalkultur des Landes auszeichnet. Und der als die wahnwitzigste Gala des Reeperbahn Festivals gilt.

Reeperbahn Festival, Hamburg, Pop, Clubs, Helga Award, Festivals, Hamburger Kneipenchor, Biggy Pop Initiiert hat diese anarchisch inspirierte Sause der „Festivalguide“ des leider eingestellten Musikmagazins „Intro“. Aber der Helga Award wird fortbestehen, verkündet der einstige „Festivalguide“-Chefredakteur Carsten Schumacher von der Bühne aus. Gemeinsam mit dem hoch charmanten Entertainer Bernd Begemann moderiert er den Abend. Und ich darf eine Laudatio halten darf, worüber ich mich sehr freue.

Im Namen der famosen Initiative Oll Inklusiv, die Menschen 60+ in die Clubs dieser Stadt bringt, überreiche ich den Preis für das „aufregendste Festival für alte Menschen“. Oder, wie ich es nenne: das ollste dollste Festival. Zur Begrüßung auf der Bühne gibt es aber erst einmal ein Bier als Pausenbrot, das mir eine Hand aus einer Klappe reicht. Das nenne ich mal gastfreundlich.

Oll Inklusiv gratuliert dem A Summer’s Tale Festival

Es gewinnt das A Summer’s Tale, das seit vier Jahren in der Lüneburger Heide ein nachhaltig angelegtes Mehrgenerationen-Kulturprogramm bietet. Stephan Thanscheidt vom Veranstalter FKP Scorpio nimmt die lustig schwingende Helga-Trophäe (und eine Flasche Jägermeister) entgegen. Glückwünsch und Prost!

Zu den weiteren Gekürten zählen unter anderem das Watt En Schlick sowie das Dockville Festival, laudatiert von Helen Schepers von der Fahrradgarderobe. Zudem schmettert der Hamburger Kneipenchor unter Leitung von Stefan Waldow inbrünstig einige Lieder. Und unter immer lauter werdenden Helga-Rufen steuert diese etwas andere Award-Show dem großen Finale mit Gruppenfoto entgegen. Eine absolut glückselig machende Veranstaltung, die vor der Türe in anbrechender Dunkelheit weiter gefeiert wird.

Harte Tür bei den VUT Indie Awards

Ich verquatsche mich so schön, dass ich im Anschluss in die Verleihung der VUT Indie Awards im Schmidts Tivoli – trotz braver Anmeldung vorab – nicht mehr hineinkomme. Zu spät dran. Vermutlich sitzen dort all die betrunkenen Plattenbosse, von denen Linus gesprochen hat. Aber harte Tür ist nun mal harte Tür.

Apropos hart. Nachts texte ich wieder mit einer Freundin, die ebenfalls auf dem Reeperbahn Festival unterwegs ist. Und die ich bisher nicht getroffen habe, weil unsere Timetables zu unterschiedlich sind. Ihr Highlight des Tages: Gzuz von 187 Straßenbande am Kiosk stehen sehen. Mmh, diesen Programmpunkt habe ich gar nicht in der Festival-App gefunden. War bestimmt ein Secret Act.

Wie mein erster Tag auf dem Reeperbahn Festival 2018 verlief, lässt sich hier nachlesen.

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Dockville Festival 2018: Dream A Little Dream With Me

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Jedes Mal, wenn ich zu einem Festival fahre, so wie am Freitag zum nunmehr zwölften Dockville in Wilhelmsburg, frage ich mich, was mir der Besuch bringen mag. Was werde ich finden? Was treibt mich an? Die Liebe zur Musik und zu den Menschen, klar. Aber was ist mein Motor für genau diesen einzigen, nicht wiederkehrenden Tag?

Die Antwort erhalte ich, nachdem ich mein Rad bei der famosen Fahrradgarderobe abgegeben habe und Richtung Festivalgelände laufe. Auf dem Rücken der Jeansjacke einer jungen Frau vor mir steht in weiß gepinselten Lettern: „Follow Your Fucking Dreams“. Okay. Danke. Eine der schönsten und zugleich schwierigsten Aufgaben, die es im Leben zu absolvieren gilt, soll also mein Motto sein.

Art, Darko Caramello, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicFestivals sind verdichtete Message-Boards. Alle sind auf Sendung. Mit Sprüchen. Mit Outfits. Mit Expression. Und ich, ich folge nun also meinen verdammten Träumen.

Meine erste Station ist der Auftritt von Aroma, die am frühen Nachmittag die Vorschot-Bühne eröffnen. „Ganz schön undankbar, um diese Uhrzeit zu spielen“, sagt ein Typ in Lederjacke mit Blick auf die wenigen Menschen auf dem Platz. Aber er soll eines Besseren belehrt werden. Denn mit ihrem driftenden Mix aus Electro und Indierock, mit euphorischen Ansagen und einer starken Energie ziehen die Hamburger zusehends mehr Leute an.

Als würde Aroma all diese Farben vertonen

Diese Popband ist die erste, die beim Dockville 2018 alles anfacht. Das Träumen und das Tanzen. Etwa bei dem Mädchen, das einen Regenbogen auf ihr rechtes Schienbein gemalt hat. Als würde Aroma all diese Farben vertonen. Das Nichtgreifbare. Das transparent Schimmernde. Und ich, ich ziehe weiter, auf der Suche nach dem Schatz, nicht am Ende des Regenbogens, sondern mittendrin.

Elmar Karla, art, Dockville, Festival, Pop, Hamburg, MusicIch stoße auf Kunst, die das Dockville stets zu so viel mehr macht als einem reinen Pop-Event. Installationen und Interventionen, Street-Art und Malerei ziehen feine zusätzliche Ebenen durch das Festival, die die Seele animieren und das Hirn durchpusten. Beste Voraussetzungen zum Träumen also. Die bewegliche Skulptur des Künstlers Elmar Karla macht, neben ihrem haptischen Spielspaß, auch nachdenklich. In drei drehbaren Blöcken lassen sich Kopf, Rumpf und Beine von so unterschiedlichen Figuren wie Dagobert Duck, einer Amazone und einem Roboter nach Herzenslust kombinieren, so dass gepuzzelte Geschöpfe entstehen. Geremixte Identitäten sozusagen.

Ein Gorilla speit Seifenblasen

Create Your Own God“ heißt das variable Werk. Und als ich mich so auf dem ehemaligen Industriegelände umgucke, denke ich, dass viele Besucher bereits sehr gut darin sind, ihre eigenen Gottheiten zu erschaffen. Sie haben sich Festival-Totems gebastelt, die sie hochhalten und anbeten und umtanzen als Symbole von Freiheit und Fun. Ein Gorilla speit Seifenblasen. Ein Lama glitzert. Ein Regenschirm lässt Gold regnen.

Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicSie alle versammeln sich zu einer Messe nach der anderen. Zum Beispiel zum Auftritt von The Cool Quest aus den Niederlanden, die mit Beats und Groove, Rap und Irrwitz für reichlich Wallung sorgen. Besonders angetan bin ich, dass die Band den lange nicht gehörten Hit „Gypsy Woman (She’s Homeless)“ von Crystal Waters covert. Mit einem housigen „La Da Di Ladida“ im Kopf ziehe ich weiter und denke an erste Diskothekenbesuche. Träumen bedeutet mitunter eben auch, sich zu erinnern. Also quasi rückwärts zu träumen und die Bilder dann ins Heute zu holen.

Träumen darf nicht zielgerichtet sein. Zum Glück ist es der Matrix des Dockville immanent, dass sich die Gäste in dem Festival verlieren. Am besten funktioniert das im verwunschenen Wäldchen jenseits der Butterland-Bühne, von der das Pulsen und Pochen des Hamburger DJ-Kollektivs Tisko herüber weht. Ein perfekter Herzschlag-Soundtrack, um sich auf verschlungenen Pfaden zwischen hochgewachsenem Grün zu verquatschen, zu vergucken, zu verbummeln. Ein Holunderwunderland mit Bühnen und Bars, die es zu entdecken gilt. Ein Dancefloor, der von einem Smiley bewacht wird. Ein Wohnwagen, aus dem Lakritz fließt. Funkelnde Menschen lassen sich in Hängematten nieder und fletzen sich in Astgabelungen. Alice im Dockvilleland.

Das Dockville bietet Raum, sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben

Ich schaue mich um und denke: The Kids Are Alright. Sie sind bunt und divers, dick und dünn, merkwürdig und schön, groß und klein, aufgekratzt und überfordert, entspannt und neugierig. Sie tragen Wolfsmütze und Lorbeerkranz, pinke Kniestrümpfe und wüst gemusterte Overalls. Klar, die meisten besitzen einen erkennbaren Willen zur Hipness, dies aber eigen und sinnig. Und das Dockville bietet allen einen Raum, um sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben. Ein Traumbeschleuniger. Ein verantwortungsvoller zudem.

Auf dem Kreativmarkt sind zwischen feinen Illustrationen und „Anti-Nazi-Stickern“ auch Stände von Pro Familia sowie für einen kostenlosen Hörtest zu finden. Auf letzteren verzichte ich, da ich das Ergebnis fürchte, und lasse mich lieber kurz in den nächsten Rave hineinziehen, der vor der Nest-Bühne zum Set des Kollektivs Fischmarkt seinen Staub aufwirbelt. Ein Stampfen und Heulen. Wie ein Rudel auf der Jagd nach Nichts. Schön.

Jakobus Durstewitz, painting, harbour, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicTräumen heißt: loslassen. Nicht immer alles verstehen müssen. So wie bei der Grazer Band Granada, die mit verschwitztem Burschi-Charme auf der Grossschot-Bühne eine von Indierock befeuerte Party entfachen. Ich schnappe einzelne Versatzstücke auf, die nicht in Musik und Mundart untergehen: „Liebend gern bei Dir“, „Körperkultur“, „Scheiß Berlin“.

Mein Hirn versucht noch, sich eigene Geschichten zwischen diesen Worten auszudenken, als ich beim weiteren Stromern auf die Hütte von Jakobus Durstewitz stoße. Der Künstler malt die großformatigen Hafenlandschaften, die die Bühnen des Dockville farbenfroh flankieren. Während des Festivals arbeitet er live an (kleineren) Bildern. Und es ist eine kontemplative Freude, dem freundlichen Herren dabei zuzusehen, wie er besonnen Pinselstrich um Pinselstrich setzt. Leuchtend und melancholisch sind seine Hamburg-Panoramen, die er für 2019 in einem Kalender versammelt hat. Monat für Monat ein Stück Dockville-Bühne, zwölf Seiten Festival-Traum.

Chefboss schießt Blitze aus Gold mit Dancehall, Tanz und Abriss

Von dieser ruhigen Kraft tauche ich ein in eine wilde Performance. Und ich freue mich sehr, dass solche Kontraste auf so dichtem Raum möglich sind. Die Hamburger Formation Chefboss schießt Blitze aus Gold mit ihrer Show aus Dancehall, Tanz und Abriss.

Chefboss, Alice Martin, Maike Mohr, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicAlice Martin rappt so unmittelbar, als läge ihr Herz direkt auf der Straße. Und Maike Mohrs Moves sind getanztes Scratchen: geschmeidig, zuckend, jeden Beat verkörpernd. Die Menge tobt, Handtücher kreisen. „Ich liebe diese Energie. Die gibt’s nur in Hamburg City“, ruft Alice Martin. Und dann feuert Chefboss ihren aktuellen Hit ab: „Hol dein Freak raus“!

Schon wieder so eine Message, ein Motto, ein Auftrag. Aber das soll an einem anderen Tag geschehen. Das Träumen ist gerade so schön. „Let Me Dream While My Heart Is Large“.

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