Jedes Mal, wenn ich zu einem Festival fahre, so wie am Freitag zum nunmehr zwölften Dockville in Wilhelmsburg, frage ich mich, was mir der Besuch bringen mag. Was werde ich finden? Was treibt mich an? Die Liebe zur Musik und zu den Menschen, klar. Aber was ist mein Motor für genau diesen einzigen, nicht wiederkehrenden Tag?
Die Antwort erhalte ich, nachdem ich mein Rad bei der famosen Fahrradgarderobe abgegeben habe und Richtung Festivalgelände laufe. Auf dem Rücken der Jeansjacke einer jungen Frau vor mir steht in weiß gepinselten Lettern: „Follow Your Fucking Dreams“. Okay. Danke. Eine der schönsten und zugleich schwierigsten Aufgaben, die es im Leben zu absolvieren gilt, soll also mein Motto sein.
Festivals sind verdichtete Message-Boards. Alle sind auf Sendung. Mit Sprüchen. Mit Outfits. Mit Expression. Und ich, ich folge nun also meinen verdammten Träumen.
Meine erste Station ist der Auftritt von Aroma, die am frühen Nachmittag die Vorschot-Bühne eröffnen. „Ganz schön undankbar, um diese Uhrzeit zu spielen“, sagt ein Typ in Lederjacke mit Blick auf die wenigen Menschen auf dem Platz. Aber er soll eines Besseren belehrt werden. Denn mit ihrem driftenden Mix aus Electro und Indierock, mit euphorischen Ansagen und einer starken Energie ziehen die Hamburger zusehends mehr Leute an.
Als würde Aroma all diese Farben vertonen
Diese Popband ist die erste, die beim Dockville 2018 alles anfacht. Das Träumen und das Tanzen. Etwa bei dem Mädchen, das einen Regenbogen auf ihr rechtes Schienbein gemalt hat. Als würde Aroma all diese Farben vertonen. Das Nichtgreifbare. Das transparent Schimmernde. Und ich, ich ziehe weiter, auf der Suche nach dem Schatz, nicht am Ende des Regenbogens, sondern mittendrin.
Ich stoße auf Kunst, die das Dockville stets zu so viel mehr macht als einem reinen Pop-Event. Installationen und Interventionen, Street-Art und Malerei ziehen feine zusätzliche Ebenen durch das Festival, die die Seele animieren und das Hirn durchpusten. Beste Voraussetzungen zum Träumen also. Die bewegliche Skulptur des Künstlers Elmar Karla macht, neben ihrem haptischen Spielspaß, auch nachdenklich. In drei drehbaren Blöcken lassen sich Kopf, Rumpf und Beine von so unterschiedlichen Figuren wie Dagobert Duck, einer Amazone und einem Roboter nach Herzenslust kombinieren, so dass gepuzzelte Geschöpfe entstehen. Geremixte Identitäten sozusagen.
Ein Gorilla speit Seifenblasen
„Create Your Own God“ heißt das variable Werk. Und als ich mich so auf dem ehemaligen Industriegelände umgucke, denke ich, dass viele Besucher bereits sehr gut darin sind, ihre eigenen Gottheiten zu erschaffen. Sie haben sich Festival-Totems gebastelt, die sie hochhalten und anbeten und umtanzen als Symbole von Freiheit und Fun. Ein Gorilla speit Seifenblasen. Ein Lama glitzert. Ein Regenschirm lässt Gold regnen.
Sie alle versammeln sich zu einer Messe nach der anderen. Zum Beispiel zum Auftritt von The Cool Quest aus den Niederlanden, die mit Beats und Groove, Rap und Irrwitz für reichlich Wallung sorgen. Besonders angetan bin ich, dass die Band den lange nicht gehörten Hit „Gypsy Woman (She’s Homeless)“ von Crystal Waters covert. Mit einem housigen „La Da Di Ladida“ im Kopf ziehe ich weiter und denke an erste Diskothekenbesuche. Träumen bedeutet mitunter eben auch, sich zu erinnern. Also quasi rückwärts zu träumen und die Bilder dann ins Heute zu holen.
Träumen darf nicht zielgerichtet sein. Zum Glück ist es der Matrix des Dockville immanent, dass sich die Gäste in dem Festival verlieren. Am besten funktioniert das im verwunschenen Wäldchen jenseits der Butterland-Bühne, von der das Pulsen und Pochen des Hamburger DJ-Kollektivs Tisko herüber weht. Ein perfekter Herzschlag-Soundtrack, um sich auf verschlungenen Pfaden zwischen hochgewachsenem Grün zu verquatschen, zu vergucken, zu verbummeln. Ein Holunderwunderland mit Bühnen und Bars, die es zu entdecken gilt. Ein Dancefloor, der von einem Smiley bewacht wird. Ein Wohnwagen, aus dem Lakritz fließt. Funkelnde Menschen lassen sich in Hängematten nieder und fletzen sich in Astgabelungen. Alice im Dockvilleland.
Das Dockville bietet Raum, sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben
Ich schaue mich um und denke: The Kids Are Alright. Sie sind bunt und divers, dick und dünn, merkwürdig und schön, groß und klein, aufgekratzt und überfordert, entspannt und neugierig. Sie tragen Wolfsmütze und Lorbeerkranz, pinke Kniestrümpfe und wüst gemusterte Overalls. Klar, die meisten besitzen einen erkennbaren Willen zur Hipness, dies aber eigen und sinnig. Und das Dockville bietet allen einen Raum, um sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben. Ein Traumbeschleuniger. Ein verantwortungsvoller zudem.
Auf dem Kreativmarkt sind zwischen feinen Illustrationen und „Anti-Nazi-Stickern“ auch Stände von Pro Familia sowie für einen kostenlosen Hörtest zu finden. Auf letzteren verzichte ich, da ich das Ergebnis fürchte, und lasse mich lieber kurz in den nächsten Rave hineinziehen, der vor der Nest-Bühne zum Set des Kollektivs Fischmarkt seinen Staub aufwirbelt. Ein Stampfen und Heulen. Wie ein Rudel auf der Jagd nach Nichts. Schön.
Träumen heißt: loslassen. Nicht immer alles verstehen müssen. So wie bei der Grazer Band Granada, die mit verschwitztem Burschi-Charme auf der Grossschot-Bühne eine von Indierock befeuerte Party entfachen. Ich schnappe einzelne Versatzstücke auf, die nicht in Musik und Mundart untergehen: „Liebend gern bei Dir“, „Körperkultur“, „Scheiß Berlin“.
Mein Hirn versucht noch, sich eigene Geschichten zwischen diesen Worten auszudenken, als ich beim weiteren Stromern auf die Hütte von Jakobus Durstewitz stoße. Der Künstler malt die großformatigen Hafenlandschaften, die die Bühnen des Dockville farbenfroh flankieren. Während des Festivals arbeitet er live an (kleineren) Bildern. Und es ist eine kontemplative Freude, dem freundlichen Herren dabei zuzusehen, wie er besonnen Pinselstrich um Pinselstrich setzt. Leuchtend und melancholisch sind seine Hamburg-Panoramen, die er für 2019 in einem Kalender versammelt hat. Monat für Monat ein Stück Dockville-Bühne, zwölf Seiten Festival-Traum.
Chefboss schießt Blitze aus Gold mit Dancehall, Tanz und Abriss
Von dieser ruhigen Kraft tauche ich ein in eine wilde Performance. Und ich freue mich sehr, dass solche Kontraste auf so dichtem Raum möglich sind. Die Hamburger Formation Chefboss schießt Blitze aus Gold mit ihrer Show aus Dancehall, Tanz und Abriss.
Alice Martin rappt so unmittelbar, als läge ihr Herz direkt auf der Straße. Und Maike Mohrs Moves sind getanztes Scratchen: geschmeidig, zuckend, jeden Beat verkörpernd. Die Menge tobt, Handtücher kreisen. „Ich liebe diese Energie. Die gibt’s nur in Hamburg City“, ruft Alice Martin. Und dann feuert Chefboss ihren aktuellen Hit ab: „Hol dein Freak raus“!
Schon wieder so eine Message, ein Motto, ein Auftrag. Aber das soll an einem anderen Tag geschehen. Das Träumen ist gerade so schön. „Let Me Dream While My Heart Is Large“.