Für mich gehören zum popkulturellen Leben unbedingt Offspaces, Freiräume sowie um- und zwischengenutzte Orte. Denn an diesen Locations kann ein frei- wie eigensinniger Geist besser wehen als an durch und durch fest interpretierten Stätten. In Hamburg denke ich da etwa an das Gängeviertel, die Viktoria-Kaserne, die gerade wieder in die Saison startenden Hallo Festspiele im Kraftwerk Bille sowie an die Zinnwerke in Wilhelmsburg und den Otzenbunker auf St. Pauli. Letztere kämpfen gerade auf ganz unterschiedlichen Ebenen um ihre Zukunft.
Während der ersten Tage unseres Arbeitswohnprojekts in Brüssel las ich von einem aktuell bespielten Ort im Transit — dem Kanal Centre Pompidou. Und so begebe ich mich von unserer belgischen Fabriketage in ein wesentlich größeres industrielles Ambiente.
Das Kanal Centre Pompidou erstreckt sich auf gut 35.000 Quadratmetern in einer ehemaligen Citroën-Garage nordwestlich der City — malerisch rau gelegen am Kanal zwischen den Stadtteilen Schaerbeek, Laken und Molenbeek. Der französische Automobilhersteller nutzte die Hallen seit Mitte der 1930er-Jahre als Showroom sowie als Werkstätten. Ende 2017 schloss der Betrieb und die Region Brüssel kaufte das Areal für gut 20 Millionen Euro.
Langfristiges Ziel ist es, das Gebäude in ein interaktives und multifunktionales Kulturzentrum umzugestalten. Mit einem Museum für zeitgenössische belgische Kunst, einem Architekturzentrum samt Bibliothek, zudem einem Theater sowie Platz für Tanz, Inszenierungen, Konzerte und großformatige Installationen sowie pädagogische Aktivitäten. 125 Millionen Euro möchte die Region Brüssel investieren. Die Eröffnung ist für das Jahr 2023 geplant.
Allianz mit dem Centre Pompidou in Paris in der Diskussion
Bevor im Sommer die Umbauarbeiten beginnen, hat die Region Brüssel eine Zwischennutzung installiert. Eine Interimsausstellung, eben das Kanal Centre Pompidou, das vom 5. Mai 2018 bis zum 10. Juni 2019 zugänglich ist. Zu sehen und zu erleben sind Performances, eine öffentliche Filmwerkstatt von Regisseur Michel Gondry sowie einige eigens für den Ort entstandene Arbeiten, unter anderem von belgischen Designern. Hauptsächlich zeigt die weitläufige Schau jedoch Werke, die aus dem Centre Pompidou in Paris entliehen sind. Daher der Name. Diese Allianz wird — zurecht, wie ich finde — heftig diskutiert. Wäre solch eine Transferphase doch eine spannende Chance für lokale und noch unbekannte Künstler, sich auszuprobieren.
Andererseits finde ich es natürlich toll, dass die Regierung diese zentral gelegene Immobilie nicht für das nächste Shoppingzentrum oder Bürogebäude freigibt. Stattdessen wird Geld in die Hand genommen, um das historische Erbe des modernistischen Baus zu wahren und den Ort in eine Art offene Kulturstadt umzuwidmen. Zudem, so erfahre ich bei einer detaillierten Führung, bestehen zahlreiche Kooperationen in die Nachbarschaft und in die Stadt hinein, um die Bürger an der Entwicklung zu beteiligen. So existiert zum Beispiel ein Programm für Schulklassen im nahe gelegenen Molenbeek.
Das Kanal Centre Pompidou und die Spuren der Vergangenheit
Mich fasziniert beim Eintreten in das Kanal Centre Pompidou direkt die Weite der Hallen. Und die Tatsache, dass nach dem Auszug von Citroën nichts renoviert wurde. Überall finden sich Spuren der einstigen Bestimmung dieses Ortes. Und im Eingangsbereich erinnert eine mechanische Skulptur von Jean Tinguely direkt an die industrielle Vergangenheit. Alle paar Minuten setzt sich ein schrottreife Ansammlung an Kuriositäten schnarrend und ächzend in Gang.
Ich finde es äußerst gelungen, dass zahlreiche der Exponate so ausgewählt wurden, dass sie mit dem Gebäude korrespondieren. In einer der Hallen etwa stehen Werke des Minimalismus und Konstruktivismus in wechselvollem Verhältnis zu den Verstrebungen der tragenden Gerüste. So zum Beispiel „Fünf offene Würfel in Form eines Kreuzes“ des US-Amerikaners Sol LeWitt, dem Gründer der Konzeptkunst (1928-2007).
Andere Arbeiten im Kanal Centre Pompidou hinterfragen die Funktion von Architektur an sich. So wie „Pao II — A Dwelling for the Tokyo Nomad Woman“ der Japanerin Toyo Ito. Zwischen zwei Ebenen der Halle schwebt ein transparentes Zelt, das mit Basics wie Liege, Garderobe, Tisch und Stühlen möbliert ist. Ausgehend von den beengten Wohnverhältnissen in ihrer Heimat sowie der erhöhten Flexibilität einer globalisierten Menschheit regt die Künstlerin mit dieser Installation zum Nachdenken an, ob feste Behausungen überhaupt noch zeitgemäß seien.
Interessant ist, dass im Kanal Centre Pompidou zahlreiche Skulpturen und viel Videokunst ausgestellt werden, jedoch keine Gemälde. Grund dafür ist schlicht und ergreifend, dass die Hallen größtenteils weder beheizt noch isoliert sind, so dass die Kunst sommerlicher Hitze ebenso standhalten muss wie winterlichem Frost.
Sich verlieren und John Malkovich sein
Sehr gut gefällt mir das Motto, das in großen Lettern auf dem Faltplan des Kanal Centre Pompidou zu lesen ist: Perdez-Vous. Lose yourself. Ich liebe es in Brüssel ja ohnehin, mich bei meinen Stadtspaziergängen in den Straßen zu verlieren. Und nun werde ich in dieser Industrieanlage sogar noch explizit dazu aufgefordert. Sehr schön. So geht es Fahrbahnschrägen hinauf und hinunter sowie kreuz und quer über die Betonflächen.
Der Weg zu den ehemaligen Umkleiden der Angestellten ist kaum zu finden, geht es doch gebückt durch einen halb hohen Durchlass. Wie bei der siebeneinhalbten Etage im Film „Being John Malkovich“. Der Künstler Younes Baba-Ali — in Marokko geboren, heute zwischen Brüssel und Casablanca pendelnd — hat eine Installation geschaffen, die das frühere Leben in der spröden Garderobe auf geisterhafte Art nachhallen lässt.
Einige Türen der metallenen Spinde hat er mit Motoren versehen, so dass sie sich wie unsichtbar hin- und herbewegen. Das Quietschen der alten Scharniere erzeugt einen dissonanten Singsang, der jedem Horrorfilm zugute käme. Eine tolle Auseinandersetzung mit dem kollektiven Gedächtnis und der transformativen Dynamik des Ortes.
Ein Architekturwettbewerb und Budgetüberschreitungen
Die Verknüpfung der einstigen Auto-Garage mit der Kunst im Kanal Centre Pompidou symbolisiert eine Arbeit von Gabriel Orozco perfekt. Der mexikanische Konzeptkünstler hat mit „La DS“ eine komprimierte Version eines Citroën geschaffen, womit er die Gesetze von Massenproduktion und Funktionalität kommentiert und ironisiert.
Im ehemaligen Citroën-Showroom wird ebenfalls der Architekturwettbewerb dokumentiert, den die Region Brüssel für die künftige Umgestaltung der Garage ausgeschrieben hatte.
Zu sehen ist auch das Gewinnermodell mit dem Titel „Eine Bühne für Brüssel“, das von einem Zusammenschluss aus Brüsseler, Schweizer und Londoner Architekten eingereicht worden war. Der Siegerentwurf überschreitet das anvisierte Budget von 125 Millionen Euro bereits um 25 Millionen Euro. Kommt mir als Hamburgerin bekannt vor, derlei Kostensteigerungen bei Bauvorhaben. Ich bin jedenfalls gespannt, wie diese Kulturstadt aussehen wird, wenn sie fertig ist. Denn eines steht nach zwei Wochen in der belgischen Hauptstadt bereits fest: Da ich völlig zum Brüssel-Fan geworden bin, werde ich gewiss wiederkommen.