Musik, Reflexion und Neustarts im Herbst

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In den vergangenen Wochen ist es ein wenig ruhiger zugegangen auf diesem Blog über Musik in Hamburg. Das liegt zum einen daran, dass ich viel gearbeitet und organisiert, mich engagiert und Kontakte gepflegt habe. Zum anderen habe ich nach gut einem Jahr Selbstständigkeit und Bloggen das Bedürfnis, innere Einkehr zu halten. Zu reflektieren und Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Begünstigt wird dieser Prozess, diese Gär- und Entwicklungsphase, durch die Jahreszeit. Ich liebe den Herbst, da er einerseits die Seele durchpustet und andererseits im Dunklen alles mehr zur Ruhe kommt. 

Diese beiden Seiten spiegeln sich bei mir aktuell auch im Musikhören wider. Ich genieße es zum Beispiel außerordentlich, mich bei einem Festival wie dem Molotow Cocktail mit neuer lauter und wilder Musik aus Hamburg vollzusaugen. Umgehauen hat mich etwa eine Band wie Glue Teeth, die ihren intensiven Mix aus Hardcore und Postpunk bis in die letzte Faser hinein zelebriert. Und ein großes Lob geht wie immer an das Molotow selbst, das einem ermöglicht, soviel positives Brodeln aus dieser Stadt live zu erleben. 

Der Soundtrack, um die Gedanken zu sortieren

Joshua Radin, Albumcover, Musik, Singersongwriter, record, Here Right NowZuhause höre ich momentan wiederum viel leise aufspielende Musikerinnen und Musiker. Ich brauche einen ruhigeren Soundtrack, um meine Gedanken zu sortieren. Um noch stärker zu sondieren, wohin die Reise gehen soll. Und um all diese Anregungen und Ziele aufzuschreiben. 

Seit einigen Wochen auf Dauerrotation ist zum Beispiel der US-amerikanische Singersongwriter Joshua Radin mit seinem sachte gepickten Gitarrenspiel auf „Here, Right Now“. Auch der berückende Pianopop von June Cocó hat eine feine anregende Wirkung. Ihr neues Album „Fantasies & Fine Lines“ erreichte mich bereits vor einigen Wochen. Und ich freue mich schon sehr auf ihr Releasekonzert am Freitag in der Hebebühne in Altona. 

Improvisation von Sofia Härdig und Inspiration von Anna Ternheim

Zum Glück kommt auch beruflich derzeit viel Musik zu mir, die meinem November-Gefühl entspricht. Die also diese Mischung aus Bilanzieren und Aufbrechen unterstützt. Für das Visions-Magazin habe ich beispielsweise das frei atmende Artrockwerk „This Big Hush“ der Schwedin Sofia Härdig besprochen. Eine Platte, die überdeutlich macht, wie wichtig Improvisation ist. Wie gut das Leben klingt, wenn neue Impulse hineinwehen dürfen. 

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Anna Ternheim, fotografiert von Chris Shonting

Sehr prägend war für mich in den vergangenen Wochen auch das Album „A Space For Lost Time“ von Anna Ternheim. Für die Radiosendung NDR Nachtclub Überpop habe ich die schwedische Musikerin in Berlin zum Interview getroffen. Für mich ist es eine große Inspiration, wie offen Anna Ternheim über ihre Lyrics, über Liebe und Tod, Ängste und Selbstverantwortung spricht. 

20 Pfund an Angst verloren

Mit dem Titel „A Space For Lost Time“, so erzählte Anna Ternheim, möchte sie einen inneren Raum eröffnen, wo jede und jeder das Gefühl bekommt, dass Dinge möglich sind. Dass wir neue Entscheidungen treffen können. Dass es nicht zu spät ist. Und dass man verpasste Chancen auch nachholen kann. Vielleicht ist das einfach eine Frage der inneren Haltung, des State Of Mind, sagte sie. 

Es sei nicht einfach aus der Komfortzone herauszutreten. Aber Anna Ternheim habe persönlich das Gefühl: Jedes Mal, wenn sie diesen Schritt gewagt hat, sei sie belohnt worden. Ob sie nun eine Beziehung beendete, die zu nichts geführt hat. Oder ob sie etwas unternommen hat, von dem ihr alle abgeraten haben. Jedes Mal, wenn sie etwas getan hat, was sie für wichtig hielt, obwohl es hart und anstrengend war, sei sie mit einem guten Gefühl belohnt worden. Sie könne dann wieder atmen. Als ob sie 20 Pfund an Angst verloren habe.

Anna Ternheim erklärte dann noch: Die Art und Weise, wie wir einen beherzten, verändernden Schritt das eine Mal gegangen sind, bedeutet nicht, dass wir ein für alle mal herausgefunden haben, wie das Ganze funktioniert. Diese fortwährende Suche nicht schleifen zu lassen, sondern mutig und neugierig zu bleiben, finde ich sehr erstrebenswert. Deswegen habe ich mich in der jüngeren Vergangenheit besonders gerne mit Neustarts beschäftigt.

Zu Gast bei Say Say: Neustart mit Hip-Hop

Say Say, Soulful Hiphop radio, Hamburg, radio, Host, Freddy Staudacher, Morning Show, MusikIch war zum Beispiel zu Gast in der Morningshow von Say Say, einem Hamburger Webradio für soulful Hip-Hop. Moderator Freddy Staudacher hat seinen Sender im Frühjahr 2018 gegründet, nachdem er Jahre lang als gut verdienender Businessanwalt gearbeitet hatte. Wer ihn im entspannten Flow an Mikro und Plattenspielern erlebt, der merkt schnell, dass seine Umorientierung hin zur Musik genau richtig war.

Im Studio auf Kampnagel habe ich eine Stunde lang über meinen eigenen journalistischen Werdegang, über meine musikalische Sozialisation und übers Auflegen auf der Barkasse Frau Hedi gesprochen. Und wir haben von mir mitgebrachtes Vinyl gespielt — von Aretha Franklins „Don’t Go Breaking My Heart“ bis zu Bobby Hebbs „Sunny“, von der Rock Steady Crew über Lauryn Hill und Charles Bradley bis zu Mary J Blige.

Der Hamburger Musikpreis, verschlankt am Start

Neu aufgestellt hat sich auch der Hamburger Musikpreis, ehemals Hans genannt. Vergeben wird die Auszeichnung von der Interessengemeinschaft Hamburger Musikwirtschaft, kurz IHM. Nach einer Pause im vergangenen Jahr ging der Hamburger Musikpreis nun mit fünf Kategorien neu und verschlankt an den Start. Im Vordergrund standen die nominierten Newcomer, die bei der Verleihung im Mojo Club auch alle drei auftraten. Elaborierter hypnotischer Rock von Monako, Gesamtkunstwerk-Electropop von Kuoko und wütend-feministischer Hip-Hop von One Mother, die letztlich auch das Preisgeld von 5000 Euro mit nachhause nahmen.

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One Mother beim Hamburger Musikpreis, fotografiert von Thomas Ertmer

In diesem Jahr war ich Teil der Jury. In meinem Blogpost über das Landesrockfestival in Rostock hatte ich bereits geschildert, wie gerne ich mit anderen passioniert über Musik spreche. Das war auch in der aktuellen Hamburger Runde der Fall. Einfach fielen die finalen Entscheidungen für den Hamburger Musikpreis allerdings nicht.

Unsere langen Vorschlagslisten galt es auf drei Nominierte pro Kategorie einzudampfen. Und viele Herzblutfavoriten blieben dabei auf der Strecke. Natürlich lässt sich dementsprechend immer über den Sinn und Zweck von Preisen an sich streiten. Aber Streit ist ja eben auch: Austausch, Dialog, Kommunikation. Und all das gab es auch nach der offiziellen Verleihung im Mojo reichlich.

Pop, Präsenz, Polarisierung

Die Reaktionen auf Preis und Veranstaltung reichten von schlimm bis klasse. Ein gehörig polarisierendes Spektrum. Manche monierten hakende Einspieler, abwesende Künstler und ein wenig lokalpatriotisches Moderatorenduo (aus Köln). Manche hätten sich mehr Pop-Präsenz gewünscht. Und mehr Aufmerksamkeit beim anwesenden Branchenpublikum. Andere lobten den anarchischen Charme der Gala. Und wieder andere freuten sich, dass ansonsten weniger sichtbare Acts und innovative Projekte gewonnen haben.

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Kuoko beim Hamburger Musikpreis, fotografiert von Thomas Ertmer

Das Kollektiv EQ Booking, das sich für Diversität im Musikbusiness einsetzt, erhielt den Preis in der Kategorie „Beste Freunde“. Das stetig wachsende Netzwerk musikHHwomen wurde als Initiative des Jahres geehrt. Und Künstler des Jahres wurde der geschmeidig brummkreiselnde Musiker Carsten Erobique Meyer. Die Kollegin Nele Hinner hat für den Musikblog Soundkartell einen ausführlichen Rückblick über den Abend geschrieben.

Lieblingslieder brauchen Freiräume

Zum Lieblingslied 2019 kürte die Jury Deichkinds „Richtig gutes Zeug“. Ich durfte die Laudatio in dieser Kategorie halten. Besonders wichtig war mir zu betonen: Solch ein Hit, solch ein Krachersong, der alle anderen zu überragen scheint, ist definitiv kein One-Hit-Wonder. Sprich: Solche Nummern entstehen nicht aus dem Nichts. Wer ein Lieblingslied schreibt, hat in der Regel schon zahlreiche andere Lieder geschrieben. Es bedarf also Herzblut, Know-how, Zeit und auch Zweifel, um ein Lieblingslied zu schreiben. Und: Freiräume. Wir in Hamburg müssen immer wieder darauf achten, dass diese erhalten bleiben, wachsen und gedeihen.

Damit das kreative Brodeln und Gären weitergehen kann. Damit die Musik weiter spielt. Damit wir uns entwickeln können.

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Reeperbahn Festival — Fazit 2019: Lasst uns reden

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Vier Tage Reeperbahn Festival sind vorüber. Und all die erlebten Konzerte, aber vor allem all die Begegnungen rotieren in mir. Bei der 14. Ausgabe der stetig wachsenden Hamburger Clubsause ging es für mich diesmal vor allem um eines: Kommunikation. Wenn, wie in diesem Jahr, mehr als 50.000 Popfans und darunter 5900 Konferenzteilnehmer zu Konzerten, Kunstprogramm und Diskussionsrunden zusammenkommen, stellt sich ganz automatisch die Frage: Wie tauschen sich all diese Menschen aus?

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Reeperbahn Festival Village, fotografiert von Dario Dumancic (Titelbild von Stephan Wallocha)

Der Einstieg in diese gesprächsintensive Welt namens Reeperbahn Festival war für mich ein Termin, der gar nicht auf dem offiziellen Programm stand: das Nett-Working des Labels Euphorie, der Booking-Agentur Koralle Blau, des Clubs Uebel & Gefährlich sowie weiterer blitzgescheiter Musikakteure aus Hamburg. Was kann einer Großveranstaltung eigentlich Besseres passieren, als dass sich die wirklich coolen Kids an die Sache ranhängen? Solche Off-Aktionen adeln meiner Ansicht nach jedes Mainstream-Event. 

Reeperbahn Festival: vieles in Bewegung gekommen

Das Nett-Working-Team hatte im Guerilla-Style vor den Kiosk an der Reeperbahn Nr. 5 geladen. Als ich dort am frühen Nachmittag ankam, war der Bürgersteig bereits voller munter plaudernder Leute. Ich brauche immer einen Moment, um mich an solch große Ansammlungen zu gewöhnen. Aber die Gastgeber haben alle Eintreffenden so herzlich willkommen geheißen, dass der Übergang wirklich leicht fiel. Das ist für mich eine enorme Qualität: Kontakt aufbauen. Einander wirklich wahrnehmen. Menschen in Verbindung bringen. Und dann war da noch: Sonne. Ein erstes Alster. Und ein zweites. Offene Gesichter. Und sehr lustige Unterhaltungen.

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Neu im Festival Village: die tolle Skate-Disco im Autoscooter vom Rollerskate Jam, fotografiert von Lisa Meinen

Für mich ist bei diesem Reeperbahn Festival vieles in Bewegung gekommen. Sowohl persönlich als auch inhaltlich. Den größten Einfluss hatte meiner Ansicht nach die internationale Initiative Keychange, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt: Bis 2022 sollen ebenso viele weibliche, trans- und non-binäre Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen musizieren, singen, reden, ausrasten und sich zeigen wie Männer.

Keychange und die Folgen

Aus verschiedenen Gründen stand ich einer Quotenregelung lange Zeit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Geht es nicht um die Musik an sich, unabhängig von wem sie kommt? Und liefert eine 50/50-Regelung nicht all den Gestrigen noch mehr Argumente, dass eine Frau dann eben nur aufgrund der Statistik und nicht wegen ihrer Qualifikation dort steht, spielt, spricht? 

Wie sich das Reeperbahn Festival in den vergangenen Jahren entwickelt hat, ist jedoch ein äußerst gutes Beispiel dafür, dass eine Quote zu Hundert Prozent sinnvoll ist als Übergangslösung hin zu einer ganz selbstverständlichen Gleichberechtigung. Was für ein Segen, wenn sich Pop derart ausdrücklich mit gesellschaftlich wichtigen Prozessen verbindet. Mich persönlich hat es extrem inspiriert, bei der Eröffnungsveranstaltung engagierte und empathische Ladies wie Charlotte Roche, Peaches und Kate Nash zu erleben. Der Tonfall ändert sich. Die Themen ebenso. Auch in all den Gesprächen, die ich im Laufe des Reeperbahn Festivals geführt habe. 

Der Festival Award Helga: vehementes Querdenkertum

Noch nie habe ich mich in so kurzer Zeit mit so vielen verschiedenen Menschen geballt  und kontrovers über Gleichberechtigung ausgetauscht: Wie überfällig dieser Ausgleich ist. Wie sich Männer in dieser Bewegung positionieren. Und dass „Frauenmusik“ bitte ein für allemal wirklich kein eigenes Genre ist. The times they are a-changin’. Und wie das nun mal so ist bei aufbrechenden Strukturen: Die Kommunikation gestaltet sich in diesem Prozess mitunter ebenfalls durchaus eruptiv. Zu erleben war das unter anderem bei der Verleihung des Festival-Awards Helga am Donnerstag im Imperial Theater. 

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Carsten Schumacher und Bernd Begemann moderierten im Imperial Theater den Helga Award

Ich war in diesem Jahr Teil der Jury für die Kategorie „Inspirierendste Festivalidee“. Gewonnen hat das alínæ lumr, das in der ostdeutschen Provinz mit einem bunt-diversen Programm gegen kulturelle Ödnis und braune Versumpfung ansteuert. Das vehemente Querdenkertum des alínæ lumr-Teams zeigte sich auf der Bühne überdeutlich: Jene, die den Preis entgegennahmen, merkten mit Nachdruck an, dass doch zwei Frauen im nächsten Jahr den Award moderieren könnten. Die beiden Gastgeber Carsten Schumacher und Bernd Begemann, die den Helga auch in diesem Jahr mit gewohnt anarchischer Euphorie angeschoben haben, reagierten erst einmal sichtlich und hörbar verdutzt. Keine angenehme Situation.  

Mir erschien das ganze Szenario wie eine Familienfeier, bei der einiges Ungesagte auf den Tisch kommt: Das anfangs gut gelaunte Fest kippt in den Konflikt, geht aber dennoch weiter. Ob Provokation das Mittel der Wahl sein muss, sei dahingestellt. Und vor allem der teils harsche Tonfall hat mich noch nachdenklicher gestimmt, wie Menschen miteinander umgehen. Und inwiefern die Aggressivität so mancher Diskussion in den sozialen Medien auch vor der eigenen Filterblase sowie dem realen Leben nicht halt macht. Aber langfristig betrachtet kann durch das Tohuwabohu bei den Helga Awards ja durchaus eine konstruktive Kraft entstehen. Ich bin gespannt darauf. 

Bausa statt Foals: Die Schonfrist ist vorbei

Kommunikation kann immer wieder auch schief laufen. Gerade, wenn so viele unterschiedliche Akteure beteiligt sind. So rief es enorme Verwunderung hervor, dass auf der Warner-Nacht am Freitag nach dem krankheitsbedingten Ausfall der Band Foals als Ersatz der Rapper Bausa auftrat. Dessen teils heftig sexistische sowie homophobe Texte laufen der Botschaft der Keychange-Initiative diametral entgegen. Die Kollegen von Kaput — Magazin für Insolvenz und Pop haben auf Facebook eine Aussage des Reeperbahn Festivals veröffentlicht. Das Festival-Team erklärt: Sie halten es für einen Fehler, dass Bausa in der Warner Music Night auftritt. 

Das Statement besagt weiter: „Bausa wurde von Warner Music nach der kurzfristigen Absage der Indie-Band Foals ohne Rücksprache mit uns oder dem Team des Docks als Spielstätte nachträglich in das Line-Up der Warner Music Night genommen. In der vergangenen 14-jährigen engen Zusammenarbeit mit Warner Music wurden wir bislang in die Auswahl aller Künstler*innen einbezogen. Eine Vorgehensweise wie diese hätten wir uns trotz der Kurzfristigkeit auch für diesen Künstler gewünscht.“ Dass sich das Reeperbahn Festival derart ausdrücklich gegenüber einem Majorlabel und wichtigen Partner positioniert, finde ich überraschend — und stark. Die Schonfrist ist definitiv vorbei.

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Clubkultur als Basis: „Molotow must stay“

All diese Prozesse können auf dem Reeperbahn Festival jedoch nur in Gang kommen mit all den grandios arbeitenden Clubs als Grundlage. Das Molotow wählte seine ganz eigene Art der Kommunikation: über Buttons und Aufkleber, die das Team eifrig verteilte. Leider ist der Slogan „Molotow must stay“, der während der Diskussion um die Esso-Häuser entstand, auch am Standort Nobistor wieder aktuell. Steigende Mieten bedeuten eine extrem unsichere Zukunft für das weit über Hamburg hinaus bekannte Zuhause von Indie und Rock. 

Was tun? Das Molotow selbst empfiehlt zunächst: „Geht mehr auf Konzerte. Kauft Merch und versucht so, eine vielfältige Clubkultur am Leben zu erhalten. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Molotow, sondern für alle Subkultur-Clubs, die aktive Newcomer-Förderung und spannende Programme abseits des Mainstreams auf die Beine stellen.“ Denn im Endeffekt sind mit dem (nach wie vor) vielfältigen Programm in Hamburg jeden Tag Entdeckungen wie auf dem Reeperbahn Festival zu machen.

Welche Band fandest Du am besten — und warum?

Das ist natürlich integraler Bestandteil des Reeperbahn Festivals: All die Gespräche mit Freunden über Musik. Welche Band fandest Du am besten — und warum? Mich haben unter anderem die Niederländer Feng Suave mit ihrem traumwandlerischen Softrock fasziniert: Die Band spielte ihre Instrumente einfach mit einer unglaublich feinsinnigen Chemie. Wie beglückend sich Stimmen ineinander verweben und aneinander reiben können, durfte ich bei Ider im Häkken erleben. Und der Australier Dobby hat mit seinem frischen Old-School-Rap einfach extrem toll mit dem Publikum kommuniziert. Flow auf und vor der Bühne.

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Dobby in der Molotow Skybar

Das Reeperbahn Festival ist ein Driften durch musikalische und emotionale Zustände. Dahinschmelzen bei Celeste im Imperial Theater. Weinen bei Anna Ternheim in der Elbphilharmonie. Staunen bei The Hormones im Nochtspeicher. Und Ausrasten zu Rebecca Lou im Indra. 

Anna Ternheim, Kaiser Quartett, Elbphilharmonie
Anna Ternheim und das Kaiser Quartett in der Elbphilharmonie, fotografiert von Florian Trykowski

Panels moderieren: „30 Years Of Wacken“

Am Donnerstag habe ich dann zum ersten Mal den Seitenwechsel vollzogen und saß selbst auf der Bühne, um zwei Panels zu moderieren. Und, was soll ich sagen: Es hat unfassbar viel Spaß gemacht. Mit den Festivalgründern Thomas Jensen und Holger Hübner sprach ich im gut gefüllten Schmidtchen über „30 Years Of Wacken“. Mich beeindruckt immer wieder, wenn Menschen mit einer gewissen Punk-Attitüde mit Projekten anfangen und diese dann leidenschaftsgetrieben wachsen. Dieses Machen und Tun, so erzählte Holger, sei nach wie vor das beste Prinzip. Sprich: Planen und Reflektieren gehören natürlich dazu, aber letztlich muss irgendwann das Ausprobieren folgen. 

Das Gespräch habe ich nicht alleine geführt, sondern gemeinsam mit Jon Chapple vom britischen Musikbusinessmagazin IQ. Und das ist ein weiterer Effekt des Reeperbahn Festivals und seiner angegliederten Konferenz: Fachleute aus der ganzen Welt kommen zusammen, reden miteinander, arbeiten gemeinsam. Besonders gefreut hat mich, dass Jon beim International Music Journalism Award des Reeperbahn Festivals zum besten Musikbusinessjournalisten gekürt wurde. Herzlichen Glückwunsch!

Session zu Online-Marketing von Live Events

Mein zweites Panel in einer Suite des Onyx Hotels drehte sich um „Concerts, Content & Communication“, also um Strategien in der digitalen Kommunikation und im Online-Marketing von Live Events. In die Runde konnte ich auch diverse Anregungen aus der Music Business Summer School einbringen, die dem Reeperbahn Festival vorgelagert ist. Ich bin nach wie vor begeistert, wie klug das Konferenz-Team das Panel zusammengestellt hat. 

Meine Fragen gingen an Festival-Profi András Berta aus Ungarn, PR-Stratege Thomas Bohnet aus München und Marketing-Experte Moritz Bremer von Neuland Concerts. Eine beruhigende Erkenntnis aus der Session kam von András: Trotz all der Datenanalyse im Online-Bereich sei die Kommunikation im Live-Bereich nach wie vor ein People’s Business. Sprich: Reden hilft nach wie vor. Thank god!

Magische Momente mit Peaches, Kate Nash und Alyona Alyona

Und dann gab es beim Reeperbahn Festival noch diese magischen Momente, die das Zwischenmenschliche feiern. Jede und jeder wird da seine ganz eigene Geschichte erzählen können. Für mich war es der Moment, als die Jury beim Anchor Award gemeinsam Bowies „Moonage Daydream“ spielte — und Peaches zusammen mit Kate Nash auf einmal ins Publikum stürmte.

Peaches, Anchor Award
Peaches beim Anchor Award, fotografiert von Nadine Wenzlick

Die beiden suchten sich ausgerechnet unsere Sitzreihe aus, um mitten in der Menge ein Arme wedelndes Happening zu starten. Als Peaches auf mich zukam, fühlte ich mich wie ein fünfjähriges Kind, an dessen Geburtstag gerade eine riesige tolle Torte hereingetragen wird. Als sie dann direkt neben mir zur Party animierte, schwankte meine Mimik munter zwischen OMG OMG OMG und Honigkuchenpferdgrinsen. 

Und das Empowerment riss nicht ab: Die ukrainische Rapperin Alyona Alyona gewann den Anchor Award. Eine Persönlichkeit, die im positiven Sinne mehrfach Grenzen überschreitet. Die mit ihren Lyrics nicht auf Nummer sicher geht. Und gerade deshalb zum Austausch anregt. Also: Lasst uns weiter reden. Und natürlich Musik hören. 

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Alyona Alyona meets Biggy Pop, fotografiert von Anne Kleinfeld

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Zum Weiterlesen mein Blick aufs vergangene Jahr:

Reeperbahn Festival 2018, Tag 4 – Finale und Fazit

Die Höchste Eisenbahn: Pop und Pasta im Molotow

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Es gibt Bands, die strahlen eine große Wärme und Offenheit aus. Etwa, wenn sie singen: „Ich will das Leben / und ich will, dass es mich will“. Zu erleben ist das ganz konkret vor einigen Tagen im Molotow. Die Höchste Eisenbahn aus Berlin hat zum Konzert nach St. Pauli gebeten, um die Veröffentlichung ihres dritten Albums „Ich glaub dir alles“ zu feiern. 

Die Höchste Eisenbahn, Album, Tapete Records, Ich glaub dir alles, Pop, Release, concert, Molotow, Club, Hamburg, St. PauliNach einem vollen Tag hänge ich mit Hirn und Herz noch halb in Arbeitsdingen, als ich am Club ankomme. Der Hinterhof des Molotow dampft vom Regen. Und vom Nudelwasser. Denn Eisenbahner Francesco Wilking verteilt gemeinsam mit Schlagzeuger Max Schröder Pasta samt Soße an die Gäste. Moritz Krämer wiederum – wie Wilking Sänger, Gitarrist und Keyboarder der Band – schenkt Wein aus. Und Bassist Felix Weigt legt im DJ-Container beglückende Popsongs auf.

Die besten Partys finden in der Küche statt. Selbst wenn diese zwischen hohen Mauern auf dem Kiez improvisiert ist. Selbst wenn das Nudelwasser direkt über dem Gullideckel abgegossen wird. Womöglich gerade dann.

Humorvoll in ihren Ansagen, gastfreundlich in ihren Songs

Ein Ankommen in Musik. Gucken und Hallo. Umarmen und Gespräche. Gerade erst gesehen. Eine ganze Weile nicht gesprochen. Ging es neulich noch lange? Nächste Konzerte? Privates und Politik. Dies und das. Reichlich vertraute Gesichter. Und viele neue. Manche sind später in dem Video von Die Höchste Eisenbahn zu sehen, dass nebenbei in einer Ecke des Molotow-Hofs fotografiert wird. 

Die Höchste Eisenbahn, Album, Tapete Records, Ich glaub dir alles, PopWährend in der Küchenecke in Ermangelung weiterer Soße neue Nudelrezepte ausprobiert werden, spielt Die Höchste Eisenbahn ein etwa einstündiges Set. Humorvoll in ihren Ansagen ist die Band. Und gastfreundlich auch in ihren Songs, die eine umarmende Qualität haben.

Was mir bei der neuen Platte wieder super gefällt, ist der ganz eigene Blick auf das, was man Lebenswirklichkeit nennt: irgendwie quer draufgeschaut, mit kluger Leichtigkeit, zudem mit beiläufiger Nonchalance besungen. Die Songs sind im allerbesten Sinne catchy, verspielt, poppig. Rote Luftballons und kleine fiese Monster. Hallo Welt. Hallo Harmonie.

Die Höchste Eisenbahn fabriziert eine Art smarte Disco

Besonders eindrücklich ist mir von diesem Konzert das Stück „Kinder der Angst“ im Kopf geblieben. 80er-Keyboard-Drive, treibender Beat, akzentuiert beschwingte Gitarren, Handclap-Charme und euphorischer Wechselgesang. „Ich sing so lange, bis ihr mich alle liebt“, verkünden Wilking und Krämer. Alles geht so beherzt nach vorne, dass die dunkel dräuenden Wolken am Himmel kurz rosarot erscheinen. Die Höchste Eisenbahn fabriziert eine Art smarte Disco, in der die Angst und die Liebe gemeinsam feiern dürfen. 

Die Höchste Eisenbahn sind Moritz Krämer (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier/Synthies), Francesco Wilking (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier/Synthies), Felix Weigt (Bass, Klavier/Synthies, Klanglabor), Max Schröder (Schlagzeug, Percussion)
Die Höchste Eisenbahn sind (v.l.) Moritz Krämer (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier/Synthies), Felix Weigt (Bass, Klavier/Synthies, Klanglabor), Max Schröder (Schlagzeug, Percussion) und Francesco Wilking (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier/Synthies). Fotografiert von Joachim Gern.

Produziert hat das neue Album Moses Schneider (u.a. Annenmaykanntereit, Tocotronic, Dendemann). Erschienen ist es beim Hamburger Label Tapete Records, wo vor zehn Jahren mit „Jedes Tier“ auch das bisher letzte Studioalbum von Wilkings Band Tele erschien. Die Popband kenne ich noch aus ihrer Freiburger Zeit, wo sie sich Anfang der Nuller-Jahre gründete. 

Ich liebe es sehr, wenn bestimmte Stimmen zu Lebensbegleitern werden. Und wenn sich dieser Sound immer wieder wandelt und in neuen Kontexten erscheint. So spannt sich ein popkultureller Bogen von der Vergangenheit bis in die Zukunft, in dem sich die eigene Biografie widerspiegelt. Ein musikalischer Halt. Und ein Aufbruch mit jedem neuen Song. 

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Trixsi im Molotow: Supergroup an Schnaps

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Ich mag es sehr, wenn es in Hamburg brodelt. Wenn eine neue Band in der Stadt auftaucht. Wenn immer mehr gute Leute darüber reden. In diesem Fall: Trixsi. Klingt wie der Punkername, den man in den 80ern gerne gehabt hätte. Wie ein Drink aus Brause und Schnaps, der noch erfunden werden will. Smells like teen spirit. Könnte schön und schmutzig sein. Trixsi, das ist womöglich auch die coole Kurzform von Trick Siebzehn. Lifehack an Musik? Hilfe und Hintersinn? Slapstick und Scheitern?

Das erste Konzert in der Astra Stube vor einigen Wochen hatte ich verpasst. Von daher gilt es an diesem Vorfeiertagsabend im Molotow herauszufinden, was es mit Trixsi auf sich hat. Natürlich hat sich das Brodeln um die Band in unseren überinformierten Tagen bereits auf das Internet erstreckt. Und die Kunde, dass da eine Art Punkrocksupergroup auftritt, hat das Interesse offenbar derart erhöht, dass das Konzert kurzerhand von der Skybar in den größeren Saal verlegt wird.

Wer ist denn hier verrückt?

Gegen 21.30 Uhr betritt Trixsi die flache Bühne im Molotow. In der Ankündigung ist von einer „Zusammenrottung Hamburger Gewohnheitstrinker“ sowie „Arbeiter-Rock, gespielt von kriminellen Faulenzern“ die Rede. Okay. Also, da wären als halbseidenes Malocherkollektiv: Paul Konopacka und König Wilhelmsburg von der Hamburger Indierockband Herrenmagazin an Schlagzeug und Gitarre, Kristian Kühl von Findus ebenfalls an der Gitarre, Klaus Hoffmann — ehemals bei Jupiter Jones — am Bass und am Mikro Jörkk Mechenbier, seines Zeichens Sänger bei Love A, Schreng Schreng & La La und — wie sich in dieser knackigen Dreiviertelstunde herausstellt — so etwas wie ein freundlicher Entertainerberserker. Pascow-Shirt, Tattoos in Edding-Ästhetik, Verschwitzt-Verschmitztes an Freddiemercuryschnurrbart.

Das Set beginnt mit „Autobahn“. Ein grob bretternder Song über die vermeintliche Freiheit auf vier Rädern. Die Texte gehen direkt ins Hirn, die Riffs sofort in jede Faser. Die Energie ist unmittelbar nervös und angenehm drüber. Es geht um merkwürdige Mechanismen in unserer Gesellschaft. Um Doppelmoral und Nihilismus. Und um die überreizte Künstlerexistenz im angeblich normalen Alltag. Wer ist denn hier verrückt?

Trixsi — „so wenig Set und so viel Abend“

Mechenbier wünscht Trauma und Tobsucht einen guten Morgen. Drahtseilakte, die das Umfeld mit offenen Mündern verfolgt. Das Publikum jedenfalls, das wird schnell klar, ist sowas von bereit, Trixsi in ihrem taumelnden Fallen aufzufangen. Trotz „so wenig Set und so viel Abend“, wie Mechenbier anmerkt, und erst einmal Schnaps ordert. Zur Überbrückung, zur Befeuerung. 

Vinyl-Singles gibt es auch zu kaufen für ’nen Zehner, herausgebracht von den Freunden von Rookie Records, den guten Hamburger Geistern für schönen rauen Sound. Überhaupt: die Musik. Wie lange gibt es die Band schon? Fühlt und hört sich an, als sei das nicht erst soeben hochgekocht, das ganze Ding. Toller abwechslungsreicher Wumms. Ein Song über jene, die sich abgehängt fühlen, digital und überhaupt, erinnert mich in seiner Dynamik an Nada Surfs „Popular“. Intensive Proklamation, melodiöse Ausbrüche. „Ab Morgen“ wiederum ist eine beschwingt krachende Indierock-Midtempo-Nummer. Ein Punk-Chanson zwischen Shouting und schön gesungen. 

„Als mir noch alles scheißegal war, war ich sieben oder neun“, singt Mechenbier dann später noch. Dieser Spirit weht mich an. Einfach mal zusammen Sachen machen. Zu spüren auch bei der Vorband. Da standen auf einmal fast komplett die eigentlich 2016 aufgelösten Findus auf der Bühne. „Wir sind… Wir wissen auch nicht, wer wir sind“, erklärt Sänger Lüam. Das Brodeln, es geht weiter. 

Zum Weiterlesen:

Interview mit Abramowicz zum Album „The Modern Times“: „Rock ’n’ Roll ist der beste Rat- und Haltgeber“

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Interview mit Abramowicz zum Album „The Modern Times“: „Rock ’n’ Roll ist der beste Rat- und Haltgeber“

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Vor einigen Wochen schrieb mich die Hamburger Rockband Abramowicz an und erzählte mir von ihrem anstehenden Debütalbum. Damals steckte ich noch mitten in meinem Brüsseler Arbeitswohnprojekt, weshalb wir ein Interview per Mail verabredeten. Mittlerweile ist „The Modern Times“ erschienen. Ich bin zurück in Hamburg. Und Sänger und Gitarrist Sören Warkentin hat mir die Antworten auf meine Fragen geschickt.

Ich kenne Abramowicz seit Jahren als Hausband des Molotow. Auf ihrem ersten Longplayer zeigen die fünf Freunde, dass sie wesentlich mehr sind als die local heroes des heiß geliebten Kiezclubs. Gleichzeitig transportiert „The Modern Times“ sehr viel der glückseligmachenden räudigen Energie einer rock ’n’ rolligen Nacht.

Abramowicz Mitte Mai mitternachts im Molotow

„Alles in allem sprechen wir hier von einer Band, der ein Album voller wundervoller Geschichten, beeindruckend eingängiger Momente und vielen Gänsehaut versprechenden und authentisch mitten ins Herz treffenden Hits gelungen ist“, sagt Jörkk Mechenbier über das Album. Der Love A-Kopf ist neben diversen anderen Persönlichkeiten aus der Hamburger Musikszene im feinen Abramowicz-Video zu „This Is Not My City“ zu sehen.

Einen Artikel und eine Rezension zu „The Modern Times“ gibt es unter anderem zu lesen bei den Kollegen der „Visions“ (für die ich seit Kurzem ebenfalls schreibe). In diesem Monat sind Sören sowie seine Bandkollegen Niki Loew (Gesang, Bass), Nils Warkentin (Drums), Sascha Blohm (Gesang, Gitarre) und Finn Grunewald (Keys) zudem live auf Tour zu erleben. Ich jedenfalls freue mich schon sehr auf das mitternächtliche Konzert von Abramowicz am 11. Mai im — na klar — Molotow. Und zur Einstimmung gibt es nun das Interview mit Sören. Viel Spaß.

Sound und Gesang klingen auf „The Modern Times“ noch dringlicher und akzentuierter als auf der 2016er-EP „Call The Judges“. Mit welchem Impuls, welchem Ansatz seid Ihr an das Album herangegangen? 

Zunächst war klar, dass wir nach unseren ersten zwei EPs endlich ein komplettes Album schreiben und produzieren wollten. 2016 und 2017 waren wir so viel auf Tour, dass wir kaum Zeit gefunden haben, an neuen Songs zu arbeiten. Wir haben uns 2018 dann bewusst eine Auszeit vom Touren genommen, um die Platte zu schreiben. Wenn man von einem Ansatz sprechen möchte, dann ging es uns einfach darum, die bestmögliche Platte zu machen und alles aus den Songs rauszuholen. Wir haben keine thematischen Schwerpunkte gesetzt, weder in Bezug auf die Texte noch auf die Musik. Es war eher so, dass wir uns die Songs immer wieder vorgenommen haben und so lange daran gearbeitet haben, bis wir zufrieden waren. 

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Abramowicz, fotografiert von Sascha Lepp (3)

Fiel es schwer, Euer Debütalbum loszulassen — also zu sagen: Jetzt müssen die Songs auch mal hinaus in die Welt? 

Wir haben uns und unserer Musik einem Prozess ausgesetzt, der theoretisch endlos hätte weitergeführt werden können. Schreiben, umschreiben, verwerfen und so weiter. Wir sind aber definitiv eine Band, die den Fokus auf das Livespielen an sich legt. Von daher freuen wir uns auf die anstehende Tour und sind insofern eher froh, dass die Platte endlich das Licht der Welt erblickt hat. Auch wenn wir uns bewusst keine Deadline für das Schreiben der Songs gesetzt haben. Im Rückblick hätten wir wahrscheinlich einiges anders gemacht. Aber ich denke, da kommt man als Kunstschaffender nie raus. Abgesehen davon sind inzwischen ja auch einige Tage ins Land gegangen. Und es gibt Leute, die gar nicht mehr damit gerechnet haben, dass wir tatsächlich noch eine Platte veröffentlichen. Wir haben von verschiedenster Seite gehört, dass es eigentlich schon zu spät sei, ein „Debüt“ zu veröffentlichen, da all die Energie, die wir aus den ersten EPs ziehen konnten, verpufft sei. Aber da haben wir — nach dem Motto „gut Ding will Weile haben“ — immer drübergestanden. 

The Modern Times, Album, Debut, Abramowicz, Band, Indie, Rock, Rock 'n' Roll, Punkrock, Hamburg, Music, Scene, Molotow, Label, Radicalis, Interview, Sören Warkentin, Singer, GuitaristEurem Artwork nach zu urteilen sind „The Modern Times“ im wahrsten Sinne des Wortes zum Heulen. Wie kam es zu Titel und Covergestaltung des Albums? 

Wir haben nach etwas wie der Quintessenz des Albums gesucht. Dabei sind wir auf den Titel gestoßen, der auch in der Zeile „Welcome to the Modern Times – are you happy, are you satisfied?“ zum Tragen kommt. Ich betrachte mich als Texter eher als einen Beobachter und weniger als jemanden, der Dinge bewertet. In diesem Sinne drehen sich die Songs oft um Zustandsbeschreibungen. Auf dem Cover ist Saschas kleine Schwester an ihrem Geburtstag zusehen. Das Bild ist in den 70er-Jahren entstanden. Wir fanden das Kontrastierende, das dem Foto in Bezug auf den Titel innewohnt, super interessant. Mir ist klar, dass vieles von dem, was ich erzähle, so oder so ähnlich schon in früheren Zeiten gesehen oder erlebt wurde. Und wahrscheinlich wird sich das in Zukunft auch nicht ändern beziehungsweise wiederholen. Das Leben spielt dir Streiche und du begegnest Situationen, denen du dich nicht aussetzen möchtest. Ich denke, es ist ein Charakteristikum des Menschlichen, sich durchbeißen zu wollen. Und daran zu glauben, dass beschissene Situationen vorübergehen und die Sonne irgendwann wieder scheint. Uns ging es also nicht darum rumzuheulen. Eher darum, Hoffnung zu verbreiten. Vielleicht versuchen wir also nur, die tröstende Schulter des kleinen Mädchens auf dem Cover zu sein. 

Songs wie „Blood Red Letters“ oder auch „Mountains“ vermitteln für mich ganz stark: Ich kann nicht alles versprechen, nicht das perfekte Paket bieten, ich scheitere, mache Fehler, aber ich versuche es weiter, ich bleibe am Start und beginne zur Not immer wieder neu. Eigentlich auch eine gute Philosophie fürs Musikmachen, oder?

Ich denke, dass ist nicht nur eine gute Philosophie fürs Musikmachen. Wir leben heute in verrückten Zeiten, in denen alte Gewissheiten in Frage gestellt werden. In denen die Leute sich ihre Miete nicht mehr leisten können und das Klima auf den Kollaps zusteuert etc. etc. Jetzt könnten wir den Kopf in den Sand stecken und sagen: „Fuck it – wir sind am Ende“. Aber ich glaube, so tickt der Mensch nicht. Das gilt auf der gesellschaftlichen, wie auf der individuellen Ebene. Klar sind wir schwach, aber immer noch stark genug, uns unsere Schwäche einzugestehen.
Ich schreibe mir ständig irgendwelche Textschnipsel ins Handy, setze mich dann mit der Gitarre hin und gucke was passiert. Die Inspiration verknüpfe ich dann meistens mit Erinnerungen, die mir sagen, warum ich diesen Satz oder dieses Wort aufgeschrieben habe. 

Wie sieht die Rollenverteilung bei Euch in der Band aus? Wer schreibt die Songs, wer die Texte? Und, wenn Ihr mögt: Wer übernimmt Organisatorisches, wer sorgt für den Comic Relief etc.? 

Ich habe – ehrlich gesagt – keine Ahnung, was Comic Relief bedeutet. Bei uns sieht es auf jeden Fall so aus, dass meistens ich oder Sascha mit einer Idee in den Proberaum kommen und wir drauflos jammen. Manchmal entstehen dann schnell Songideen. Manchmal werden die Sachen einfach verworfen und wir kramen sie vielleicht irgendwann nochmal hervor. Auf der Platte sind Songideen zu Songs geworden, die schon älter sind als unsere erste EP. Was das Organisatorische angeht, sind wir schon viel professioneller geworden. Allerdings würde ich uns immer noch als eher chaotischen Haufen beschreiben. Deswegen hat es auch so lange gedauert, bis ich Dir auf Deine Fragen Antworten gebe. Sorry dafür! 

Wo, mit wem und wie lief die Produktion des Albums ab?

Als wir das Gefühl hatten, genügend Material für die Platte zu haben, sind wir ins Watt’n Sound Studio an die Nordsee gefahren und haben vier bis fünf Tage konzentriert daran gearbeitet, aus den Ideen Songs zu formen. Dann hatten wir insgesamt vier Vorproduktionssessions in Hamburg zusammen mit Paul Konopacka. Wir haben Songs live eingespielt, Paul hat alles roh gemixt und wir haben an den Songs gefeilt. Paul hat definitiv auch aktiv ins Songwriting eingegriffen und jeden Song noch besser gemacht. Die Aufnahmen an sich haben wir dann wieder im Watt’n Sound Studio gemacht — mit Kristian Kühl und Paul Konopacka. Ich glaube, wir waren zehn Tage an der Nordsee und danach ungefähr 14 Tage im Studio von Kristian in Hamburg. Während der Sessions hat sich nochmal vieles verändert. Wir haben ohne Ende Gitarrenpedale etc. ausprobiert und hatten Probleme, die richtigen Effekte wieder zu finden, als wir angefangen haben, für die Tour zu proben. Kristian, Paul und wir als Band haben versucht, das alles so entspannt wie möglich zu machen und eine freundschaftliche „Feel-Good“-Atmosphäre zu schaffen. Ich glaube, das ist uns auch ganz gut gelungen. Wir hatten in jedem Fall super viel Spaß, haben viel gelacht und viel getrunken. Good Times halt! 

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Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der Schweizer Plattenfirma Radicalis, die ja erst 2018 eine Dependance in Hamburg eröffnet hat und erst seit Kurzem in die Labelaktivität eingestiegen ist? 

Wir kennen Alex Beyer, der einer derjenigen ist, die die Dependance eröffnet haben, schon seit unserer ersten EP. Damals hatte er zusammen mit Lukas Heger und Matthias Brinkmann das Label „Sportklub Rotterdamm“ gegründet und wir waren der erste Release auf diesem Label. Bei der zweiten Platte haben sich der Sportklub und Uncle M die Arbeit geteilt. Als es darum ging, das Album zu veröffentlichen, haben wir als erstes bei Alex angeklopft. Und zum Glück hat das alles mehr als gut funktioniert. Alex ist für uns sowas wie der große Bruder der Band. Aber alle Leute bei Radicalis, insbesondere auch Christoph Hallerberg, sind einfach großartig. Ich glaube, wir können einfach nur dankbar sein. Denn wir können sagen, dass die Jungs einfach einhunderprozentig hinter uns und unserer Band stehen. Das ist wirklich ein schönes Gefühl! 

Ein Stück wie „Brooklyn“ transportiert eine große Sehnsucht. Und in einer Nummer wie „Wild Rover“ singt Ihr im Chor: „We salute the night / to forget the day“. Lässt sich Rock’n’Roll, also das gute wilde, den Herzschlag beschleunigende Leben in den „modernen Zeiten“ überhaupt noch real leben? Oder ist Rock ’n’ Roll womöglich wieder mehr Gegenmodell denn je in unserer zunehmend durchgetakteten Gesellschaft? 

Vielleicht ist der Rock ’n’ Roll, wie wir ihn verstehen, gerade in diesen Zeiten der beste Rat- und Haltgeber. Und vielleicht glaube ich deshalb, dass er nie untergehen wird. Wenn wir diese Zeilen singen, wollen wir an das vielleicht manchmal Unvernünftige, aber dadurch Tröstende appellieren. Egal wie beschissen dein Tag war, für ein paar Momente hast du die Möglichkeit, davor abzuhauen. Für mich gibt es keine andere Form als die Musik, die das vermitteln kann. 

„You’ve been the first on the dance floor / and the last one to leave.“ Bei dieser Zeile kommt mir die Hamburger Rock ’n’ Roll-Instanz Molotow in den Sinn, mit der Ihr eng verbunden seid. Was bedeutet Euch diese Club-Heimat? 

Nils und ich arbeiten dort noch. Sascha war mal Hausmeister. Niki stand hinterm Tresen und Finn auf der guten Seite des Tresens. Außerdem hat uns der Laden früh die Möglichkeit gegeben, live zu spielen. Von daher sind und werden wir dem Laden immer verbunden bleiben. Abgesehen davon liefert das Nachtleben generell und das Molotow im Speziellen eine super Inspirationsquelle für Songs. 

„In the town for the rich and the famous / there will be no dirt no more“, heißt es im Song „Not My City“. Wie nehmt Ihr als Hamburger Band die popkulturelle Entwicklung in der Stadt wahr? Wird es härter, sich den schönen Schmutz und die subkulturellen Ecken zu erobern? Oder gibt es durchaus ein Bewusstsein, wie wichtig das künstlerische Leben jenseits von Elbphilharmonie und Musicals ist? 

In politischer Hinsicht muss das alles sicherlich problematisch bewertet werden. Wir hatten bis vor Kurzem, so wie 120 andere Bands, im Otzenbunker unseren Proberaum, der auf behördliche Anweisung hin dichtgemacht wurde. Ich glaube, dass viele Leute nach St. Pauli kommen, um diesen „schönen Schmutz“ zu erleben. Dass das alles aber nicht portofrei zu haben ist, wird gerne vergessen. Ich habe nichts gegen „hochkulturelle“ Stätten à la Elbphilharmonie. Man muss nur aufpassen, dass der Fokus nicht komplett verschoben wird. Und ich denke, dass niemand ein echtes Interesse an dem fortwährenden Ausverkauf der Stadt Hamburg und der Städte im Allgemeinen haben kann. Die echten Geschichten findet und erlebt man eben nicht hinter hochglanzpolierten Fassaden. 

Vielen Dank für dieses spannende Interview und Dein Interesse!

Merci für die Antworten — und die Musik!

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Hamburg und die Soulmusik – keep on dancing

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Ich liebe es, zu Soulmusik zu tanzen. Und in Hamburg ist das zum Glück regelmäßig möglich. Ich höre die euphorischen Songs, ihre bittersüße Note, den warmen Gesang, den treibenden Rhythmus. Und in mir macht es Klick. Die Intuition übernimmt. Und die Erinnerung. Ein Nachhausekommen.

Mein Körper kennt die Bewegungen seit nun fast 30 Jahren. Seit mein drei Jahre älterer Bruder, damals Mod, mich in den späten 80er-Jahren mit in die Villa Körner nahm. Ich war 15, 16 Jahre alt. Und die Partys, Songs und Eindrücke aus dieser Zeit haben sich tief in meine Gedächtnis eingeschrieben.

Rare Perlen aus den 60er- und 70er-Jahren, rau und optimistisch

Ich erinnere mich an ein verwunschen im Wald liegendes Herrenhaus. An Menschen, die smart und sharp aussahen in ihren schmalen Anzügen und eleganten geradlinigen Kleidern. Mode als Code. Als Verbindung. Sehr schön festgehalten hat diese ganz besondere Atmosphäre mein alter Weseler Freund Tobi Dahmen in seiner Graphic Novel „Fahrradmod“.

Mir schien es, als bewegten sich alle in der Villa Körner ein wenig cooler und selbstbewusster als normale Leute. Und dann die Soulmusik. Von Vinyl. Nichts aus dem Fernsehen. Keine Radiohits. Sondern rare Perlen aus den 60er- und 70er-Jahren. Vorwiegend aus dem Norden der USA. Rau und optimistisch. Das Faszinierendste war und ist aber das Tanzen.

Es gibt eine bestimmte Art und Weise, sich zu Soulmusik zu bewegen. Die Beine fliegen geschmeidig und zugleich akzentuiert über die Tanzfläche. Der Blick bleibt oben, stolz, schön. Fortgeschrittene bauen zusätzlich zu den butterweichen Shuffle-Parts noch artistische Elemente wie Drehungen, Kicks und Backflips ein. Je länger ich zu Soulmusik tanze, desto mehr Spaß macht es. Da ich über die Fuß- und Beinarbeit überhaupt nicht mehr nachdenke, sondern mich ganz auf den Flow eines einzelnen Songs einlassen kann.

Soulmusik vom Hamburger DJ-Kollektiv Fortyfive Degrees

In Hamburg lassen sich diese beglückenden Tanzabende zum Beispiel erleben mit dem DJ-Kollektiv Fortyfive Degrees, das seit 2010 aktiv ist. Die aktuellen Resident-DJs Simone Schneider, Holly Holzwarth, Inger und Ms Phyllis legen derzeit in der Skybar des Molotow auf.

Samstag vor einer Woche war es wieder so weit. Ich mag es sehr, dass jede der DJs je nach Plattensammlung und Vorlieben unterschiedliche Stile einbringt – von klassischem Sweet Soul bis zu Modern Soul. Und der Blick durch die Panoramascheiben auf das Ende der Reeperbahn verursacht bei mir in Verbindung mit Soulmusik immer so ein Downtown-Gefühl.

Hamburg Soul Weekender mit lokalen und internationalen DJs

Der Fortyfive-Degrees-Abend war ein prima Warm-Up für den Soul Weekender, der in Hamburg jährlich Anfang Oktober stattfindet – eine Rundumsause mit Tanznächten, Tagsüberparty und Bootstour. Und mit vielen lokalen sowie internationalen DJs – wie etwa Keith Money aus Großbritannien, Dani Herranz aus Spanien, Ash Pederick aus Dänemark, Marc Forrest aus Berlin, Steff Christiansen aus Flensburg sowie Jan Drews, Ralf Mehnert und Baster aus Hamburg.

Hamburg Soul Weekender, Soul, Music, Soulmusik, dancing, Sixties, Seventies, Party, Clubs, Owl, Sticker, Artwork Im Gegensatz zu den Soul-Anhängern, für die Musik und Stil ihren gesamten Way Of Life definieren, werfe ich mich nicht so konstant und intensiv in die Szene. Aber ich liebe es sehr, wenn – wie am Donnerstag – die Kogge auf St. Pauli auf einmal mit lauter britischen Soulfans gefüllt ist, die zwischen Bar und Tischen zu tanzen beginnen. Wenn sich, wie am Samstag, das Gruenspan in einen Ballsaal verwandelt. Und wenn ich stundenlang tanzen kann, weil mich Song um Song auf die Tanzfläche zieht.

Stets steht irgendwo eine Dose Babypuder bereit, das – ausgestreut – dem Boden genau die richtige Geschmeidigkeit verleiht. Neben mir tanzen ein älterer Mann mit Krücke, eine alte Freundin aus Villa-Körner-Zeiten sowie ein junger Typ im Fred-Perry-Hemd. Das Alter ist egal. Die Liebe zum Sound zählt.

Die Soulmusik siegt über meine Erschöpfung

Ich bin dankbar, dass die Veranstalter immer wieder mit reichlich Herzblut Party um Party planen. Denn für mich ist eine Nacht mit Soulmusik, mit all den Leidenschaftlichen und der Energie und dem Tanz, so viel mehr als ein Ausgehabend. Es ist Auspowern, Katharsis, Auftanken.

Die Soulmusik siegt über meine Erschöpfung. Ich schwitze bereits von Herzen, als der Fred-Perry-Typ neben mir beim Beginn des nächsten Songs freudestrahlend ruft: „Weiter geht’s“. Aber sicher doch. Keep on!

Ich weiß, Soulmusik ist for Vinyllovers, aber zum Reinhören empfehle ich diese Playlist auf Spotify.

Auch beim Motte Allnighter lässt sich in Hamburg fein zu Soulmusik tanzen.

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Acht Stunden Inspiration: „Burger Invasion“ im Molotow

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Ich liebe das Molotow. Vor allem, wenn in dem Club auf St. Pauli ein Festival stattfindet. Wenn also auf allen drei Stockwerken Bands spielen und DJs auflegen. Ich fühle mich dann immer wie in einem Pop-Zauberwürfel. Ständig wechseln die Ebenen, die Farben, der Sound. Kästchen für Kästchen, Raum für Raum, Bühne für Bühne gilt es zu erkunden. Und bei jeder Bewegung ergeben sich neue Kombinationen, andere Muster, ungewohnte Einblicke. Sehr schön ist das. Eine Art aufregende Geborgenheit.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Merchandise, Flyer, Records, Tapes An diesem Samstag öffnet das Molotow seine Türe für die „Burger Invasion“. Zwar gibt es im Hinterhof tatsächlich Bulettenbrötchen vom Team des nahe gelegenen Lokals Grilly Idol. Doch der Name stammt eigentlich von der 2007 gegründeten kalifornischen Plattenfirma Burger Records, die für feinen Schrammel- und Schlonzrock sowie herzöffnenden Powerpop steht. Die Hamburger Veranstalter Sebastian Tim und Timotheus Wiesmann sind Fans des Labels, das seine Musik bevorzugt auf Kassetten veröffentlicht.

Sofort muss ich daran denken, wie ich in den 80er- und 90er-Jahren mit meinen TDK-Tapes an der Stereoanlage meiner Eltern sitze, um Musik von Freunden zu überspielen, Songs aus dem Radio aufzunehmen oder Mixe zu machen und um Cover zu basteln. Die ganze Sache spricht meine nostalgische Seite an und verströmt zudem ein sehr sympathisches Flair von Do-It-Yourself-Kultur.

„Burger Invasion“, Komplizenschaften weit über die Stadtgrenzen hinaus

Sebastian Tim und Timotheus Wiesmann jedenfalls haben im Austausch mit den Burger-Records-Gründern Sean Bohrman and Lee Rickard nun zum zweiten Mal ein Programm mit lokalen und internationalen Bands zusammengestellt – eben die „Burger Invasion“. Mir gefällt es sehr gut, wie da Komplizenschaften weit über die Stadtgrenzen hinaus geknüpft werden. Ein gutes Mittel, damit die Popkultur in Hamburg nicht im provinziellen Lokalpatriotismus versandet.

Bereits draußen vor dem Club am Ende der Reeperbahn kündet ein Poster von der großen Sause: Ein Burger sendet wie ein Raumschiff in einschlägigen Science-Fiction-Filmen einen Lichtstrahl auf die Erde. Ich muss sehr lachen über dieses größenwahnsinnige wie angenehm spackige Artwork. Gut gelaunt entern wir also am Nachmittag das Molotow – um den Laden acht Stunden später wieder zu verlassen. Ein Clubbesuch als Tagwerk. Eine Schicht lang Shows und Schnacken, Menschen und Magie, Treppen auf und ab, an die Bar, aufs Klo, in den Hinterhof, Luft schnappen, Leute treffen, Gucken und Lächeln, Hören und Driften, Spüren und Tanzen.

Lichtscheues Gesindel wollen wir sein

Wir gleiten sanft hinein in die Invasion mit My Friend Peter aus Graz, die in der Skybar im zweiten Stock einen entschleunigt groovenden Pop mit hübsch verpeilter Aura spielen. Die Sonne scheint prall durch die Fenster. Unten zieht der Kiez grell vorbei.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Band, Juniore, France, Sixties, Rock Bei den Franzosen von Juniore im Erdgeschoss-Saal zieht dann doch jemand die Vorhänge zu. Passt auch besser zu dem sixties-inspirierten Psychedelic-Rock des Trios. Lichtscheues Gesindel wollen wir sein. Und die Band hat ohnehin ihre eigene Sonne mitgebracht. Der Keyboarder und Gitarrist trägt eine goldene Maske, die ins nachmittägliche Dunkel hinein funkelt. Die Kasseler Combo Catch As Catch Can wiederum macht im Karatekeller ohnehin vergessen, dass draußen noch Tag ist. Garagenrock in der räudigsten Ecke des Pop-Zauberwürfels. Angekommen im Ausgehmodus.

Feinripp-Remmidemmi mit Blondie-Charme

Immer weiter lassen wir uns verwirren und durchströmen von der Vielfalt, dem Krach, dem Schillernden der Musik. Toller eruptiver Gesang von der Formation Erregung Öffentlicher Erregung aus Hamburg und Berlin. Roher Rock ’n‘ Roll-Schub an nackter Haut von der Rotterdamer Band Iguana Death Cult. Und linkische Lieblichkeit mit den hyperharmonischen Popmelodien der New Yorker Cut Worms. Zudem eine einnehmende Wolke aus Hall von den Texanern Holy Wave. Hochtouriger Punkrock mit gutem Schreifaktor von Häxxan aus Tel Aviv. Und Feinripp-Remmidemmi mit Blondie-Charme der Abriss-Rock ’n‘ Roller Amyl And The Sniffers aus Australien.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Band, Garagerock, Rick McPhail, Frehn Hawel Eine spannende Entdeckung, die der Pop-Zauberwürfel Molotow für mich bei der „Burger Invasion“ hervorbringt: Tocotronic-Gitarrist Rick McPhail kann vorzüglich Schlagzeug spielen und präsentiert gemeinsam mit Hamburgs Frehn Hawel einen famos krachenden wie akzentuiert wütenden Garagenrock im Karatekeller. Hawels Tipp: „Nie das Handtuch vergessen bei einem Auftritt in dieser Schwitzbude!“

Fenster, eine sanft Grenzen sprengende Band

Restlos begeistert mich das Konzert von Fenster in der Skybar, eine sanft Grenzen sprengende Band aus Deutschland, den USA, Frankreich und England. Ich finde es unfassbar interessant, diesem Quartett zuzuhören, wie sie da eine Popmusik produzieren, die schwelgerisch betört und sphärisch entführt, die Tempi wechselt und Pausen lässt, in denen die eigenen Assoziationen atmen können. Das Fenster weit offen. Humorvoll, einfallsreich, wunderschön. Hinter mir stehen einige Typen, die in regelmäßigen Abständen fasziniert ein einziges Wort wiederholen: „geil“. Stimmt.

Hinzu kommt: Sängerin JJ Weihl lebt in New York. Und wenn ich mir die so heiß geliebte Stadt als Mensch vorstellen sollte, käme vermutlich solch eine eigensinnige und hoch charismatische Person dabei heraus. Wie sie dasteht mit ihrem weiß-rosa gestreiften Kleid und ihren weißen Boots und dem halb blonden Haar. Plus ihr facettenreicher Gesang – geil.

„Labskaus, Diggi!“

Aus diesem Himmel geht es dann noch einmal hinab in den Keller, zum amüsanten wie durchpustenden Abschluss dieser irrlichternden Invasion. Das Duo Swearing At Motorists aus Dayton, Ohio / Hamburg ist ein Gitarre-Schlagzeug-Inferno, das nicht nur mit wilden Songs über Pizza und Liebe besticht, sondern auch durch komödiantisches Potential. „Labskaus, Diggi!“ Diesen freudigen Ausruf von Sänger Dave Doughman möchte ich mir auf ein T-Shirt drucken lassen. Auf seiner Brust wiederum prangt ein alt vertrauter Spruch: „Ich bin neu in der Hamburger Schule“. Genau. Und es gibt Bier als Pausenbrot. Bei dieser Tages- und Nachtschicht „Burger Invasion“ im Molotow. Satt und glücklich radeln wir nach Hause.

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