Was ich an der Hamburger Musikszene schätze, ist die Fähigkeit, sich zu verbinden und zu verbünden. Sich Komplizen zu suchen. Banden zu bilden. Ich freue mich immer sehr, solche künstlerischen Allianzen mitzuerleben. Denn, wie sang schon die Band Kante: „Wir sind unterwegs und wir sind wieder im Haus / mit neuen Gesichtern und den bekannten Gestalten / wir haben Gitarren, das Klavier und den Bass / wir haben das Schlagzeug, den Gesang und all das / ist in guten Momenten für eine Weile / mehr als die Summe der einzelnen Teile.“
Es geht um den Flow des gemeinsamen Musizierens auf der Bühne. Aber auch um die freundschaftliche Energie dahinter. Zusammen machen und tun, proben und streiten, sich finden und hinausgehen. Und das Publikum spürt, dass es gerade Teil einer Gemeinschaft ist. Von etwas positiv Aufgeladenem. So auch an diesem Mittwoch.
„The Sound of St. Pauli“ – vier Stunden Programm auf dem Spielbudenplatz
Im Rahmen der Initiative „The Sound of St. Pauli“ treten ein gutes Dutzend Popkünster auf dem Spielbudenplatz neben der Reeperbahn auf. Mit vier Stunden Programm – wow. Sie gehören alle zum engeren oder erweiterten Umfeld einer Hamburger Clique, die sich zwischen Pop, Soul und Singer-Songwriter-Sound bewegt. Da ich schon eine ganze Weile das Engagement der beiden Musikerinnen und Macherinnen Miu und Sarajane verfolge, nehme ich die zwei stark als Zugkräfte dieser Runde wahr. Aber ich bin mir sicher, dass in so einer Gruppendynamik jede und jeder ihren und seinen Wirkungsbereich entfaltet.
Miu und Sarajane sind nicht nur Sängerinnen mit jeweils Hammerstimmen, sondern auch schlichtweg – mit Verlaub – coole Bräute. Sie mischen gerne in der Branche mit und ziehen sozial sowie politisch Fäden. Zum Beispiel mit ihrem Projekt „Ladies. Artists. Friends.“, mit dem sie verstärkt Musikerinnen ins Rampenlicht holen.
Dieser Vibe ist auch auf dem Spielbudenplatz deutlich zu spüren. Ich finde es toll, wie selbstverständlich bei diesem Konzert – ganz einfach formuliert – Männer und Frauen zusammen Musik machen. Die Geschlechterungleichheit im Pop wird in diesem Fall nicht wortreich diskutiert, sondern ganz pragmatisch weggespielt.
Wie ohnehin der Ablauf professionell dahin schnurrt. Magnus Landsberg, so etwas wie ein eierlegender Wollmilchmusiker, hat die Arrangements der Backing-Band erstellt – und spielt selbst Gitarre. Die Musiker an der Rampe können so entspannt alle zehn, fünfzehn Minuten rotieren.
Ich bleibe anderthalb Stunden. Danach bin ich durchgefroren an diesem herbstlichen Abend. Die frischen Brisen wirken wie eine Windmaschine und lassen die Haare der Auftretenden wehen. Etwa bei Norma, die eine eigens auf Friesisch gedichtete Reeperbahn-Hymne singt.
„Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt“
Auch andere Künstler haben extra für „The Sound of St. Pauli“ Kiez-Songs einstudiert. Tim Jaacks – der einzige, der ohne Begleitung alleine nur mit akustischer Gitarre spielt – covert zum Beispiel eine Nummer von Die Sterne: „Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt“. Damit kriegt er mich sofort.
Gefreut habe ich mich über neue Lieder von Nils Christian Wedtke. Nach einigen Jahren Auszeit hat er sich vom Singer-Songwriter-Sound hin zur elektrischen Gitarre bewegt. Das klingt gut, etwa in einem Song über den Winterschlaf. Ein Satz hallt nach: „Ich renne nicht mehr weg, wenn sie Torten schmeißen“. Für mich bedeutet das: Sich einer Situation einfach mal ergeben, auch wenn sie nicht durchweg angenehm ist. Offen sein. Kritik annehmen. Schauen, was passiert. Und sei es, dass Sahne im eigenen Gesicht landet. Könnte ja überraschend gut schmecken.
Beeindruckt hat mich Vivie Ann mit ihrem dunklen eindringlichen Gesang. Eine Stimme mit starker Persönlichkeit. Ihr Song „Lover Boy“ passe zum Kiez, sagt sie.
Und als ich mich so umschaue, sehe ich, dass so einiges nach St. Pauli passt. Das Mädchen mit der quietschblauen Perücke, das mit ihrem Vater tanzt. Der volltätowierte durchgepiercte Typ, der begeistert Fotos schießt. Die Touristen in ihren Windjacken. Die Musikfans mit Bier in der Hand.
Beim Stichwort „Aufwertung“ gehen bei vielen die Alarmglocken an
Hinter „The Sound of St. Pauli“ steht der Business Improvement District Reeperbahn+, kurz BID. Deren Ziel ist nach eigener Aussage „die Aufwertung des weltweit bekannten Vergnügungsstandortes Sankt Pauli“. Gerade beim Stichwort „Aufwertung“ gehen bei vielen – auch bei mir – erst einmal die Alarmglocken an. Und die jüngste Initiative, den Kiez zum Weltkulturerbe erklären zu lassen, wird von Betreibern und Anwohnern kontrovers diskutiert. Räudiger Charme versus Disneyland – so in etwa lässt sich eine der Streitlinien beschreiben.
Aktionen für Müllvermeidung sowie gegen Rassismus und Sexismus gefallen mir allerdings. Und auch „The Sound of St. Pauli“ werte ich nicht als „nette Aufhübschungsmaßnahme“. Denn da ist abwechslungsreich Musik aus Hamburg für Hamburg zu erleben. Und die bringt nach demokratischem Prinzip umsonst und draußen Menschen zusammen. Balsam dieser Tage.