Wir stellen uns vor, der Plattenladenbesitzer aus dem Film „High Fidelity“ (aus dem Jahr 2000) hätte einfach weitergemacht. Er ist nun älter, weniger zynisch, dafür sehr viel aufgeriebener. Er legt nicht mehr mit überheblichem Blick die neue EP einer Band auf – wissend, dass all die Musiknerds im gut gefüllten Laden die Scheibe tunlichst kaufen werden. Stattdessen kommt lediglich ein Kunde vorbei, der dann auch noch beim Umtausch bescheißt.
Die arrogante Deutungshoheit über Geschmack und Stil ist dem vehementen Zweifel gewichen, überhaupt noch etwas zu sagen zu haben. „Die neue Slime ist überraschend okay“ – solch ein Satz klingt nicht nach Oberchecker, sondern nach einem Flehen, dass das eigene pop- und subkulturelle Wissen noch etwas wert sein darf. Doch Idealismus ist längst Luxus. Und das Anfassen-Wollen, das Vor-Ort-Sein in einem realen Laden wirkt wie ein Auslaufmodell in Zeiten von Streaming, Playlisten und Internetbestellungen.
Willkommen in der Welt von Hans (Andreas Schröders), Betreiber des Plattenladens „Rillenreiter“ im Hamburger Schanzenviertel – und Hauptfigur des Musicals „König der Möwen“, das auf dem diesjährigen Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel Premiere feierte. In zwei Stunden erleben wir als Zuschauer, wie der grundgütige Vinylhöker um Existenz, Identität und Würde ringt. Das Hemd mit Hundemuster spannt über dem Bauch. Das grau umkringelte Gesicht sieht verwittert aus. Die Rechnungen stapeln sich. Der geplante Mitternachtsverkauf der „neuen Toco“ fällt aus.
Die Hängengebliebenen und die Hoffnungsvollen
Die Brechstange, mit der in dieser Inszenierung mitunter Kalauer und Moral präsentiert werden, ist nicht nur sinnbildlich vorhanden, sondern in einer Szene auch tatsächlich zu sehen: Mit ihr wird eine Kiste aufgehebelt, in der sich ein Maskottchen des Stadtmarketings befindet. Eine Skulptur, die offenbar so hässlich und albern ist, dass sie nicht das Licht der Bühne erblicken soll. Doch die Büchse der Pandora ist geöffnet und das Angebot hängt schwelend im Raum, das ach so authentische Liebhabergeschäft doch an die Touristenströme der Hafen City anzudocken. Die Minderheit als Must-have für den Mainstream.
„König der Möwen“ ist meilenweit davon entfernt, fünffach gebrochenes Avantgarde-Theater zu sein. Die Story wird – bis auf einige wenige surreale Einschübe – geradeaus erzählt und spart nicht an Stereotypen. Aber ach, möchte ich laut rufen: Es gibt sie ja alle, diese Leute, die Hängengebliebenen und die Hoffnungsvollen und die Halbgewendeten.
Andre (Daniel Hoevels) zum Beispiel, den ehemaligen Underground-Popstar, der seit zwei Jahrzehnten von seinem Rest Fame lebt und sich im „Rillenreiter“ Kaffee und die neue DJ Koze schnorrt. Oder Sanni (Kerstin König), Hans‘ junge Angestellte, für die alles „fresh“ ist – und die mitunter vernünftiger wirkt als all die gealterten Bescheidwisser. Und Katja (Eva Löbau), einst Vorzeigelinke, nun Stadtplanerin.
Nicht ständig platt, nicht dauerhaft überhöht
Irgendwo zwischen Kapitalismuskritik und feministischer Diskussion, Soap-Opera-Dialogen und Nerd-Sprech begegnet sich dieses Personal. Wirkt das mitunter zu gewollt? Ja. Wird das an manchen Stellen zu sehr ausgedehnt? Womöglich. Und passt das alles zusammen? Unbedingt. Denn: So ist es, das Leben. Nicht ständig platt, nicht dauerhaft überhöht, sondern meistens irgendwo dazwischen (Und ich persönlich freue mich sehr über Gags wie den Graffiti-Sprayer mit Lackdose-Intoleranz).
Die von Musiker Andreas Dorau, Autor Gereon Klug und Regisseur Patrick Wengenroth entwickelte Dramödie, ein Mix aus Drama und Komödie, ist ein grundsympathisches Stück mit hohem Wahrheitsgehalt und tollen Schauspielern, das wie neuzeitliches Volkstheater daherkommt. An eine Ohnsorg’sche Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie erinnert etwa die Eingangstüre des Plattenladens: Dieses Requisit wird auf der Bühne hin und her geschoben und sorgt für überdeutliche Entrees mit hübschem Palim-Palim-Effekt.
Mir gefällt es gut, dass sich „König der Möwen“ vielen verschiedenen Zuschauerschichten öffnet. Und das liegt nicht zuletzt an der Musik. Eine junge Popband auf Sinnsuche tritt unter wechselnden Namen und Images im „Rillenreiter“ auf. Mal flotte Soul-Kombo, mal schrille Electro-Performer, mal coole Glam-Rocker. Die Songs wandeln auf dem feinen Grat zwischen Persiflage, Zeitgeistanalyse und Hit – allen voran die schmissige Nummer „Feelingsgefühle“ (auch zu finden in meiner Jukebox „Biggy Hamburg Pop“). Die Prekariats- und Selbstausbeutungshymne „Acht Euro am Tag“ wiederum wirkt wie eine Zusammenfassung von Hans‘ Leben. Er selbst mag dieses Lied nicht und stellt es ab. Zu viel Jammern verkauft sich eben nicht gut.
Der Soundtrack zu „König der Möwen“ ist bei Tapete Records erschienen.