Zandari Festa 2024 in Seoul: „Respect“ für Alternative-Bands

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Zurück nach Hongdae. In dem Ausgehviertel hatte ich direkt nach meiner Ankunft in Seoul vor einer Woche bereits die Konzerte des Mu:con Festivals besucht. Jetzt liegt mit dem Zandari Festa reichlich Livemusik an, die im Wesentlichen dem Bereich Indie zuzurechnen ist. Das Zandari wurde vor zwölf Jahren als Showcase-Programm für subkulturelle und alternative Bands in Korea gegründet. Von den zwei Abenden in sechs Locations suche ich mir den Freitag aus. „Respect“ lautet das Motto der diesjährigen Ausgabe. Das klingt vielversprechend. Doch zunächst gilt es, einige Tage zuvor ein Ticket zu kaufen. Ich registriere mich dafür auf der Ticketplattform Interpark und wähle den Termin aus. So weit, so bekannt.

Allerdings werde ich dann aufgefordert, einen QR-Code zu scannen, um einen Verifizierungsprozess zu starten. Das heißt: Ich fotografiere meinen Passport und mein Gesicht und registriere mich zudem mit meiner koreanischen Adresse. Daten ahoi! Das fühlt sich dann auf einmal gar nicht mehr so indie an. Dafür gibt es dann als Grafik direkt für alle Insights in die Struktur des Publikums. Viele Frauen in ihren 20ern interessieren sich offenbar für diese Art von Livemusik. Gut so.

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Rosai in Hurry begegnet Hochtourigkeit mit schwelgerischen Rocksongs

Das Zandari Festa hat direkt an der beliebten Bahnstation der Hongik Universität einen Posten bezogen, um die Festival-Bändchen auszugeben. Ich zeige meinen Buchungscode sowie meinen Passport und los geht’s. Zwar spielen auch internationale Acts beim Zandari, etwa Carnival Youth aus Lettland oder Marguerite Thiam aus Frankreich. Doch ich konzentriere mich auf die Artists aus Korea. Bin ich doch auch im Land, um mehr über die hiesige Musikszene zu erfahren. Der Nachteil liegt natürlich darin, dass ich die Songtexte nicht verstehe.

Dankenswerter Weise wird mir beim Auftritt der Band Rosai in Hurry direkt ein schön gestaltetes Leporello gereicht – mit Besetzungsliste, Kontaktinformationen und Erläuterungen. „We don’t live tomorrows – limited lifetime makes us feel in a hurry“, steht da unter dem Namen der Band geschrieben. Gerade im schnelllebigen Seoul ist diese Beobachtung gewiss zutreffend. Rosai in Hurry setzen der Hochtourigkeit schwelgerische und durchaus schwermütige Rocksongs entgegen. Die Nummer „Art Museum“ etwa, so erklärt mir der Folder, handelt von der Flucht „aus der Leere der Realität“. Ihre Musik versteht Rosai in Hurry dabei als Refugium: „Please feel free to imagine your virtual refuge as you listen to our psychedelic sounds.“ Ich drifte kurz ab. Und dann drifte ich weiter. Von der Flex Lounge einmal um die Ecke zu einer Location namens Veloso, wo die Band Shin In Ryu spielt.

Verträumter Indie von Shin In Ryu, schamanischer Rock von Goonam

Mit „Miracle“ hat diese 2018 gegründete Formation bereits einen Song zum Soundtrack des koreanischen Films „Dream“ beigesteuert. In der Drama-Komödie spielt Park-Seo Joon einen geschassten Fußballtrainer, der fortan eine Obdachlosenmannschaft coacht. Während Shin In Ryu wahrhaft verträumten Indie-Pop präsentiert, treffe ich einige Meter weiter im Space Brick auf eine geballte Ladung rockender Energie. Goonam existiert bereits seit fast 20 Jahren und produziert einen psychedelischen Sound, der sich schamanisch hochschraubt und das Publikum stark mitreißt.

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Stopover im Convenience Store

In einem knallbunten Convenience Store in Hongdae, in dem ich ungefähr 1000 verschiedene Ramen-Nudeln hätte essen können, mache ich einen kleinen Zwischenstopp. Die Sache ist nämlich die: In den Locations, die ich bisher besucht habe beim Zandari, gab es keinen Getränkeverkauf. Nichts. Ein Gast erklärt mir, dass er am Eröffnungstag, dem Donnerstag, einen Tumbler gekauft hätte. Der werde nun hier und da vor den Locations mit Bier aufgefüllt. Ich sehe einige wenige Leute mit dem besagten großen Becher, entdecke jedoch keine Stände dafür. Allerdings beobachte ich, dass die Leute sowieso einfach ihre Getränke mitbringen. Das fand ich anfangs so befremdlich, dass ich es mich gar nicht getraut habe. Denn zuhause in Hamburg wollen die Clubs natürlich mit dem Ausschank ihr Geld verdienen. Und insofern sind Fremdgetränke verboten. Also, let’s try, bevor ich weiter dürste. Im Convenience Store kaufe ich mir einen dieser bereits mit Eis gefüllten Becher und ein Cass-Bier, schütte das Ganze um und ziehe weiter. Und siehe da: In den Club FF kann ich einfach mit meinem Drink hineinlaufen. Allerdings wäre das in diesem Fall gar nicht nötig gewesen.

Vom Weltraumstein in den Verein FF zur tollen Band Socialclub Hyangwu

Waren die Locations bisher eher funktionale kubusartige Beton-Keller, so ist der Club FF tatsächlich eine richtig schöne Live-Kaschemme. So eine Art Mix aus Komet Musik Bar und Molotow in Hamburg. Mit abgeranztem und voll-gestickertem Interieur. Und mit einer Bar. Ich habe mir die Namen der Locations beim Zandari Festa in Hongdae übrigens von meiner Translate-App übersetzen lassen. Die Ergebnisse sind durchaus amüsant.

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Im Club FF spielt die tolle all female Band Socialclub Hyangwu. Von dem Quartett finde ich lediglich zwei Songs online. Zusammengefasst auf der Single „For everything that burns“. Live ist Socialclub Hyangwu allerdings bereits bestens explosiv eingespielt. Herrlich tief- und abgründiger Indierock. Dem es an Posen nicht mangelt, wenn eine der zwei Gitarristinnen auch mal rockend auf ein kleines Podest vor der Bühne steigt. Mit coolem Stoner-Rock von Meotjinsaeng und freundlichem Ska von The Reseters endet schließlich mein Rundgang über das Zandari Festa. Und natürlich halte ich vor der Heimfahrt mit der Bahn noch an einem der vielen Street-Food-Stände in Hongdae für einen nächtlichen Snack.

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Toller Auftritt von Socialclub Hyangwu im Club FF in Hongdae beim Zandari Festa

Mein Fazit des Zandari Festa 2024 in Seoul: kompakt, retro, international

Klasse, dass die Locations alle wenige Gehminuten voneinander entfernt liegen. Da macht das Hin- und Her-Switchen doch Spaß. Das Publikum ist, neben vielen Fans aus Korea, recht international. Was auch daran liegt, dass Delegates von Europa über Südamerika und Asien bis nach Australien vertreten sind. Musikalisch ist der Sound gerne einmal retro an den vergangenen Dekaden des Indie orientiert. Die koreanische Spielart hat es da für mich interessant gemacht. Toll zu erleben, dass es so eine lebendige Alternative-Szene in Seoul und Korea zu geben scheint.

Audiovisuelle Eindrücke vom Zandari Festa 2024 und Popkultur in Korea gibt es in meinem Highlight „Seoul Pop 24“  auf Instagram 

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Mu:con 2024 in Seoul: Festival von K-Pop bis Indie-Rock

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Warum am ersten Tag in Seoul nicht direkt ein Musikfestival besuchen? Ich kaufe mir also beim 7-Eleven-Convenience-Store eine T-Money-Card für die Subway. Verziert mit drei niedlichen Charakteren der Line Friends, einer vom Designer Kang Byeong Mok entwickelten Cartoon-Reihe. Popkultur steckt in Korea in jedem Detail. Einmal die Karte aufs Drehkreuz aufgelegt. Und los geht die Fahrt ins super hippe wie gehypte Stadtviertel Hongdae. Auf zur Mu:con! Organisiert wird diese Kombination aus Musik-Konferenz und Showcase-Festival von der KOCCA. Die Korea Creative Content Agency ist eine öffentliche Einrichtung, die dem Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus untersteht. Sie wurde 2009 mit dem Ziel gegründet, Koreas Popkultur in den Bereichen Musik, Mode und Entertainment zu fördern. Das Aushängeschild Mu:con ist eine Art Reeperbahn Festival. Nur kompakter und zeitlich anders sortiert. Zunächst treffen sich Business-Profis für drei Tage zu Matchmaking und Paneldiskussionen. Dann folgen Konzerte an zwei Abenden und drei Locations in Hongdae.

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Wartende Musikfans vor dem Hongdae Café

Ich erwische nach meiner Ankunft in Korea gerade noch den zweiten Showcase-Abend.  Und direkt entdecke ich ungemein tolle wie vielfältige Musik. Meine musikalische Erkundungstour beginnt bei einer Location mit dem eingängigen Namen Shinhan Card Sol Pay Square Live Hall. Eine Konzerthalle mit einer Kapazität von gut 800 Personen. Unten vor der Bühne warten bereits zahlreiche Fans. Als Delegate werde ich allerdings sofort auf den bestuhlten Balkon geführt. Zudem wird mir eine Flasche Wasser gereicht. Sehr angenehm. Ich setze mich in die erste Reihe und habe somit einen guten Blick auf das Geschehen. Zunächst wundere ich mich, dass direkt unter mir ein Produktionsplattform mit acht Leuten und fünf Workstations aufgebaut ist. Doch als ich den guten Sound höre und vor allem die vielen beeindruckenden Visuals sehe, wundert mich dieses Aufgebot nicht mehr.

K-Pop-Newcomer Pagaehun: Riesenrad & Feuerwerk auf der Bühne

Kurz vor dem Start werde ich noch freundlich begrüßt von Jun Yeong, der seit 2018 für die KOCCA arbeitet. Wir hatten uns vor einigen Tagen bei der koreanischen Reception, dem Mu:con Mixer, auf dem Reeperbahn Festival 2024 kennengelernt. Vorgestellt hatten mich ihm die freundlichen Menschen von der Hamburger Agentur Pop-up Records. Pop ist ein people’s business. Und ich finde es absolut fantastisch, wenn sich diese Verbindungen über den gesamten Globus ausbreiten.

Der Showcase beginnt mit Pagaehun. Ein K-Pop-Newcomer, der erst vor weniger als einem Jahr bei der Firma ATCM debütierte. Mir gefallen seine hyper eingängigen Popsongs ausgesprochen gut. Er tritt mit vierköpfiger Band auf. Und stilistisch reicht sein Konzert von der super emotionalen Ballade bis zum rockigeren „Play With Me“. Mit mal melancholischem Vibe und stets höchst melodisch. Wirklich begeistert bin ich von den LED-Projektionen auf der Bühnenhinterwand. Manche mögen monieren, dass so viel Optik von der Band und ihrem Wirken ablenken könnte. Aber wie da die Animationen passend auf die einzelnen Songs abgestimmt sind, ist im wahrsten Sinne des Wortes großes Kino. Von einem Riesenrad über Street Art bis hin zu einem fulminanten Feuerwerk. Und wir sprechen hier wohlgemerkt nicht von einer Arena-Show, sondern von einer mittelgroßen Location.

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Funken auf der Bühne: Pagaehun beim Mu:con Festival in Hongdae in Seoul

Animal Divers mit hypnotischer „Electronic World Music“ & Lasershow

Wie schon bei der Show von IVE in Berlin im Juni fällt mir auf, dass die Musiker*innen sehr viel kommunizieren. Aber wo sind die Untertitel, wie ich sie von Drama-Serien aus Korea gewohnt bin? Egal, der Charme transportiert sich auch so und ist in der Regel sehr warmherzig wie aufmerksam.

Musikalisch gänzlich anders geht es weiter mit Animal Divers. Das 2017 in Seoul gegründete Duo bezeichnet seinen Sound selbst als „Electronic World Music“. Handpan und Didgeridoo korrespondieren da mit E-Gitarre, Keyboard und Electronica. Ein hypnotischer bis ultra tanzbarer Sound, der mehr Techno als Ethno ist. Und gemeinsam mit grafischen Visuals und Lasershow (!) entfesselt Animal Divers einen wilden Sog, der mich sehr gut mitnimmt. Einen schönen Kontrast bildet dann Hey Men. Seit acht Jahren macht diese Band aus Korea gemeinsam Musik. Dabei kombinieren sie reichlich Rock mit Rap, poppigen Elementen und catchy Mitsing-Phrasen.

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Lasershow des Duos Animal Divers bei der Mu:con in Seoul

Werbung in den Umbaupausen & ein Wiedersehen mit Indie-Band Cotoba

Die einzelnen Auftritte des Mu:con-Showcase sind im Schnitt 30 Minuten lang. Und die Umbaupausen dauern stets nur einige Minuten. Alles geht flott über die Bühne. Und zur Überbrückung laufen Werbespots, zum Beispiel von Spotify oder Bose. Kommerzielle Berührungsängste sind offenbar weniger vorhanden als in Deutschland. Obwohl da zum Beispiel beim Hurricane ja auch mittlerweile Werbung in den Pausen läuft. Eine Alternative, die zumindest zu überdenken ist bei den aktuellen Preisexplosionen und Nöten in der Live-Branche.

Für mich gibt es dann ein schönes Wiedersehen mit der wunderbaren Band Cotoba aus Seoul. Ihr elegischer, rauer und einfallsreicher Indie- und Post-Rock hat mich 2023 bereits auf dem Reeperbahn Festival beim Showcase der KOCCA überaus eingenommen. Dafne, Dyon Joo, Hyerim und Minsuh begrüßen ihre Fans auf Koreanisch, Japanisch, Englisch und — weil sie bald in Mexiko auf Tour gehen — auch auf Spanisch. Wow!

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Bereits auf dem Reeperbahn Festival 2023 sehr toll: Cotoba aus Seoul bei der Mu:con

Numori, The Solutions & Einblick in globale Musikmärkte beim Networking

In Hongdae ist es mittlerweile dunkel geworden. Und das nächtliche Treiben an diesem Freitagabend verdichtet sich zusehends. Einige Gehminuten weiter sehe ich in der Musinsa Garage, einer cleanen Keller-Location, noch den letzten Song von Numori. Ein fulminater Hybrid-Sound aus K-Pop, Rock und traditionellen Klängen aus Korea. Inklusive der zwei-felligen Trommel Janggu. Mit dem Konzert von The Solutions in der dritten Locations, dem Hongdae Café, endet meine musikalische Tour über die Mu:con. Das Quartett spielt seit 2012 zusammen und ist bei dem Label Happy Robot Records unter Vertrag. Ihr Indie-Rock erinnert mal an Manchester Rave, mal an Alternative- und Grunge-Bands aus den USA.

Kurz vor dem Finale mit The Solutions besuche ich noch das Networking-Event der Mu:con oben im Hongdae Café. Mit einem leckeren Buffet und drei verschiedenen Biersorten vom Hahn zur Selbstbedienung. Dort lerne ich unter anderem Natasha Chu kennen, die in Taipeh die auf Rock spezialisierte Konzerthalle The Wall Live House betreibt. Wir unterhalten uns darüber, wie sich ihr Venue und die Livemusik von der Pandemie erholt hat. Und wie wichtig für ihr Booking die Musikszenen und Märkte in China und Südkorea sind. Tag eins in Seoul. Und ich fahre zurück zu meinem Apartment. Angefüllt mit Geschichten und Eindrücken. Und mit Musik.

Audiovisuelle Eindrücke von der Mu:con 2024 gibt es in meinem Highlight „Seoul Pop 24“  auf Instagram 

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Reeperbahn Festival Fazit 2024 — zwischen Cash und Crewlove

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Noch bin ich herzerfüllt vom Norden Festival in Schleswig, das ich vier Tage lang moderieren durfte. Und schon liegt das Reeperbahn Festival an. Das heißt: sehr viel Musik, sehr viele Menschen.  Für mich ist das jedes Jahr ein überbordender wie erfüllender Mix an Input, Inspiration und Austausch mit vertrauten, neuen und lieben Leuten. In Zahlen bedeutet das für 2024: 45.000 Musik-Fans erleben 480 Konzerte sowie 40 Lesungen, Live-Podcasts und Ausstellungen in vier Tagen und Nächten in Hamburg. Zudem 240 Programmpunkte bei der Konferenz mit 400 Speaker*innen aus 52 Nationen. Wow. Speaking of Reizüberflutung. Also erst einmal locker rein und bei bestem Wetter hin zum Festival Village auf dem Heiligengeistfeld auf St. Pauli. Was mir sofort auffällt: Es sind viele junge Leute am Start zwischen Bühnen und Flatstock-Posterausstellung, zwischen Skateboard-Halfpipe und 3D-Druck-Container. Das liegt unter anderem daran, dass die Jugendkultur-Konferenz TINCON mittlerweile an das Reeperbahn Festival angedockt ist. Ein kluger Zug.

Diskutiert die Branche doch aktuell intensiv die Frage: Wie lässt sich das junge Publikum nach der Erfahrungslücke der Pandemie-Jahre und in der aktuell herausfordernden Krisenlage wieder für Popkultur begeistern. Und zwar sowohl für den Besuch von Konzerten, Festivals und Club-Veranstaltungen, als auch für ein Berufsleben im Pop-Business. Beim Panel „Generationswechsel in der Musikbranche“ erzählt etwa Ralph Christoph, Gründer der c/o pop in Köln, wie sie ihre Convention nach Corona gezielt auf junge Menschen ausgerichtet haben. Und wie es auch schlichtweg die Aufgabe älterer Profis ist, engagierten Nachwuchs zu finden und diesen einzubinden. Es geht also darum, Know-how weiterzugeben und zugleich auf junge Perspektiven zu vertrauen.

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Moonpools aus Basel beim Reeperbahn Festival auf dem Spielbudenplatz im Herzen von Hamburg, fotografiert von Biggy Pop, Titelbild von Robin Schmiedebach Photography

Wo steht die Branche und welche Aufgaben gilt es, in Zukunft anzugehen?

Die Themenpalette der Talks beim Reeperbahn Festival reicht von Nachhaltigkeit bis KI, von Machtmissbrauch in der Musikbranche bis zur Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Resilienz im Pop bis zu politischem Engagement in Zeiten des Rechtsrucks. Eine tolle Bandbreite.

Ein starker Fokus liegt in diesem Jahr auf der übergreifenden Frage: Wo steht die Branche derzeit und welche Aufgaben gilt es, in Zukunft anzugehen? Diskussionsgrundlage ist dabei die zum Reeperbahn Festival frisch veröffentlichte Studie „Musikwirtschaft in Deutschland 2024“. Daher kommt das im Titel dieses Blogposts wegen der schönen Alliteration etwas salopp angekündigte „Cash“. Es geht also um Geld, Gewinne, Ökonomie, vor allem aber um die Lebensgrundlage von fast 156.000 Erwerbstätigen, die von der Popbranche leben. Also auch um: faire Bezahlung.

Laut der Musikwirtschaftsstudie sind die Umsätze von 2019 bis 2023 von 14,8 auf 17,4 Milliarden Euro gestiegen. Ein Zuwachs von 18 Prozent. Die Ergebnisse zeigen also erst einmal, dass die Musikbranche nicht nur ein kulturell wichtiger Faktor in der Gesellschaft ist, sondern auch ein ökonomischer. Beim Get-Together „Soundcheck Hamburg“ erklärt Kultursenator Carsten Brosda allerdings auch, dass die Erlöse innerhalb der Branche gerechter verteilt werden müssen. Sodass das Geld auch tatsächlich bei den Musikschaffenden ankommt. Das heißt: die Zahlen sehen nicht für alle gleichermaßen so rosig aus, wie auf den ersten Blick vermuten lässt.

Deep Dive in die Studie „Musikwirtschaft in Deutschland 2024“

In dem Panel „Alles ist Zahl“, das ich auf dem Reeperbahn Festival moderiere, machen wir mit einer toll besetzen Runde noch einmal einen Deep Dive hinein in die Studie. Birgit Böcher vom Verband Deutscher Musikverlage und Georg Sobbe vom Bundesverband der Musikindustrie betonen, wie wichtig diese Zahlen sind, um sich auch gegenüber der Politik als einflussreiche Größe zu positionieren. Christian Gerlach von der Veranstaltungsagentur Neuland und Musikmanagerin Tina Krug (Honey & Spice) geben spannende Einblicke in ein immer zahlengetriebeneres Arbeiten – von der Streaming-Analyse bis zu Ticketverkäufen. Ihre Devise: Zahlen für die eigenen Strategien nutzen. Aber zugleich Ruhe bewahren. Und vor allem an die Artists und ihre Entwicklung glauben.

Der Tenor insgesamt: Durch Corona ist der Branche der Wert valider Zahlen noch einmal bewusster geworden. Zum Beispiel wenn es um die Legitimierung von Förderungen geht. Und die Musikwirtschaft ist insgesamt enger zusammengerückt. Der große Wunsch ist daher, nicht zu dem Hauen und Stechen der vorpandemischen Jahre zurückzukehren. Sondern: Trotz Preisdruck und Inflation in und zwischen den Teilbereichen vom Instrumentenhandel bis zu Recorded Music besser zu kooperieren und zu kommunizieren.

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Das letzte Reeperbahn Festival am Nobistor-Standort des Molotow: Pip Blom im Backyard

Keychange-Studie zur Geschlechtergerechtigkeit stimmt nachdenklich

Und noch eine wichtige Umfrage wird im Zuge des Reeperbahn Festivals veröffentlicht: die dritte Keychange-Marktforschungsstudie zur Geschlechtervielfalt im deutschen Musikmarkt. Die Ergebnisse stimmen nachdenklich: FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter-, Trans- & Agender) glauben noch nicht an eine Chancengleichheit in der Branche. „Die befragten Akteur*innen bewerten die Situation weiterhin überwiegend kritisch, zum Teil sogar kritischer als bei der Studie vor drei Jahren“, erklärt die Initiative Keychange, die sich seit Jahren für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Popindustrie einsetzt.

Ein weiteres Resultat: „In Bezug auf gesundheitliche Themen wie Menstruation und Menopause ergab die Studie, dass knapp vier von zehn der Befragten Einschränkungen in ihrem Berufsleben wahrnehmen, in den meisten Unternehmen aber nicht offen darüber gesprochen wird.“ Ich sag mal so: Luft nach oben.

Konzerte von Bibi Club bis Pip Blom, von Moonpools bis Beth McCarthy

Wo Keychange allerdings bereits sicht- und hörbare Erfolge zu verzeichnen hat, ist die Repräsentation von FLINTA*-Personen auf den Bühnen. Beim Reeperbahn Festival 2024 erlebe ich, ohne es bewusst geplant zu haben, fast ausschließlich Bands, in denen mindestens eine Frau am Start ist. Bibi Club aus Kanada mit ihren Indie-Pop-Oden zwischen Schreddern und Schwelgen. Soffie mit starker Stimme, klarer Haltung und ihrer Utopie „Frühling“. Pip Blom aus den Niederlanden, die nachmittags charmant wie impulsiv in den Molotow-Backyard hineinkrachen. Die Schweizer Shoegaze-Gruppe Moonpools, die druckvoll verträumt den Sonnenuntergang auf dem Spielbudenplatz verstärkt. Die immer wundervoller werdenden Willow Parlo aus Hamburg mit ihrem hypnotischen Dreampop. Oder die höchst show-agile und für den Anchor Award nominierte Beth McCarthy, die mal eben sämtliche Pop-Personas von Avril Lavigne über Pink bis Miley Cyrus in sich vereint und zu etwas Eigenem überhöht.

Das Reeperbahn Festival ist für mich besonders spannend, wenn ich neue Ideen und leidenschaftliche kritische, kluge Menschen kennenlernen kann. Sehr anregend ist zum Beispiel das Panel „Collective Empowerment – von feministischen Musikkollektiven lernen“. Eyob Öder vom Berliner DJ-Kollektiv xcuse:u und Yung Womb von der Hamburger Slic Unit erzählen von ihrem Engagement zwischen Passion und Professionalisierung, zwischen steigenden Preisen und Solidarität, zwischen Clubsterben und eigenen Safe Spaces.

Panel „Wo ist die Crewlove?“ zur Lage von Selbstständigen

Der Wunsch nach Gemeinschaft äußerst sich auch sehr stark auf dem zweiten Panel, das ich auf dem Reeperbahn Festival moderiere. Unter dem Titel „Wo ist die Crewlove?“ rede ich mit tollen Expert*innen über die Lage von Selbstständigen in der Musikbranche. Marcus Pohl, Gründer der Produktionsfirma Artist Alliances, setzt stark darauf, Kompetenz und Selbstbewusstsein der Freelancer*innen in Sachen Preiskalkulation und Verhandlungen zu erhöhen. Sein Credo: nicht um wortwörtlich jeden Preis jeden Job annehmen. Johannes Everke vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft fordert mehr Rechtssicherheit seitens der Politik für die Arbeit von Freien.

Eine Möglichkeit für mehr Crewlove und Absicherung möchte Tontechniker Timo Bittner bieten. Mit „viele“ gründet er derzeit eine Genossenschaft, die Technikschaffende fest anstellt. Das soll Entlastung bieten in Sachen Administration und Lohndumping verhindern. Musikerin und Labelbetreiberin Lina Holzrichter wiederum stellt das Artist-Netzwerk D-Popkultur vor, das freien Musiker*innen eine stärkere kollektive Stimme verleiht.

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Korean Reception vorm Mojo Café beim Reeperbahn Festival

Receptions, Receptions, Receptions vom Hamburg-Haus bis nach Korea

Das Reeperbahn Festival bietet ganz unterschiedliche Ebenen, um sich mit der Musikwelt zu verbinden. Im Hamburg-Haus, das dieses Jahr im Häkken mitten auf dem Kiez beheimatet ist, präsentiert etwa die feine Agentur Backseat ihr Portfolio mit den famosen Musikerinnen Ami Warning und Betti Kruse. Bei strahlender Sonne wiederum tauche ich ein in die wundervolle Diversity-Crowd von RockCity Hamburg. Gemeinsam mit Carsten Brosda schauen sie auf ihre Aktivitäten der vergangenen Monate zurück und geben einen Ausblick auf die Konferenz Operation Ton Ende Oktober 2024. Ich gucke auch beim frühabendlichen Brunch des bayerischen Popverbands vorbei. Und beim „S(ch)nacken mit der Initiative Musik“ geht es dann auf Bundesebene weiter.

450 Acts aus mehr als 30 Nationen treten beim Reeperbahn Festival mit Konzerten in 80 Spielstätten auf. Und diverse Länder richten mit ihren Export-Büros für Musik eigene Receptions aus. Ich besuche seit Jahren auf jeden Fall den koreanischen Empfang, den die Organisationen Mu:con und Kocca gemeinsam mit der Hamburger Agentur Pop up ausrichten. Sehr ausführlich tausche ich mich da aus über eines meiner Lieblingsthemen: K-Pop und K-Culture.

Das neue Musik Treffen Hamburg versammelt die Szene vor der Komet Bar

Neu in diesem Jahr: die Alternativ-Veranstaltung Musik Treffen Hamburg, bei der sich die hiesige Szene und Subkultur in Clubs präsentiert, die nicht am Reeperbahn Festival teilnehmen. Von der Hedi übers Hafenklang bis zum Pudel. Der Empfang des Musik Treffen Hamburg vor der Komet Bar gerät zum freundlichen Who is who vieler toller Personen, die das Musikleben der Stadt am Laufen halten. Allerdings haben Die-Hard-Musikfans auch schon angemerkt, wie schade es ist, dass sie die Konzerte des Musik Treffen Hamburg nicht besuchen können, da sie bereits einen Reeperbahn-Festival-Pass haben. Und zu viel sei eben zu viel. Nächstes Jahr soll es eine Fortsetzung geben. Es bleibt also interessant.

Und sonst? Der an das Reeperbahn Festival angedockte extra Irrsinn: Linkin Park veranstalten mit ihrem Label Warner mal eben eine Drohnen-Show über dem Kiez, um auf ihr neues Album hinzuweisen. Und K.I.Z. starten kurzfristig am Millerntor den Vorverkauf für ihr „Nur für Frauen“-Konzert und sorgen für die wohl längste Schlange bei diesem Festival.

Von Powerhouse Alli Neumann bis Spirit Animal Kate Nash

Zudem drei bis fünf besonders schöne Ereignisse: Charisma-Powerhouse Alli Neumann erhält den Keychange-Inspiration-Award. Und sie spielt im Rahmen des Reeperbahn Festivals in der Elbphilharmonie. Die grandiose Uche Yara, die ich beim Reeperbahn Festival 2023 für mich entdeckt habe, gewinnt den VUT Indie Award als beste Newcomerin. Und Kate Nash ist mittlerweile so etwas wie das Spirit Animal des Reeperbahn Festivals. Am Samstag gibt sie direkt zwei Konzerte. Inklusive Bad in der Menge auf dem Spielbudenplatz und Dirty-Dancing-Einlage in der Großen Freiheit.

Ich muss mich jetzt erst einmal ausruhen, all die Musik und all die Eindrücke wirken lassen und verbleibe inspiriert sowie gelassen mit Lyrics der hinreißenden Betti Kruse: „Alles hat seine Zeit / Und seinen Beat“.

Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2024 gibt es in meinen Highlights auf Instagram 

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Die lieben Kolleg*innen:

Stets empfehlenswert sind die Artikel und der Content der super sympathischen Menschen von Musicspots, zum Beispiel auf Instagram

Immer wieder begegne ich auf dem Reeperbahn Festival auch Anke vom Blog Nimmst du mich mit, schaut doch mal bei ihr vorbei

Das Hamburger Abendblatt, allen voran mein lieber Kollege Tino, hat auf dem Reeperbahn Festival einen Pop-up-Podcast-Container bespielt und tolle Interviews mit Menschen aus der Branche geführt

K-Pop und Fankultur: Konzert der Girlgroup IVE in Berlin

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Seit längerer Zeit beschäftige ich mich K-Pop, also mit koreanischer Popkultur. Die Musik an sich, die Nutzung des digitalen Raums, Vertrieb, Storytelling, Produkt-Ideen und vor allem die Kommunikation mit den Fans sind so ausgefeilt, dass sich daraus einfach viel lernen lässt für die Musikbranche. Die K-Welle schlägt nicht nur gastronomisch vor allem in hiesigen Großstädten gerade voll durch. Immer mehr koreanische Acts werden von Clubs bis zu großen Hallen gebucht. Nachdem ich von dem Konzert der K-Indierock-Band The Rose im März in der Sporthalle schon schwer begeistert war, wollte ich unbedingt bald eine richtig große K-Pop-Show sehen. Also kaufte ich mir für 115 Euro im Resale eines der (noch günstigeren) Tickets für die südkoreanische Girlgroup IVE (gesprochen wie das englische „I’ve“). Ich bin ein riesiger Fan von Fankultur. Und bereits vor dem Konzert in der Uber Arena in Berlin war die Euphorie überdeutlich zu spüren.

Der K-Idol-Store in der benachbarten East Side Mall wurde ebenso belagert wie der dortige Bubbletea-Shop. Und zwischen den Wasserfontänen vor der Uber Arena posierten die Fans für Selfies oder tanzten für ihre Reels und Stories die Choreografien von IVE nach. Das Sextett hat sich 2021 gegründet und gehört zur vierten K-Pop-Generation. Bei den Kolleg*innen von Laut lässt sich die Geschichte der Gruppe gut und kompakt nachlesen. Das Konzert in Berlin war Teil ihrer ersten Welt-Tournee „Show What I Have“.

IVE in Berlin: aufgeregte und geradezu liebevolle Energie

Das Ambiente in der Arena habe ich als etwas sortierter wahrgenommen als etwa im Vergleich zum Harry-Styles-Konzert im Hamburger Stadion. Was bestimmt unter anderem daran lag, dass der Innenraum ebenfalls bestuhlt war. Allerdings wurde so natürlich auch vorgebeugt, dass junge Fans im Gedränge kollabieren. Die Atmosphäre war aber insgesamt von einer aufgeregten und geradezu liebevollen Energie aufgeladen. Gerade in der jetzigen Zeit berührt es mich besonders, wenn ganz verschiedene und vornehmlich junge Menschen friedlich und passioniert zusammenkommen. Mädchen mit Kopftuch waren da ebenso zu sehen wie Jungs mit Make-up. Alle da. Alles schön.

Vor mir saß ein Mädchen, die während des Konzerts ausdauernd ihren IVE-Lightstick (siehe Titelfoto) schwang, während ihr Vater neben ihr geduldig und mit ruhiger Hand das Insta-Live filmte. Und neben mir hockte ein Mädchen, das ein wenig an Avril Lavigne mit Locken und Brille erinnerte. Sie schrie regelmäßig aus voller Seele. Natürlich besonders zu Beginn des Konzerts. Und die emotionale Wucht, die sich zum Auftakt in der Arena entlud, trieb sogar mir einige Tränen in die Augen. Einfach, weil es so toll ist, derart kollektiv das Leben zu spüren.

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Die Bühne in der Uber Arena in Berlin kurz vor dem Start des Konzerts von IVE

Yujin, Gaeul, Rei, Wonyoung, Liz und Leeseo als weibliche Role Models

Das Konzert von IVE in Berlin begann mit dem Song „I Am“, der mir mit seinem theatralen Pop-Appeal super gefällt. Neben Videoleinwänden sowie ab und an einigen zusätzlichen Tänzerinnen fokussierte sich das Konzert für gut 2 1/2 Stunden auf die sechs Künstlerinnen. Ein guter Fokus. Denn Singen, Rappen, Tanzen und bis hinein in das kleinste Augenzwinkern auf den Punkt zu performen, ist ja nun wirklich Show genug. Sehr spannend fand ich die Struktur des Auftritts in vier Akten. Die Outfits wandelten sich dabei von weiß und verspielt bis hin zu schwarz und „bad ass“. Vom Stil her sehr feminin mit Miniröcken, rosigen Wangen und Glitzeraufklebern um die Augen. Kurz gab es eine Passage im Baggy-Look, der für meinen Geschmack gerne noch stärker hätte präsent sein dürfen. Doch die Stärke lag definitiv in der Präsenz und Dynamik der sechs Frauen.

Dass das Publikum da so heftig weibliche Role Models bejubelt, macht mich schlichtweg glücklich. Und mit einigen Cover-Versionen, unter anderem von Spice Girls’ „Wannabe“, wird auch den internationalen Wegbereiterinnen Tribut gezollt. Schön und ungewöhnlich sind auch die ausführlichen Passagen, in denen Yujin, Gaeul, Rei, Wonyoung, Liz und Leeseo sich einzeln vorstellten, über die Songs sprachen und sich bei ihrer Fan-Community DIVE bedankten. Das alles simultan von einer Stimme aus dem Off ins Deutsche übersetzt. Wie sehr K-Pop hierzulande bereits angekommen ist, zeigte auch ein Abschnitt, bei dem einzelne aus dem Publikum mit einer Fan-Cam eingefangen wurden. Im Freestyle sollten sie zu verschiedenen Songs von IVE eine Choreo hinlegen. Und wie akzentuiert, detailreich und leidenschaftlich da getanzt wurde, war wirklich beeindruckend. Ein guter Vibe.

Finale mit Herz-Gesten, Verbeugungen und lautstarkem Kreischen

Musikalisch am energetischsten waren Hits wie „Accendio“, „Kitsch“ und „Baddie“. Und „After Like“ holt mit seinem „I Will Survive“-Sample nicht nur Gloria-Gaynor-Fans ab, sondern auch jene aus Robbie Williams‘ „Love Surpreme“-Phase. Smart. Mit dem impulsiven Icona-Pop-Cover „All Night“, vielen Herz-Gesten, Verbeugungen und lautstarkem Kreischen der Fans endete diese Show. Und auch der garstige Regen, der draußen in Berlin eingesetzt hatte, konnte das Glühen der Fans im Anschluss kaum eindämmen.

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August August im Häkken: mehr Wut, mehr Weichheit

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Nach einem kämpferischen und auch traurigen Jahresende für die Clubkultur in Hamburg ging es optimistisch hinein ins Jahr 2024. Die Demo für den Erhalt des Molotow war laut und solidarisch. Und der Abschied von der Astra Stube sowie den weiteren Sternbrücken-Clubs schlug heftig und melancholisch ein. Doch dann lud Kettcar direkt am 1. Januar zum fulminanten Neujahrsempfang mit Karaoke ins Knust. Und Brockhoff scharte wenige Tage später im Molotow viele tolle musikschaffende Freunde wie Shitney Beers und Willow Parlo um sich. Jedes Mal überdeutlich zu spüren: eine zugewandte Wärme. Die älteren Superfans stehen in der ersten Reihe und glühen mit den Jüngeren in ihrer Leidenschaft um die Wette. Vertraute Menschen, neue Gesichter, Offenheit. So auch jetzt beim Konzert der Indie-Band August August im Häkken auf St. Pauli. 

Niemand kann jetzt noch sagen, die Zeichen sind nicht deutlich

„Es tut gut, mal wieder vor die Türe zu kommen“, sagt Sängerin und Bassistin Kathrin Ost. Das Schöne daran: In Hamburg vor die Türe zu gehen und dann in die Clubs, fühlt sich für mich oftmals an, wie nachhause zu kommen. Lange gewachsenen Freundschaften. Herzliche Ausgehbekanntschaften. Die Leute, die ich seit Jahren vom Sehen kenne. Und das, was die Autorin Katja Kullmann so treffend als „Zufallszwischenmenschlichkeiten“ bezeichnet. Diese Verdichtung von Menschsein an Musik gibt mir ein Gefühl von Halt und Abenteuer gleichermaßen. Und momentan bin ich diesbezüglich besonders emotional. Während sich die rechte Härte durch die Gesellschaft zieht und solch offene Orten umso wichtiger sind. Und während harte Profitinteressen die kulturelle Vielfalt in Hamburg und überall im Land bedrohen. 

Offenbar bin ich nicht die einzige, der dabei eng ums Herz wird, bis die Gefühle kochen. Kathrin Ost setzt gegen Ende des Konzerts im Häkken zu einer wütenden Rede an. Von den geänderten Spotify-Regeln, die unabhängige Artists erst über die 1000-Streams-Marke springen lassen wollen, bis sie für ihre Kunst vergütet werden. Von der Macht, die jedoch alle Indie-Musiker*innen zusammen bilden. Und vom Molotow, das im Sommer am Nobistor ausziehen muss, um einem Hotel zu weichen. „Wir müssen in diesem Jahr mehr demonstrieren, damit sie uns nicht alles unterm Arsch wegreißen“, ruft Kathrin im Häkken. Niemand kann jetzt noch sagen, die Zeichen sind nicht deutlich. 

„Ich hoffe, Du weinst“: Plädoyer für Gleichberechtigung in allen Gefühlen

Der beherzte Appell passt sehr gut zu dem schroffen schönen klugen Indierock-Album, das August August 2022 veröffentlicht hat: „Liebe in Zeiten des Neoliberalismus“. „Wie prägt das Politische unsere privaten Beziehungen? Warum bestimmt immer die Mehrheit, was als normal gilt? Und wohin mit der Wut, Trauer und Ohnmacht angesichts all der Schieflagen in unserer Gesellschaft?“, schrieb ich damals in der Album-Bio für die Band. Die Zusammenarbeit mit Kathrin und ihrem musikalischen Partner, dem Gitarristen und Produzenten David Hirst, empfand ich damals bereits als ungemein intensiv, tief, humorvoll, leicht und bereichernd. Umso mehr freue ich mich über diesen Abend im Häkken. Über krachend-slackernde Songs wie „Kaputt + Kein Hunger“. Über das zart driftende „Freunde“. Und vor allem über diverse neue Stücke von August August. 

„Anfang“ erzählt von der eigenen Verletzlichkeit. Von Mut. Und davon, womöglich übers Ziel hinauszuschießen. Aber besser Risiko als Stillstand. Das habe ich aus dieser neuen Nummer herausgehört. „Kreise“ handelt davon, aus den eigenen Schlaufen auszubrechen. Und bei „Ich hoffe, Du weinst“ versetzt Kathrin sich in eine männliche Perspektive. Wie Männer oftmals so unglaublich hart zu sich sind, um den Erwartungen des Patriarchats zu entsprechen. „Wir müssen da alle nicht mitmachen“, erklärt sie. Ein Plädoyer für mehr Weichheit. Für Gleichberechtigung in allen Gefühlen. 

Es geht um Verbindungen, auf und vor der Bühne

Besonders gepackt hat mich der neue Song „Worauf wartest du noch?“. Wehmut über verpasste Chancen. Verlust und Ängste. Aber wir sind doch noch da. Wir haben doch noch Leben. Nicht nur übrig, sondern voll und ganz und präsent. „Hast du mehr erlebt, als du tragen kannst, und weniger als du dir erträumt hast?“, singt Kathrin mit ihrer eindringlichen markanten Stimme. Eine Frage, die ganz schön reinhauen kann.  

Der Sound der Band ist dicht, rau, frei atmend, zart gepickt und nachhallend. Von Grunge über Indie-Rock bis Dreampop. Alice in Chains, The War On Drugs und vieles mehr. Auch ein wenig Jochen Distelmeyer mit „Wir sind frei“-Vibes weht mich an. David wechselt zwischen elektrischer und akustischer Gitarre. Als zweiter Gitarrist ist Gregor Sonnenberg vom Indiepop-Duo The Day dabei. Und neu an den Drums ist Annemarie van den Born von der Amsterdamer Indie-Band Loupe. Eine tolle Chemie. Es geht um Verbindungen. Auf und vor der Bühne. Um Austausch. Auch um all jene, die uns täglich inspirieren, obwohl sie nicht laut und hell im Rampenlicht stehen, wie Kathrin während des Konzerts in Hamburg betont. Es gilt, auf die Zwischenmenschlichkeiten zu achten. Im Alltag. In der Kultur. In dieser Stadt. 

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Biggy Pops Jahresrückblick 2023: dying or dancing?

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„Do I imagine myself dying or dancing?“ Diese Frage notiere ich mir Anfang dieses Jahres. Ich warte auf Biopsie-Ergebnisse. Tod oder Tanzen? Letztlich liegt die Antwort dazwischen. Ein seltener bösartiger Tumor, der erfolgreich herausoperiert wird. Zur Sicherheit mache ich im Frühjahr eine Strahlentherapie. 33 Werktage hintereinander radele ich in Hamburg ins Krankenhaus. Ich arbeite unterdessen weiter. Es lenkt mich ab. Es ist gut, aber auch notwendig. Über Kranksein im Zuge von Selbstständigkeit wird immer wieder zu reden sein müssen. Erst recht im Musik- und Kulturbereich. 

Tod oder Tanzen. Letztlich geht es für mich — losgelöst von der unmittelbaren existentiellen Bedrohung — um meine innere Haltung, wie ich der Welt begegne. Bin ich im Drama- und Krisen-Modus oder kann ich mich mit einer gewissen Leichtigkeit ins Leben begeben? Angesichts der persönlichen und globalen Umstände ist der positive Flow reichlich ins Stocken geraten. Im Jahresrückblick: Die Ukraine und Israel. Rechtsruck und Rassismus. Die Erde überhitzt und überschwemmt. Parallel dazu immer wieder die eigenen Energien aktivieren. Heilen. Weitermachen. Sehr viel lesen. Sehr viel Musik hören.

Motto für 2024: mehr tanzen! Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind

Bewegte ich mich die meiste Zeit 2023 in einer Art optimistischen Survival-Mode, überkam mich Ende des Jahres zunehmend eine große Erschöpfung. Von Corona zu Cancer. Drei Jahre Pandemie und dann Krebs. Untersuchungen. Behandlungen. Glück im Unglück. Wieder gesund sein. All diese Anstrengungen und Anspannungen rollten nun zeitverzögert durch Geist und Körper.

Mein Motto für 2024: mehr reisen, mehr tanzen. Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind, um dies zu tun. Das Jahr war popkulturell betrachtet ohnehin schon erneut herausfordernd. Der Sexismus in der Musikbranche kam mit den Enthüllungen um Rammstein aufs Hässlichste zum Vorschein. Musikschaffende können aufgrund gestiegener Kosten und neuer Spotify-Regelungen künftig noch schlechter von ihrer Kunst leben. Und große Konzerte werden dank irrsinniger Ticketpreise zum Luxusgut. Hinzu kommt in Hamburg zum Jahresende ein unglaublicher Aderlass in der Club-Kultur. Das Pal und die Sternbrücken-Clubs machen dicht. Und überraschend ist dem Molotow zu Mitte 2024 der Mietvertrag gekündigt worden. Tod oder Tanzen? Irgendwie beides.

Wir brauchen Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können

Ein Vierteljahrhundert meines Lebens habe ich bisher im Molotow verbracht. Dieser Ort — ob nun die alte Location in den Esso-Häusern oder die neue am Nobistor — ist absolut identitäts- und gemeinschaftsstiftend. Denn wir brauchen reale Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können. In denen wir uns tanzend imaginieren und neu erfinden. Wo Musik an den Gefühlen zieht und sie ausbrechen lässt. Bis der Schmerz und das Schöne, die Euphorie und die Zweifel aller sich zu einem wunderbar wirren Tanz zusammenfinden. Ein kollektives Erlebnis, das uns verbindet. Eine Utopie, die uns befeuert. Und für die es sich unbedingt zu kämpfen lohnt. 

Popkultur hat mich durch dieses Jahr getragen. Denn zum Glück gab es auch viele positive Entwicklungen und Ereignisse. Mehr Austausch über herausfordernde Themen. Mehr Awareness auf Festivals und in Clubs. Und auch wenn Aufzählungen im Jahresrückblick nicht das Spannendste sind, so möchte ich doch von einigen Highlights erzählen. Denn letztlich dienen sie auch der Selbstvergewisserung. Ich bin noch da. Wir sind noch da. Tauschen uns aus. Wir vertrauen uns. Und reiben uns. Wir gehen weiter. 

Popkulturelle Highlights 2023: „Barbie“, K-Dramas, Konzerte

Im Kino zeigte die Dokumentation über Die Sterne äußerst nahbar die Neujustierung einer Band. Und mit dem Referenzfeuerwerk „Barbie“ wurde im Mainstream wochenlang über Formen des Feminismus diskutiert. Dann noch die zu Dua Lipa tanzende Barbie, die mitten hinein in die Choreo fragt: „Do you guys ever think about dying?“ Check. Und sowieso: „I’m just Ken“. Was für ein Spaß! Toxische Männlichkeit revisited. Ich bin zudem verstärkt abgesunken in Serien. In die Hochleistungsküche von „The Bear“. In die gelebte Diversität von „Sex Education“. Und immer wieder in das einnehmende Storytelling von K-Dramas. 

Doch nichts geht über das Live-Erlebnis. Über ganz unterschiedliche Konzerte von unter anderem Robbie Williams, Hauschka, Vicky Leandros, Sigur Ros, Uche Yara, dem Joni Project und Alli Neumann, die ich 2023 erleben durfte. Der Hamburger Kneipenchor feierte ebenso zehntes Jubiläum wie ich mit meinem geliebten Gesangsensemble The Octavers. Im TBA in der Gaußstraße luden wir im Sommer zum Geburtstagskonzert. Eine lauschige Hinterhof-Location. Es leben die kleinen Off-Orte!

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Deer Anna & Biggy Pop, fotografiert von Jörg Tresp.

Jahresrückblick auf mein berufliches popkulturelles 2023

Immer wieder bin ich enorm dankbar, in meiner Arbeit als selbstständige Journalistin, Texterin und Moderatorin so vielen inspirierenden Menschen zu begegnen. Für Albumbios und Pressetexte habe ich mit großartigen Bands und Pop-Artists zusammengearbeitet. Unter anderem mit der deutsch-türkischen Indie-Formation Engin, mit der wunderbar geheimnisvollen Musikerin June Coco, mit der vielschichtigen Künstlerin Dorothee Möller aka Weesby, mit der immer wieder einfallsreichen Band Mischpoke, mit dem feinsinnigen Duo Fjarill oder mit Deer Anna, deren wahrhaftige Songs ganz tief in einem wirken.

Ich liebe es, mich intensiv über die Kunst auszutauschen und die Musik mit Geschichten zu verbinden. Meine Erfahrungen aus dieser texterischen Arbeit bringe ich seit diesem Jahr auch in Beratungen ein, zum Beispiel mit der tollen Cellistin Stefanie Richter aka Sophie & der Sommer. Zudem durfte ich meine Freundin Sascha Just begleiten, die ihre Dokumentation „Ellis“ über den Jazzmusiker Ellis Marsalis bei Filmfestivals wie der Soundtrack Cologne präsentiert hat. 

Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die meinen Horizont erweitern

Ich freue mich zutiefst über all die neu entstandenen und gesund gewachsenen Kooperationen. Über die immer neuen Ideen und den langen Atem. Über die Zusammenarbeit mit der Initiative Musik, mit RockCity und Oll Inklusiv etwa. Und auch über die angeregten Diskussionen bei meiner Gremientätigkeit für die Kulturbehörde Hamburg in der Labelförderung und beim Musikstadtfonds. 

Mein Dank gilt im Jahresrückblick zudem allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrem Input immer wieder meinen Horizont erweitern. Zum Beispiel Caro Schwarz vom Online-Magazin Musicspots, Fabian Schuetze vom Newsletter Low Budget High Spirit und Susanne Hasenjäger vom NDR, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen meine bloggenden Freund*innen Julia Keith von Beautyjagd und Weinspezialist Matthias Neske von Chez Matze. Keine Popkultur im engeren Sinne. Aber wir wollen ja alle hübsch über den eigenen Tellerrand hinausschauen, richtig?

Biggy Pop im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.
Biggy Pop bei „Operation Ton“ im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.

Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen

Es geht darum, wieder und wieder ins Gespräch zu gehen. Für meine NDR-Radiosendung Nachtclub Überpop habe ich mich mit KI befasst, mit der Lage von Newcomer*innen und Clubs. Auf Festivals und Konferenzen habe ich Panels zu Popkultur und Politik, Musikbranche und Songwriting moderiert. Und für das Hamburger Abendblatt habe ich nicht nur das Kulturleben der Stadt erkundet, sondern bin mit dem Thema „Harry Potter“ auch in das Podcast-Game eingestiegen.

Ich bin ein riesiger Fan von Fankultur. Deshalb begeistert mich die anhaltende Faszination für diese magische Geschichte ebenso wie die hypermodernen Kommunikationsformen des K-Pop. „Standing Next To You“ von Jung Kook ist vermutlich mein am meisten gehörter Song des Jahres. Dicht gefolgt von Miley Cyrus, die ich ebenfalls hart fangirle. „I Can Buy Myself Flowers“. Survival-Mode ins Positive gedreht.

Diese Hymne funktioniert auch beim Auflegen auf der Barkasse Hedi allerbestens. Die Parties als DJ auf der Elbe gemeinsam mit dem grandiosen Hedi-Team sind für mich große Kraftquellen. Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen. Und wenn die Leute dicht an dicht mitsingen. Vor allem wenn alle tanzen. Eine Leichtigkeit. Denn: „Nothing matters when we’re dancing“. In diesem Sinne: ein gutes Jahr 2024!

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Reeperbahn Festival Fazit 2023: What’s next, Pop?

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Was für ein Glück, direkt am ersten Abend des Reeperbahn Festivals eine tolle Entdeckung zu machen. Wenn einem direkt ein wilder wie wunderschöner Drive entgegenschlägt. Mit freundlichem Selbstbewusstsein entfesselt Uche Yara im Bahnhof Pauli mit ihrer Band einen Sound zwischen Indie-Rock, Pop und Rap. Hoch rhythmisch, mit spannenden Brüchen, um dann erneut und anders loszupreschen. Ihre Lyrics sind punchy und klug. In „www she hot“ verhandelt sie die großen und kleinen Monstrositäten, die der Planet Erde auszuhalten hat. „There’s a shitstorm in the system“, singt sie mit eindringlicher  Stimme. Ein furioser Hit, der bei mir direkt auf heavy rotation geht. Und der bisher einzige Song, den Uche Yara veröffentlicht hat. Genau dafür liebe ich das Reeperbahn Festival, das vom 20. bis 23. September nun wieder in Hamburg auf St. Pauli über die Bühnen ging. Junge Artists treffen in den Clubs und open-air geballt auf ein großes und neugieriges Publikum. 

Zu dieser 18. Ausgabe des Reeperbahn Festivals konnten 49.000 Musikfans rund 400 Bands und Musiker*innen aus mehr als 40 Ländern erleben. Ergänzt wurde das Programm durch 180 Talks, Ausstellungen und interaktive Angebote. 4000 Fachbesucher*innen arbeiteten sich zudem durch die Konferenz, also durch Panels, Networking-Events, Showcases und Award-Verleihungen. Ein irres Gewusel, das jetzt, in der ersten post-pandemischen Ausgabe, wieder das starke Gefühl hinterlässt, nie in Gänze zu bewältigen zu sein. Ein guter Lernort für Menschen mit Fomo. Kommen doch jedes Jahr neue Angebote hinzu. Dieses Jahr etwa die Digital-Konferenz re:publica. Kultursenator Carsten Brosda hält da unter anderem ein flammendes Plädoyer für die Stärkung und Neuerfindung des Journalismus in einer fragmentierten Medienrealität.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Opening emotional auf Elf

Die Opening Show am Mittwochabend und somit das gesamte Reeperbahn Festival stehen unter der Frage „What’s Next“. Also: Was müssen wir tun, um die nächste Generation für Popkultur zu begeistern? Und wie lässt sich unsere Gesellschaft im Allgemeinen und die Musikwirtschaft im Speziellen nachhaltig, divers und achtsam gestalten? Nach einem hanseatisch soliden Grußwort vom Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher dreht Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrer Rede direkt auf Elf. Und Rio Reiser zitierend ruft sie zum Handeln auf: „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wie, wenn ohne Liebe? Wer, wenn nicht wir?“ 

All die Statements von Aktivist*innen im Anschluss wirken in ihrer Aneinanderreihung auf Dauer jedoch leider etwas ermüdend. Teils wackelige Videocalls, eine leicht hämmernde Wiederholung der Keyphrasen und die Hitze im Operettenhaus sorgen für Publikumsschwund. Schade, denn die wirklich wichtigen Botschaften sollten ja unbedingt verfangen. Einen unfreiwillig emotionalen Effekt liefert da eine zu hoch abgefeuerte Luftschlangenkanone, die lange Papierstreifen in die Bühnentraverse schickt, während der Rest einige wenige Gäste unter einem dicken Blobb aus Papier begräbt. Nun ja. Das ist live. Und darum geht es ja. 

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Uche Yara im Bahnhof Pauli, fotografiert von Christian Hedel

Uche Yara als Teil des Förderprogramms „Wunderkinder“

Beim Konzert von Uche Yara ist er dann unmittelbar zu spüren, dieser Transfer zwischen Band und Fans. Die wechselseitige Freude. Das Kennenlernen, Staunen und Jubeln. Das Subversive und das Anregende. Stell die Verbindung her. Ein kollektives Miteinander auf Zeit, das stark nachwirkt. Konzerte richten die Antennen langfristig sozial aus. Die Musik schwingt noch Tage in einem weiter. Ebenso wie der Wunsch, diese Art von Gemeinschaftsgefühl wieder und wieder zu erfahren. 

Uche Yara, das sei noch erwähnt, ist eine österreichische Musikerin mit nigerianischen Wurzeln, die nun in Berlin lebt. Und die von Gitarre über Bass bis Schlagzeug zahlreiche Instrumente spielt. Vorgestellt wird sie zu Beginn des Reeperbahn Festivals beim „Wunderkinder“-Nachmittag. Ein Talent- und Exportförderprogramm des Reeperbahn Festivals, das hiesige Künstler*innen in den Austausch bringt mit internationalen Scouts von Booking bis zum Sync-Bereich. Die Journalistenkollegen Steve Blame und Daniel Koch präsentieren die Teilnehmenden 2023, darunter Acts wie Indie-Musikerin Brockhoff aus Hamburg und Parlo Brooks aus Düsseldorf mit seinem Coming-of-Age-Synth-Pop. Eine äußerst sinnvolle Sache. Eröffnen sich doch so handfeste Chancen, die eigene Karriere zu befeuern. 

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Die koreanische Indieband Cotoba auf dem Spielbudenplatz

Panel „Domestic Push“: Wie lässt sich die Karriere hiesiger Acts befeuern?

Offenbar gibt es einen großen Bedarf in der deutschen Musikbranche, die Beziehungen zu internationalen Popmärkten auszubauen. Eine Zeit lang wurde da womöglich auch einiges verschlafen. Das ist zumindest eines der Fazits des Panels „Domestic Push“, das ich am Donnerstag auf dem Reeperbahn Festival moderiere. Ich bin wirklich beeindruckt, was Christian Tjaben aus dem Organisationsteam da für ein geballtes Know-how auf dem Podium versammelt hat. Dementsprechend ist das Panel super besucht und die Leute hören bis zum Schluss konzentriert zu. Das freut mich natürlich sehr.

Max Mönster, Director A&R and Creative der Urban-Division von Universal Music spricht über seine Arbeit mit Rapper Haftbefehl im Vergleich zu der Strategie, die er nun mit dem jungen Hamburger Singer-Songwriter Berq fährt. Unter Vertrag genommen wurde Berq mit einem Video, das damals unter 1000 Klicks hatte. Ein Signing aus Überzeugung, das durch klar wirtschaftliche Themen querfinanziert werde. Eine Mischkalkulation also. 

Das bei den Majors überhaupt noch „emotionale Signings“ gemacht werden, freut wiederum Musikmanagerin Kleo Tümmler. Als Solo-Business-Frau vertritt und betreut sie Artists wie Popsängerin Jamie-Lee, Jazztrompeter Till Brönner und die Münchner Indie-Pop-Band Wait of the World. Auf dem Panel erzählt sie auch von ihrer früheren Arbeit mit Tokio Hotel, bei denen im Ausland damals von den Fans explizit die deutschsprachigen Nummern eingefordert worden seien. Ist der fehlende „Domestic Push“ also wirklich in der Sprachbarriere begründet oder mangelt es an entsprechenden Verbindungen und Programmen? 

„Bildet Banden“ fordert RockCity Hamburg gewohnt kämpferisch

Natascha Augustin, Vice President des Musikverlags Warner Chappell Music Germany spricht auf dem Panel unter anderem über die beschleunigte Erfolgsgeschichte von Ayliva. Neben deutschen Songs hat die Popsängerin auch Lyrics auf Englisch und in arabischer Sprache veröffentlicht. Henning Rümenapp, Head of Programming & Editorial bei Amazon Music Deutschland, stellt auf dem Podium die Nachswuchs-Programme des Streaminganbieters vor. Vor allem Amazon Music Breakthrough, in dessen Rahmen auch Rapperin Paula Hartmann am Festival-Mittwoch auftritt. Passend zu ihrem neuen Song „Schwarze SUVs“ auf entsprechendem Gefährt stehend. 

Für eine junge Künstlerin ist Paula Hartmann natürlich schon weit nach vorne gepusht. Vor allem im Vergleich zu all den vielen Newcomer*innen im Pop, deren Weg noch weit ist. Und die im Eierlegende-Wollmilchsau-Modus aus selbst gestemmten Veröffentlichungen, Social-Media-Hustle und gestiegenen Kosten im Live-Bereich zusehen müssen, dass sie sich nicht komplett selbst verheizen. „Bildet Banden“ fordert RockCity Hamburg gewohnt angenehm unangenehm kämpferisch bei der Reception „Fish You Were Here“. Auf deren Panel geht es unter anderem darum, untereinander mehr Transparenz zu schaffen in Sachen Vergütung und Honorare. Um dann gemeinsam entsprechend angemessene Preise fordern zu können. 

Leidenschaftsgetriebenes Wirken versus Selbstverheizung

Eine entschleunigte Art des Protests empfiehlt die wunderbare Nadia Shehadeh später im Imperial Theater. Die Autorin liest aus ihrem Buch „Anti-Girlboss — den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“. Und vor allem hält Nadia Shehadeh mitreißende Ansprachen, dass nicht immer alles nützlich sein muss, erst recht nicht die eigene Freizeit.

Wie sich das in das leidenschaftsgetriebene Wirken von Musiker*innen (oder auch Journalist*innen) integrieren lässt, darüber denke ich immer wieder nach. Jedenfalls dürfte Nadia Shehadeh derart redend und rantend gerne mal im Bundestag sprechen. Allein die Insights aus ihrer Arbeit mit Geflüchteten an ihrem Wohnort Bielefeld dürften für diverse Aha-Erlebnisse sorgen. 

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Im Gespräch mit Bundestagsabgeordnetem Michael Kellner auf Einladung des Forum Musikwirtschaft im Angie’s, fotografiert von Lina Essmann

Talk mit Staatssekretär Michael Kellner vom Kulturpass bis zur KSK

Politisch ist der Freitag auf dem Reeperbahn Festival für mich auch deshalb, da ich ein Panel mit Michael Kellner moderiere. Das Forum Musikwirtschaft, ein Zusammenschluss von sieben Musikbranchenverbänden, hat dazu eingeladen, den Politiker mit sieben drängenden Fragen zu konfrontieren. Denn Michael Kellner ist nicht nur Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz sowie Beauftragter der Bundesregierung für den Mittelstand. Er ist seit knapp einem Jahr zudem offizieller Ansprechpartner der Bundesregierung für die Kultur- und Kreativwirtschaft.

Was hat er für Ziele? Warum gilt der Kulturpass eigentlich nur für 18-Jährige? Wie lässt sich beim Publikum und auch bei den Fachkräften in der Musikbranche die Diversität erhöhen? Warum kann die Rückzahlung der Corona-Hilfen nicht entbürokratisiert werden? Wie können Wahrnehmungs- und Absatzmöglichkeiten für Newcomer*innen verbessert werden? Was sind seine Ansätze, um all den Schließungen im Musikfachhandel entgegenzuwirken? Und wie lässt sich die Künstlersozialabgabe stabil halten?

Ein konstruktives und in Teilen auch persönliches Gespräch. Natürlich reicht eine Dreiviertelstunde bei weitem nicht aus, um im Detail und in der Tiefe zu Klärungen zu kommen. Aber ich denke, dass es enorm wichtig ist, all diese Themen überhaupt erst einmal zu adressieren und auf die Agenda zu bringen. Und mir hat es Spaß gemacht, auch immer wieder konkreter nachzubohren. Zum Beispiel, wenn Michael Kellner in seine große Leidenschaft, den Basketball, abzuschweifen drohte.

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Kegeln ist serious business: Henning Mues (Euphorie, l.) und Sebastian Tim (Koralle Blau) zählen Punkte beim Pegelkegeln in der Trattoria da Mario

Politik, Parties, People und ein wohlwollendes Interesse füreinander

Pop ist und bleibt ein People’s Business. Das zeigt sich auf dem Reeperbahn Festival überdeutlich. Es entstehen Kontexte der Begegnung. Sei es die Präsenz der Politik. Seien es Formate wie das digitale Jugendfestival Tincon und das Recruiting-Format Music People, das ein Kennenlernen zwischen potentiellem Nachwuchs und Musikwirtschaft ermöglicht. Seien es all die angedokten Parties. Etwa die feine Sause des Konzertveranstalters Neuland, diesmal vor dem Backstein-Ambiente des Museums für Hamburgische Geschichte. Oder das famose Pegelkegeln der Indie-Firmen Euphorie und Koralle Blau. Was als lustiges Keller-Event begann, hat sich nun zu einem hippen Massenauflauf an der Corner-Ecke beim Grünen Jäger entwickelt. Frei nach Eminem: They created a monster. 

Auch ich bin innerhalb von vier Tagen und Nächten von einem Gespräch ins nächste getrudelt. Ob kurzer Schnack oder ausführlichere Unterhaltung, ob alte Vertraute oder neue Kontakte: Es ist ein großes Interesse aneinander zu spüren. Eine Wärme. Ein aufrichtiges Sich-Erkundigen. Das hinterlässt nach dieser turbulenten Sause den guten Eindruck, doch nicht im ganz falschen Bereich zu arbeiten.

Ist das Reeperbahn Festival zu teuer geworden?

Fakt ist allerdings auch, dass die internationale Vielfalt durch die angespannte wirtschaftliche Situation gelitten hat. Zwar gibt es nach wie vor zahlreiche Receptions. Etwa den koreanischen Nachmittag auf dem Spielbudenplatz, bei dem ich die grandiose Indiepop-Band Cotoba für mich entdeckt habe. Oder den herzlichen Empfang der Luxemburger, diesmal im Häkken mit weitem Blick über die Reeperbahn. Doch Länder wie Dänemark, Schweden und der Pop-Verbund aus dem osteuropäischen Raum fehlen dieses Jahr beim Reeperbahn Festival.

„Ist das Reeperbahn Festival zu teuer geworden?“, fragte das Hamburger Abendblatt im Vorfeld. Zum Hintergrund: Die Veranstaltung finanziert sich zu 25 Prozent aus den Ticketerlösen der Konferenz-Teilnehmenden und des Festival-Publikums, zu 54 Prozent durch die öffentliche Hand und zu 21 Prozent mit der Hilfe von Sponsoring- und Werbepartnern. Ich bin gespannt, wie sich die preisliche Entwicklung für 2024 gestaltet.

Softer NNDW mit Diggidaniel, Überraschungskonzert der Blood Red Shoes

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Die Blood Red Shoes bei ihrem Acoustic-Konzert am Spiegelsaal-Stand auf der Flatstock-Poster-Ausstellung

Musikalisch ist 2023 ein starker Zug gen purem Pop zu vernehmen. Das driftet mal hin zu einem beliebigeren Sound wie bei Fred Roberts aus UK in der Großen Freiheit. Mal gibt es charmante Überraschungen wie bei Diggidaniel aus Hannover im Kaiserkeller. Seine Version der Neuen Neuen Deutschen Welle fühlt sich soft und euphorisch an. Und so, als animiere er gerade seine Freunde im Partykeller der Eltern.

Das Reeperbahn Festival ist immer wieder gut für kleine feine Erlebnisse. So erfahre ich kurzfristig davon, dass die Blood Red Shoes bei der Flatstock-Poster-Ausstellung auf dem Heiligengeistfeld ein Acoustic-Konzert geben. Zwei Klappstühle, zwei Gitarren, zwei Stimmen. Fertig. Unverstärkt vor rund 30 Leuten. Toll! Die Schlange vor dem eigentlichen Konzert des Duos später im Gruenspan reicht dann von der Großen Freiheit bis zur Talstraße. Drinnen ist die Luft zum Schneiden und die Herzen fliegen hoch. Das ist live. Immer wieder. 

Und noch ein Tipp: In meiner Sendung Nachtclub Überpop gibt es ein Recap des Reeperbahn Festivals 2023. Zu Gast: Indiepop-Artist Shitney Beers, Sebastian Tim (Koralle Blau) und Tino Lange (Hamburger Abendblatt).

Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2023 gibt es in meinen Highlights auf Instagram 

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Hauschka & Kai Angermann in der Elbphilharmonie: ein aufreibender Fluss

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Was wäre, wenn wir das Leben viel mehr als Laborsituation begreifen? Als Versuchsfeld, das wir mit neugieriger Leichtigkeit beschreiten. Durchaus geleitet von unserem Eigensinn, von unseren Talenten und von unserer Intuition. Aber mit dem Wissen, dass im Ausprobieren und im Austausch die eigentliche Schönheit liegt, nicht im perfekten Resultat. Diese Idee haben der Pianist Volker Bertelmann alias Hauschka und der Percussionist Kai Angermann im Großen Saal der Elbphilharmonie grandios ausgebreitet. Ihr hochgradig intensives Konzert war Prozess und Ergebnis zugleich. Dabei hätte Volker Bertelmann einfach auf Nummer sicher gehen und zum Beispiel Klavierwerke von seinem Album „A Different Forest“ spielen können. Stücke von ruhiger, nahezu meditativer Kraft. Er hätte sich auch eingehend für seine zweite Oscar-Nominierung und seinen Bafta-Filmaward feiern lassen können, die er für den Soundtrack zu „Im Westen nichts Neues“ erhalten hat. Doch dass er gerade primär Musik für Filme und Serien komponiert, erwähnt er eher am Rande.

Stattdessen loten Hauschka und Kai Angermann in der Elbphilharmonie lieber mit reichlich Risikofreude die Spielräume ihrer Instrumente aus. Der Flügel, an dem Hauschka im Halbdunkel agiert, ist da kein harmonieseliges Gerät. Das Piano wird an diesem Abend zum Rhythmus- und Rauschmittel. Mehr Störfaktor als Schönklang. Ein elektrifiziertes, verfremdetes und präpariertes Instrument. Gemeinsam mit Percussionist Kai Angermann entfesselt er für eine gute Stunde eine auf- und abschwellende Improvisation, aufgeladen mit ungemein vielschichtigen Details. Wie eine dystopische Ode an unsere tosende Welt. In steter Repetition driften und dröhnen die Klänge durch Körper und Kopf. Sodass ich mich kurz frage, ob bei einem EEG sichtbar wäre, wie sich beim Hören meine Hirnströme verändern, sich womöglich an diesen kunstvollen Rave angleichen, während ich in eine Art unruhige Hypnose verfalle. 

Die durchaus brutale Wirkmacht der Wiederholungen

An seiner Station agiert und forscht Kai Angermann an Vibraphon, Becken, Trommeln und kleinerem Schlagwerk. Und im Dialog zwischen Hauschka und dem Percussionisten verschieben sich die Soundmuster mal minimal, mal in größeren Schüben. So wie vieles im Leben immer wiederkehrt und sich doch mit einer innerlichen Wucht nach und nach verändert.

Zum Teil scheinen die beiden jeweils ganz für sich zu spielen, ohne sich anzusehen, verbunden über den Klang. Im Laufe der Konzerts verlassen sie jedoch für einige Minuten ihre Instrumente und begegnen sich an einem Aufbau im hinteren Bereich der Bühne. Kai Angermann bearbeitet einen vertikal aufgehängten Gong. Hauschka spielt Synthesizer und Elektronica. Zurück an Piano und Percussion steigert sich der Sound zu einem dermaßen dichten wie eindringlichen Sound, dass es offenbar einigen im Publikum zu viel wird und sie frühzeitig den Saal verlassen. Schade. Denn dieses spannungsgeladene Pulsieren, diese über Strecken durchaus auch brutale Wirkmacht der Wiederholungen, erfährt am Ende eine tolle Katharsis. 

Am Ende: etwas löst sich

Mit Verve entfernt Volker Bertelmann alle Präparationen von seinem Flügel. Die Kabel und Klebestreifen. Die Holzstifte und die Klebebandrolle, mit denen er die Saiten beklopft und bearbeitet hatte. Alles landet geräuschvoll auf dem Boden der Elbphilharmonie. Und er setzt an zu einer harmonischen Befriedung. Sein einnehmendes Spiel klingt nach der drastischen klanglichen Erfahrung zuvor umso befreiender und beglückender. Ein Ballast fällt ab. Etwas löst sich. Viel Applaus. Ein stark nachhallender Abend. Bei dem — als Bonus sozusagen — noch eine neue Künstlerin zu entdecken war. 

Im Vorprogramm spielte die junge und hoch charismatische Musikerin und Komponistin Dobrawa Czocher, die mit Cello und Loopstation einen empathisch vibrierenden Orchesterklang erzeugte. Ein Name, den es sich zu merken gilt. Und zuletzt noch eine weitere Empfehlung: Der Auftritt von Hauschka und Kai Angermann stammt aus dem Portfolio der Konzertdirektion Palme. Für die kommenden Wochen steht da ein sehr fein kuratiertes Programm auf dem Plan — vom Club bis zum Konzerthaus. Als nächstes unter anderem zum Beispiel mit The Notwist in der Fabrik (13. März), dem Kaiser Quartett im Kleinen Saal der Elbphilharmonie (24.3.) und Charlotte Brandi im Nachtasyl (30. März). Für weitere Hörerlebnisse und Grenzverschiebungen.

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Data & Pop: Wie ESNS europäische Talente auf dem Radar hat

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In Kooperation mit ESNS //„Take up space / without pressure / without shame“, erklärt die Chemnitzer Band Power Plush in ihrer Single „Utopia“ zu sachte driftendem Indiepop. Ein Song wie eine wunderbar wattige Wolke. Das Quartett gehört zu den mehr als 350 europäischen Acts, die beim diesjährigen Festival Eurosonic Norderslaag, kurz ESNS, Raum einnehmen werden. Ob nun mit sattem Druck oder mit softer Wirkmacht. Nach zwei Pandemie-bedingt digitalen Ausgaben finden Showcase-Event und Konferenz nun wieder vor Ort im niederländischen Groningen statt. Und zwar vom 18. bis 21. Januar 2023. Besonders spannend finde ich, wie das Organisationsteam rund um das Festival einen Kosmos für europäische Newcomer*innen geschaffen hat. In einem Blogpost habe ich vor einigen Wochen bereits über das Förderprogramm ESNS Exchange und die Ergebnisse des Jahres 2022 geschrieben. Die Plattform ESNS Radar wiederum fokussiert sich nicht auf Booking-Erfolge, sondern auf Airplay und Streaming. 

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Die Band Power Plush, fotografiert von Janine Kühn (Titelbild: Wet Leg, fotografiert von Hollie Fernando).

Charts-Formate, die aufstrebende europäische Talente in den Fokus rücken

Ob es nun Segen oder Fluch ist: Datenauswertung gehört seit langem essentiell zur Musikbranche. Und mit ESNS Radar legt das Festival verschiedene Charts-Formate vor, die aufstrebende Talente in den Mittelpunkt rücken.

Zwar lässt sich auch ein allgemeines Ranking europäischer Stars abrufen, an deren Spitze solche Dauerbrenner wie David Guetta und Harry Styles stehen. Doch ESNS Radar wertet Radio- und Streaming-Präsenz eben nicht nur nach absolutem Erfolg aus, sondern vor allem nach Potential. Die Emerging Artists Charts von ESNS Radar enthalten Künstler*innen, die ihre erste Single in den letzten 36 Monaten veröffentlicht haben. Zusätzlich gibt es — noch mehr auf das Festival zugeschnitten — die ESNS Artists Charts. Darin enthalten sind Bands und Soloartists, die in den vergangenen drei Jahren beim Eurosonic Norderslaag aufgetreten sind. 

Auf dieser Grundlage analysiert ESNS Radar die Reichweite innerhalb von 62 Radiosendern in 41 europäischen Ländern. Kombiniert werden diese Ergebnisse mit Streaming-Positionen aus Spotify- und YouTube-Ländercharts. In Deutschland sind unter anderem die Jugendwellen N-Joy, Das Ding vom SWR sowie WDR 1Live in der Datenauswertung enthalten. Der Clou: Alle auf ESNS Radar präsentierten Charts sind grenzüberschreitend. Das heißt: Die Analyse konzentriert sich auf die Wirkung, die die Künstler*innen außerhalb ihrer Heimatländer erzielen. Es geht also letztlich darum, herauszukommen aus der eigenen Bubble. 

Von Armenien bis Irland, von Rosa Linn bis Cian Ducrot

Entwickelt wurde dieses Charts-Tool von ESNS in Partnerschaft mit Creative Europe, dem kulturellen Förderprogramm der Europäischen Union. Betrieben wird ESNS Radar wiederum von dem Unternehmen SoundCharts, das auf umfassende Datenauswertung in der Musikbranche spezialisiert ist. 

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Momentan führt die Singer-Songwriterin Rosa Linn die Emerging Artists Charts mit ihrem Folk-inspirierten Song „Snap“ an. Mit der Nummer war sie 2022 für ihr Heimatland Armenien beim Eurovision Song Contest in Turin angetreten. Nummer eins in den ESNS Artists Charts ist derzeit der irische Musiker Cian Ducrot, der seinen Durchbruch via TikTok erlebte. Auf der Webseite von ESNS Radar kann man sich nicht nur das Video zu seiner eindringlichen Piano-Hymne „I’ll Be Waiting For You“ ansehen. Aufgelistet sind zudem die „active markets“. Also jene Länder, in denen seine Musik gerade verstärkt rotiert. Bei Cian Ducrot sind das vor allem West- und Nordeuropa. Eine interessante Übersicht, um Trends zu erkennen. 

Power Plush und 16 weitere Acts reisen mit der Initiative Musik zum ESNS

Noch ist ein famoser Act wie Power Plush nicht in diesen nachwuchs-orientierten Charts vertreten. Aber die Band gehört zu den 17 deutschen Acts, die die Initiative Musik nach Groningen schickt. Ebenso mit von der Partie: Albertine Sarges, Albi X, anaïs, Bulgarian Cartrader, Donkey Kid, Flying Moon In Space, Gewalt, Jembaa Groove, Klangphonics, Leepa, M. Byrd, Public Display Of Affection, Schmyt und Stockdale. Zudem freue ich mich sehr, dass ich Bilbao aus Hamburg in dieser vielfältigen Auswahl entdeckt habe. 2022 habe ich mit dieser tollen Band für die Bio zu ihrem Debütalbum Shake Well zusammengearbeitet. Und mit dabei ist auch der experimentelle Musiker Zouj, den ich für das Projekt „Mein Beitrag“ hier auf Biggy Pop Blog porträtiert habe.

Und wer nicht die Gelegenheit hat, nach Groningen zu reisen: Am 21. Januar präsentiert der Hamburger Konzertveranstalter FKP Scorpio ausgesuchte ESNS-Acts im Molotow auf St. Pauli. Unter dem Namen: Mucke bei die Fische. Nicht Butter. Aber da fallen mir direkt die schönen Zeilen der britischen Band Wet Leg ein, die derzeit sowohl in den ESNS Artists Charts  gelistet ist als auch in den allgemeinen europäischen Emerging Artists Charts. In ihrem Song „Chaise Longue“ heißt es: „Is your muffin buttered? / Would you like us to assign someone to butter your muffin? / Excuse me (what?)“. Ob Charts oder nicht — das macht schlichtweg Spaß.

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Eurosonic, Musikfestival, Groningen, Logo, ESNS Exchange

Musikalischer Rückblick — mit Biggy Pop durch das Jahr 2022

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Silvester halte ich gerne ganz klassisch Rückschau auf das zu Ende gehende Jahr. Ich blättere durch meinen Kalender und schaue, wer und was mich inspiriert und bewegt hat. Nach dem auf vielen Ebenen äußerst herausfordernden Jahr 2022 habe ich erst recht das Bedürfnis, mich ein wenig zu sortieren und auch nach Lichtblicken zu suchen. Für diesen Blogpost möchte ich ein popkulturelles Thema pro Monat vorstellen, das mich besonders begeistert oder zum Nachdenken angeregt hat. Mit dem ich mich beruflich als Journalistin, Texterin und Moderatorin beschäftigt habe. Oder das mich schlichtweg aus Leidenschaft angesprungen hat. Häufig sind die Grenzen da ohnehin fließend. 

Januar: sich der Welt öffnen mit Mischpoke

Im Laufe der Corona-Zeit habe ich die Beziehungen in meinem Leben noch einmal intensiver schätzen gelernt. Seien es kurze „Zufallszwischenmenschlichkeiten“, wie die Autorin Katja Kullmann es nennt (mehr dazu im Dezember 2022). Seien es langjährige liebevolle Freundschaften. Oder seien es neue Begegnungen. Im Januar habe ich die Band Mischpoke kennengelernt, die mich für einen Pressetext zu ihrem fünften Album „Heymland“ gebucht hat.

Heimat – was ist das? Ort oder Gefühl? Fragen wie diese verhandelt Mischpoke in einer Mischung aus Klezmer, Jazz, Tango, Weltmusik und Klassik. Fünf starke Künstlerpersönlichkeiten, die sich dem Weltgeschehen öffnen. Nach der Albumveröffentlichung hat Mischpoke das Programm „displaced“ entwickelt — gemeinsam mit der iranischen Autorin Maryam Goudarzi, die über Geflüchtete in Hamburg geschrieben hat. Auch an diesem Projekt haben wir zusammen gearbeitet. Was für ein Geschenk: Wenn neue Verbindungslinien entstehen. Wenn sich neue Räume des Austauschs eröffnen. Wenn es klickt. 

Februar: Popkultur im Zeichen des Krieges mit Neonschwarz

In diesem Jahr habe ich Pressetexte und Bios für ganz unterschiedliche Künstler*innen, Bands und Institutionen geschrieben. Besonders markant war für mich die Veröffentlichung des Neonschwarz-Albums „Morgengrauen‟ am 25. Februar – einen Tag, nachdem der Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hatte. Ich habe zum Release einen Talk mit der Band im Gängeviertel moderiert. Als Stream noch unter Corona-Bedingungen. Für mich steht dieser Abend sinnbildlich für eines der prägenden Themen 2022: Kulturproduktion im Zeichen komplexer Krisenlagen. Der Song „Flugmodus“ auf der Platte handelt wiederum von der digitalen Reizüberflutung unserer Tage. Und wie wir uns da herausziehen können. Ich finde, Marie Curry rappt und singt in dem Track besonders grandios. 

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Im Talk mit Neonschwarz im Gängeviertel, fotografiert von Timo Neuscheler.

März: Auflegen im „Winter Wonderland“ auf der Barkasse Frau Hedi

Nach zweieinhalb Jahren habe ich am 31. März 2022 abends das erste Mal endlich wieder auf der Hedi aufgelegt. Permission to dance nach pandemie-bedingter Pause. Allerdings unter besonderen Bedingungen. Noch bevor ich am Morgen meine Vorhänge zur Seite gezogen hatte, ereilten mich auf dem Handy Nachrichten wie: „Und, heute auf dem Eisbrecher unterwegs?“ Hamburg lag auf einmal unter Schnee. Mit weiterem Nachschub von oben.

Also zusätzlich ein paar saisonale Hits eingepackt. Und mit „Winter Wonderland“ und „Sleigh Ride“ starteten wir auf der Barkasse der Herzen zum party-induzierten Schippern über die Elbe. Und endlich konnte ich all das spielen, was sich so angesammelt hat. Mein Eindruck: Diejenigen, die sich durch die Kälte zum Hafen aufgemacht hatten, wollten es dann aber auch so richtig wissen. Was für eine famose ausgelassene Sause. Und wie wunderschön, mit der tollen Hedi-Crew wieder auf den Planken zu schwanken. Danke an Kapitän Rainer, an Nono, Susanne und Johannes!

April: Serien-Ereignis des Jahres mit „Pachinko“

Im Laufe der vergangenen drei Jahre habe ich ein große Passion für koreanische Kultur entwickelt. Angefangen mit K-Dramas, also Serien, die mich im Lockdown in neue Erzählwelten geführt haben. Langsamer und poetischer, aber auch over the top und absolut up to date. Wie sich die Liebe zum Detail, zu Gesten und Nuancen mit einem ultimativen Trend- und oftmals auch Technikbewusstsein verbindet, fasziniert mich sehr. Und begeistert bin ich auch, wie selbstverständlich Popmusik in das Storytelling integriert wird. 

Über K-Pop landete ich schließlich auch bei der entsprechenden Literatur, wobei es mir der Roman „Pachinko“ der amerikanisch-koreanischen Autorin Min Jin Lee besonders angetan hat. Sie erzählt äußerst kunstvoll von Lebenslinien, die sich von Korea über Japan bis in die USA erstrecken. Und als ich erfuhr, dass das Buch als Serie verfilmt wurde, fieberte ich dem Release natürlich sehr entgegen. Zumal einer meiner Lieblingsschauspieler, Lee Min-ho, die Rolle des Hansu übernahm. Allein die siebte Episode, in der sich Hansu durch die Wirren des Kantō-Erdbebens von 1923 bewegt, gehört für mich zu den großen und wahrhaftigen Serien-Ereignissen des Jahres. Und über den sehr schönen Vorspann zu „Pachinko“ habe ich den famosen Song „Let’s Live For Today“ von The Grass Roots aus dem Jahr 1967 neu für mich entdeckt. 

Mai: auf den Spuren von „Hamilton“ in New York

Als große New-York-Liebhaberin habe ich den Hype um das Musical „Hamilton“ seit 2015 verfolgt. Divers besetzter Cast in einer Hip-Hop-Show über einen der US-Gründerväter. Die Obamas als Megafans. Karten zu utopischen Preisen. Umso euphorischer war ich, dass ich im Mai auf Pressereise in meine Schatzstadt gehen konnte. Die Stage Entertainment führte uns zu den Ursprüngen des Broadway-Erfolgs. Als Vorbereitung auf die deutschsprachige Premiere im Hamburger Operettenhaus im Oktober 2022. 

Allein wieder in die Skyline von Manhattan einzutauchen, hat mich schon enorm glücklich gemacht. Highlight der Reise war jedoch der Interview-Nachmittag im Drama Book Shop. Nach den unzähligen Zoom-Calls der Corona-Zeit endlich wieder vor Ort Interviews führen. Und dann unter anderem auch noch mit Lin Manuel Miranda, dem Schöpfer von „Hamilton“. Ein entspannter und absoluter eloquenter Typ. Unter einer voluminösen Bücherinstallation erzählte er davon, wie er einst im Weißen Haus die ersten Verse von „Hamilton“ vorstellte. Definitiv eine Motivation, groß zu träumen. „I am not throwing away my shot“.

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Im Gespräch mit Lin Manuel Miranda im Drama Book Shop in New York (credit: Stage Entertainment)

Juni: Fan-Energie bei Harry Styles im Hamburger Stadion

Für mich ist Harry Styles einfach der Popstar des Jahres 2022. Omnipräsent, androgyn, freundlich, mit Haltung. Zu „As It Was‟ habe ich im Frühjahr auf meiner ersten richtigen Privatparty seit Corona endlich wieder ausgelassen getanzt. Und fürs Abendblatt habe ich über sein Stadionkonzert in Hamburg geschrieben (siehe Titelfoto). Umgeben von den wunderbaren Kolleginnen Susanne Hasenjäger vom NDR und Katja Schwemmers von der Mopo. Die warme Energie, die die vielen jungen Fans da hergestellt haben, hat mich sehr berührt. Und wie sie bei „As It Was‟ aus voller Seele mitgesungen haben: „Answer the phone / „Harry, you’re no good alone / Why are you sittin‘ at home on the floor? / What kind of pills are you on?‟ Das Thema Mental Health in so einem populären Song anzupacken — mega.

Juli: Clubkultur im Kleinen mit Anoki, Hazlett und Masha The Rich Man

Konzerte in und vor Musikclubs hatten es im Jahr 2022 über weite Strecken nicht leicht. Ein Publikum, das in den Ausläufern der Pandemie noch zurückhaltend ist. Der Krieg und seine Folgen. Fachkräftemangel, Kostensteigerung und Energiekrise (siehe dazu auch meinen Blogpost zur Applaus-Verleihung der Initiative Musik). Doch wie bereichernd gerade die Nähe solcher Konzerte sein kann!

Stellvertretend für die vielen kleinen bis mittelgroßen Shows möchte ich an dieser Stelle die Knust Acoustics auf dem Lattenplatz nennen. Den Berliner Sänger, Rapper und Musiker Anoki hatte ich im April in meiner Blogreihe „Mein Beitrag“ vorgestellt. Und daher habe ich mich außerordentlich gefreut, diesen charismatischen Menschen persönlich kennenzulernen und live zu erleben. Wie er mit seiner Band im Flow war. Wie er sich ins Publikum stellte und zum Mitsingen animierte. „Is ok, is ok, is ok“. Mit dabei waren an diesem Sommerabend auch der Singersongwriter Hazlett, der seine ganze Freundlichkeit in seine Songs goss. Und Masha The Rich Man, die auch einen Folksong aus ihrer ukrainischen Heimat anstimmte. Fühlte sich an wie ein Zuhause.

August: zukunftsweisendes Festival-Erlebnis bei der Pop-Kultur Berlin

Das erste Mal habe ich dieses Jahr das Pop-Kultur Festival in Berlin besucht und darüber hier auf dem Blog geschrieben. Ich war sehr beeindruckt, wie viele tolle Ansätze das Team realisiert hat in Bezug auf Diversität, Inklusion und Ausloten von zeitgenössischer sowie zukunftsweisender Popmusik. Äußerst inspirierend fand ich die Performance der Musikerin Güner Künier, in der sie sich mit den Traditionen ihrer türkischen Familie und ihren eigenen Freiheitsbedürfnissen auseinandersetzt. Im Dezember 2022 ist ihr Debütalbum „Aşk‟ erschienen. Unbedingt auschecken!

September: Reeperbahn Festival zwischen Krisen und Popkulturliebe

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Talk zum Thema „Trusted Transmission“, fotografiert von Samira Joy Frauwallner.

Der September steht stets im Zeichen des Reeperbahn Festivals. In 2022 pendelte die Atmosphäre für mich heftig zwischen Krisenszenarien und Popkulturliebe. Diese Gemengelage führte meines Erachtens dazu, dass die Gespräche während des Festivals offener und ehrlicher waren. Die Frage „Wie geht’s?“ reichte schneller in die Tiefe. Sowohl in Einzelgesprächen in Clubs, auf der Straße und beim Networking. Als auch auf den Panels der Reeperbahn Festival Konferenz. Ich war eingeladen, zum Thema „Trusted Transmission“ zu diskutieren. Zusammen mit den wunderbaren Kolleg*innen Dalia Ahmed von FM4, Ruben Jonas Schnell von ByteFM und Maik Brüggemeyer vom Rolling Stone Magazin. Es ging um den Status quo von musikjournalistischen Audioprogrammen. Und warum wir diesen vertrauen. Meines Erachtens führen gerade Podcasts dazu, dass viele bisher ungehörte Stimmen und Meinungen einen Raum finden. Super! 

Aber ich finde, dass auch bei diesem relativ jungen Medium noch reichlich Luft nach oben ist. Die Frage ist ja, welche Formate von Firmen und Sponsoren gepusht werden. Sind es die Podcasts, in denen zwei weiße Cis-Dudes ihre Fachsimpeleien ins Internet verlegen? Oder sind es Reihen und Sendungen, die verstärkt auf Vielfalt setzen? Als energische Fürsprecherin für mehr Gendergerechtigkeit habe ich dieses Jahr die Musikerin Charlotte Brandi erlebt. Sowohl künstlerisch bei ihrem tollen Festival-Auftritt im Nochtspeicher. Als auch verbal auf den Panels der Konferenz Operation Ton (siehe November). Im Februar 2023 erscheint ihr Album „An den Alptraum“. Gute Aussichten auf Krawall und Schönheit.

Oktober: Ausgeherlebnisse der Generation 60+ im sanierten Teehaus

Seit 2018 engagiere ich mich ehrenamtlich für die gemeinnützige Initiative Oll Inklusiv. Gegründet von der fabelhaften Mitra Kassai, um Menschen 60+ mit innovativen Kultur- und Freizeitangeboten eine beschwingte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Von Anfang an gehört es zum Konzept, moderne Räume der Stadt zu erschließen. Vor allem Musikclubs, die nachmittags für Konzerte, Lesungen, Tanz und vor allem Klönschnack genutzt werden. Und seit Herbst diesen Jahres hat Oll Inklusiv ein wirklich wunderbares neues Zuhause: das sanierte Teehaus bei der Rollschuhbahn in Planten un Blomen. Mit den Glasfronten fühlt es sich so an, als sitze man unmittelbar im Grünen. 

Anfang Oktober2022  war ich das erste Mal an diesem magischen Ort. Bei der Reihe „Erzähl doch mal“ berichteten die Ollen, wie wir sie liebevoll nennen, von ihren früheren Ausgeherlebnissen. In Begleitung von Mutti in den Star-Club (da noch nicht volljährig). Mit der Beat-Band die Szene in Langenhorn aufgemischt. Den Verzehrzwang mit einem Trinkgeld an die Kellner umgangen. Ich hätte noch ewig zuhören können bei all diesen Anekdoten. Wie jung alle im Herzen sind!

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Mitra Kassai mit den Senioren & Senioritas im Teehaus in Planten un Blomen

November: Workshop zum Bandbio-Schreiben bei Operation Ton

Äußerst gehaltvoll war für mich in diesem Jahr die zweitägige Musikkonferenz Operation Ton, organisiert von dem wie immer top aufgestellten Team von RockCity. Am Samstag gab ich einen Workshop zum Thema Bandbio schreiben. Frei nach Dolly Partons Motto: „Find out, who you are, and do it on purpose“. Meine Lieblingsbeschäftigungen Popkultur und Texten praktisch zu vermitteln, hat einfach unfassbar Spaß gemacht. Mit den geschätzten Kolleg*innen Caro Schwarz vom Blog Musicspots und Sascha Krüger habe ich im Anschluss dann noch 1:1-Beratungen zur eigenen Band- bzw. Artistbio gegeben. Der aufrichtige Austausch, der da jeweils zustande kam, war wirklich sehr bereichernd. Ein Angebot, das ich 2023 definitiv ausbauen möchte.

Dezember: NDR Nachtclub Überpop mit Autorin Katja Kullmann 

Im Verbund mit den Kolleg*innen Siri Keil, Henning Cordes und Andreas Moll sowie Redakteurin Angela Gobelin moderiere ich weiterhin die Sendung „Nachtclub Überpop“ auf NDR Blue. Im Dezember nun wurde mein Gespräch mit der Autorin Katja Kullmann ausgestrahlt. Ihr Buch „Die Singuläre Frau“ gehört für mich zu den Lese-Highlights des Jahres. Beschreibt sie doch ausgeruht, amüsant und klug, wie sich das weibliche Sololeben als Daseinsform immer selbstverständlicher durchsetzt. Auf meiner Leseliste für 2023 steht übrigens das Pendant „Allein“ von Daniel Schreiber ganz oben. 

Ich hatte Katja Kullmann zum Interview in ihrer Wahlheimat Berlin getroffen und sie als äußerst zugewandte Gesprächspartnerin erlebt. Das Tolle: Sie hatte Songs über freiheitsliebende und alleinlebende Frauen durch die Jahrzehnte hinweg ausgewählt. Los ging’s mit dem hervorragenden „Für die große Liebe hab ich keine Zeit“ von Trude Berliner. Zum Abschluss gab’s Hip-Hop und Grime von Lady Leshurr. Und auch alles dazwischen lässt sich online nachhören. 

Nachdem ich 2019 mit reichlich Imposter Syndrome beim NDR eingestiegen bin, habe ich nun das Gefühl, mich langsam hineingefuchst zu haben in die Materie. Eine sehr schöne Bestätigung war diesbezüglich auch die Nominierung für den International Music Journalism Award des Reeperbahn Festivals in der Kategorie Audio. Konkret ging es um meine Radiosendung aus dem März 2022 zum Thema „Klangkörper Frau“ mit der Kulturanthropologin Catharina Rüß. Vielen lieben Dank dafür! 

Konfetti, gute Musik und alles Liebe für 2023!

Von Herzen wünsche ich Euch nun ein tiefes Durchatmen nach 2022 und ein gesundes sowie inspirierendes 2023 mit Glück, Erfolg, Offenheit und Liebe — Eure Biggy Pop.

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Von Priya Ragu bis Wet Leg: ESNS Exchange zieht Bilanz 2022

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In Kooperation mit ESNS Exchange // Wir leben in unfassbar komplexen Zeiten. Und mich faszinieren Pop-Künstler*innen besonders stark, die mit ihrer Musik, Performance und Persönlichkeit einen Resonanzraum schaffen für all die Geschehnisse in der Welt. Einer der Acts, den ich aktuell äußerst interessant finde, ist Priya Ragu. Sie verkörpert eindrucksvoll, dass viele Menschen mehrere Leben in sich tragen. Und auch in sich tragen müssen. Geboren wurde sie als Priya Ragupathylingam in der Schweiz als Tochter tamilischer Eltern, die in den 80er-Jahren vor dem Bürgerkrieg aus Sri Lanka geflüchtet waren. Heute fusioniert sie R&B mit dem Sound Südindiens zu einem höchst betörenden Mix. Kein Wunder also, dass  sie 2022 nicht nur für Preise wie die Swiss Music Awards und die MTV Music Europe Awards nominiert war. Sie führt auch die Charts der Artists an, die in diesem Jahr von dem renommierten Programm ESNS Exchange protegiert wurden. 

Seit 1986 präsentiert das Festival Eurosonic Noorderslag, kurz ESNS, im niederländischen Groningen jeweils im Januar spannende Newcomer*innen. Viele Bands und Solo-Artists sind in den Folgemonaten auf europäischen Bühnen zu erleben und auch verstärkt in den Medien präsent. Diese Dynamik wird befeuert vom Förderprogramm ESNS Exchange, das 2023 sein 20. Jubiläum feiert. Und das es sich zur Aufgabe gemacht hat, herausragenden popkulturellen Talenten außerhalb ihrer Heimat eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen. 

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Yard Act, einer der ESNS Exchange-Acts 2022, fotografiert von James Brown.

Erreichen Newcomer*innen ohne Förderung noch genug Reichweite?

Insgesamt blickt ESNS Exchange in diesem Jahr auf 353 Shows, die von 148 ihrer Acts gespielt wurden. Trotz all der immensen Herausforderungen, die die Live-Branche in diesem dritten Corona-Jahr zu bewältigen hat, sehen sich die Verantwortlichen mit diesen Zahlen auf einem guten Weg, an vorpandemische Zeiten anzuknüpfen. Diese Bilanz wirft für mich allerdings auch die Frage auf, inwiefern Newcomer*innen ohne entsprechenden Schub noch zu der gewünschten Reichweite gelangen. Denn im kleinen bis mittleren Konzert-Segment hat vor allem der noch nicht so bekannte Nachwuchs mit geringen Publikumszahlen und gleichzeitig steigenden Kosten zu kämpfen. 

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Wet Leg, fotografiert von Hollie Fernando.

Am Ende des Jahres resümiert ESNS Exchange zudem, welche ihrer unterstützten Acts am meisten gebucht wurden. Priya Ragu lieferte sich dabei 2022 ein Kopf-an Kopf-Rennen mit der britischen Rockband Yard Act. Gefolgt von der irischen Popsängerin CMAT und der ukrainischen Rapperin Alyona Alyona. Von der Post-Punk-Band Enola Gay aus Belfast sowie der Pianistin und Singer-Songwriterin Holly Humberstone aus London.

Und auch auf den weiteren Plätzen zeigt sich, wie sehr die Fusion verschiedener Einflüsse den Sound unserer Tage prägt. Altın Gün aus Amsterdam verbindet türkischen psychedelischen Folk mit tanzbarem Pop. Go_A mixt ukrainische Folklore mit Elektronika. Joe & The Shitboys von den Färöer Inseln laufen beim ESNS Exchange unter „bisexual vegan punk“. Und Wet Leg von der Isle of Wight mischt mit ihrem fulminant schrulligem Humor und feministischer Attitüde das breitbeinige Indierockhausen derzeit ohnehin aufs Schönste auf. 

Schieflagen ansprechen, bis es womöglich nervt

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Sängerin Priya Ragu (Bild: Warner, Titel fotografiert von Bart Heemskerk)

Ich bin sehr froh, dass immer neue spannende Sound-Kombination entstehen. Und auch, dass lange totgeschwiegene Themen in Pop-Songs zum Ausdruck kommen. Und zwar immer und immer wieder. Bis es womöglich zu viel erscheint oder sogar nervt. Denn erst dann findet meines Erachtens eine Enttabuisierung statt. Erst dann wird es wirklich irgendwann normaler, also weniger schambesetzt, zum Beispiel über Körper, Mental Health und Diskriminierungen zu reden.

In meiner Blog-Reihe „Mein Beitrag“ habe ich mich in diesem Jahr damit befasst, wie sich junge Bands und Pop-Künstler*innen in ihrer Musik mit Gesellschaft und Politik befassen. Und auch Priya Ragu steht exemplarisch für ein derzeit wachsendes Selbstverständnis, äußere Schieflagen und innere Konflikte deutlich anzusprechen.

Priya Ragu mit „Adalam Va!“, von Tarantino bis zum tamilischen Kino

„Als ich jung war, hatte ich das Gefühl, meine Herkunft verstecken zu müssen – das war nicht cool genug“, erzählte sie jüngst der britischen Vogue. Bis auf eine Ausnahme: die Musik. Doch obwohl sie bereits früh mit ihrem Vater und ihrem Bruder auf Festen auftrat, wählte sie zunächst einen vermeintlich sichereren Berufsweg und arbeitete in der technischen Abteilung von Swiss Airlines. Als Popstar, der erst mit Mitte 30 richtig durchstartet und sich nach eigenem Bekunden im Tomboy-Look am wohlsten fühlt, diskutiert sie unter anderem Themen wie Age- und Lookism.

Im Video zu ihrer aktuellen Single „Adalam Va!“ tanzt sie in lässigen Oversize-Klamotten durch das märchenhafte Ambiente von Strawberry Hill, einem schlossartigen Landhaus in der Nähe von London. Der Song, der erneut von ihrem Bruder Japhna Gold produziert wurde, ist deutlich treibender als ihre bisherigen Nummern. „Adalam Va! handelt von Hoffnung in den dunkelsten Tagen. Von der frischen Energie, die aus solchen Phasen hervorgehen kann“, erklärt Priya Ragu. In dem Video verquickt sie eine geschmeidig-coole Choreografie mit Martial-Arts-Elementen und Anspielungen auf großes Kino von Tarantino bis hin zum tamilischen Krimi. Eine Mischung, die Spaß macht. Und inspiriert. 

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Verleihung des Applaus 2022: Was bedeutet uns Clubkultur?

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Was bedeutet uns Clubkultur? Als jetzt im Zughafen Erfurt zum bereits neunten Mal der Spielstättenpreis Applaus vergeben wurde, wurde diese Frage passioniert, liebevoll und auch besorgt erörtert. Auf der Bühne sowie in den vielen Gesprächen beim Warm-up und während der After-Show-Party. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, deren Haus die insgesamt 2,5 Millionen Euro Preisgelder ausschüttet, sprach unter anderem von einer Freiheit, die in der Dunkelheit zu finden ist. Auch für mich sind Musikclubs seit jeher geheimnisvolle Orte. An denen sich nicht sofort alles eins zu eins erschließt. Die uns durch das Unerwartete inspirieren. Und ich liebe es, neue Locations zu erkunden.

So habe ich für den Applaus-Empfang auch das erste Mal das kreativ-utopische Gelände des Zughafens auf dem alten Güterbahnhof in Erfurt besucht. Eine Mischung aus restaurierter Eleganz und Holzpalettencharme. Von der imposanten Halle bis zur Barnische kann man sich wundervoll verlaufen. Und in neuen Kontexten wiederfinden. 

Laudationen von Franzi Aller, Drangsal und Ebow

Auf die Frage, was uns Clubkultur bedeutet, fand die aus dem ganzen Land angereiste Livemusik-Szene an diesem Abend ganz unterschiedliche Antworten. Die Jazzbassistin Franzi Aller sprach in ihrer hoch poetischen Laudatio für das Jazz Montez in Frankfurt am Main von Schwingungen, die mit Emotionen aufgeladen werden. Und zwar von Menschen, die „taste und care“ in ihre Arbeit legen. Geschmack und Fürsorge. Was für eine feine Kombination. 

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Die Jazzbassistin Franzi Aller bei ihrer Applaus-Laudatio auf das Jazz Montez, fotografiert von Jacob Schršöter (wie alle Bilder in diesem Blogpost)

Der Musiker Drangsal schilderte in seiner Rede für das UT Connewitz, wie er dort endlich ein Zuhause gefunden hatte. Wie er sich in dem alten Leipziger Kino nicht nur gesehen, sondern auch immer wieder freundlich aufgenommen fühlt. Und das, nachdem er zu Beginn seiner Ausgehzeit in Berlin in vielen allzu coolen Läden alleine in der Ecke gesessen hatte. Die Rapperin Ebow wiederum erläuterte in ihrer Laudatio auf die Rote Sonne in München eindrücklich, was für sie einen guten Club ausmacht: Vertrauen. Wenn alle im Laden hinter den Auftretenden stehen. Wenn die Booker*innen die Musik fühlen. 

Meines Erachtens ist dieses Herzblut, dieses leidenschaftlich getriebene Know-how in jeder prägenden Spielstätte zu spüren. Es schwingt in der Luft, durchdringt jede Nische und macht ein Konzert somit zu viel mehr als der Summe aus Musik, Mensch und Ort. Nennen wir es druckvoll-schwitzende Magie, räudig-schöne Chemie oder nächtlich-funkelndes Wunder. Die große Frage ist allerdings, ob genau dieses gute wilde Leben im dritten Jahr der Pandemie so wie früher funktioniert. 

Die Livemusikbranche zwischen Preiserhöhung und Publikumsschwund

Beim Applaus war viel von Publikumsschwund, Umsatzeinbußen und Kostensteigerungen die Rede. Nicht zuletzt aufgrund der auch vor Corona oftmals schon heftigen Mieterhöhungen, wozu Peter Wacha vom Club Rote Sonne auf der Bühne eine spontane Brandrede hielt. Stark wurde beim Applaus diskutiert, wie sich bei diesen Herausforderungen eine Balance herstellen lässt. Einerseits sind da die notwendigen und absolut nachvollziehbaren Preiserhöhungen bei Ticketing und Getränken. Andererseits steht da ein Publikum, das bei Energiekrise und Inflation seine Kohle beisammen halten möchte.

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Ebow, Claudia Roth und das Team vom Münchner Club Rote Sonne bei der Preisverleihung des Applaus im Zughafen Erfurt

Der alte Impuls, mit langer Vorfreude oder mal eben kurzfristig in ein Clubkonzert zu gehen, ist bei vielen momentan offenbar weniger ausgeprägt. Das liegt gewiss an einer vielschichtigen Gemengelage. Von nach wie vor präsenter Corona-Angst bis hin zu veränderten Gewohnheiten. Meines Erachtens ist der finanzielle Faktor aber durchaus maßgeblich. Als ich neulich am Clubtresen 4 Euro für eine 0,33-Flasche Bier bezahlt habe, war mein erster Reflex auch erst einmal: „Ist da Pfand drauf?“

Sonderpreise beim Applaus für Nachhaltigkeit, Awareness und Innovation

Vieles scheint sich derzeit zu verschieben. Wie lässt sich also vermeiden, dass Clubbesuche nur etwas für Gut- und Besserverdienende werden? Der vom Kulturstaatsministerium eingeführte Kulturpass für 18-Jährige ist ein erster guter Schritt. Immerhin ist da eine ganze Jugend seit dem Frühling 2020 nicht in die Clubkultur hineingewachsen. Und ist womöglich ohnehin mehr an digitalen Räumen interessiert. Geht die Tendenz bei Veranstaltungen für die nachfolgenden Generationen also eher in die Richtung von zum Beispiel Conventions, die Gaming-Welten und virtuelle Erlebnisse mit dem Analogen kombinieren?

Der Applaus hat auch diese Realität mitgedacht. Neben Sonderpreisen für Awareness und Nachhaltigkeit wurde erstmals eine Auszeichnung für Innovation vergeben. Das objekt klein a in Dresden hat einen Virtual Club entwickelt, in dem sich Gäste als Smiley-Avatare begegnen können. Besonders beeindruckend fand ich, dass die Betreibenden mit staatlichen Museen kooperieren. So erscheinen im alternativen Club-Ambiente hin und wieder Statuen und Gemälde. 

Bei der Gala wurde dieses Projekt mit einem kompakten Einspielerfilm vorgestellt — wie einige andere der insgesamt 101 ausgezeichneten Musikclubs und Veranstaltungsreihen. Ohnehin war die von Julia Menger moderierte und von der Initiative Musik organisierte Verleihung enorm kurzweilig. Nicht zuletzt natürlich dank der Livemusik: Rap und R’n’B mit Punch und Twist von den Gaddafi Gals. Transparent-komplexer Jazz von 5K HD. Und schönste Brachialität von Team Scheisse. In einem ihrer Songs heißt es: „Geil, geil, geil in die Disko rein / So richtig geil, geil, geil in die Disko“. Na denn!

Audiovisuelle Eindrücke vom Applaus 2022 gibt es in den Highlights auf Instagram 

Lesetipp: Reihe „Mein Beitrag“ auf Biggy Pop Blog

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