Deichkind in Hamburg – viral real

Sich ein Jahr vor einer Veranstaltung ein Ticket zu kaufen, ist merkwürdig und schön. Die Karten vom Konzert ruhen im Regal, werden allmählich überwuchert von Reisebestätigungen und anderen Papieren. Doch die Vorfreude ist immer da. Sie schlummert im Verborgenen.

In einem Jahr kann viel passieren. Es kann zum Beispiel ein neuartiger Virus ausbrechen, der die Erde noch schneller rotieren zu lassen scheint. Die Aufmerksamkeitsökonomie dreht am Rad. Und statt verrückt zu werden darüber, dass Europa gerade seine Humanität an der türkisch-griechischen Grenze verliert, werfen sich die Leute lieber ins Hamsterrad ihrer eigenen Ängste. Sie horten Pasta und Papier. Sie klauen Desinfektion und Atemschutz. Eingebildete Kranke, gefangen in hochtouriger Unlogik: Je schneller sie um sich selbst kreisen, desto mehr können sie das Außen ausblenden. Denn das Fremde lauert überall. Der fremde Virus. Die fremden Menschen. Nur schön abschotten. Hilfe.

Krawall und Remmidemmi statt Panik und Präventionsfantasien

In die lange Vorfreude auf das Konzert von Deichkind diesen Samstag mischte sich daher ganz aktuell ein neuer Wunsch: Wenn die Welt ultimativ irrational und hysterisch zu werden scheint, dann möchte ich doch bitte etwas erleben, das dieses Gefühl ins Positive verkehrt. Das all die ins uns schlummernden Übersprungshandlungen in einem Boom kanalisiert. Krawall und Remmidemmi statt Panik und Präventionsfantasien. Viral real.

Deichkind, band, Hamburg, Arena, Concert, Performance, Electro, Pop, Hiphop

 

Klar, ein Deichkind-Konzert löst nicht die Probleme der Welt. Es öffnet keine Grenzen und tötet keine Viren. Aber es feiert das Kollektive und die Vielfalt. Es desinfiziert das Herz gegen Idiotie. Deichkind, das ist die gute Sinnlosigkeit gegen die hässliche Sinnlosigkeit. Tanzen, Stampfen und Glitzern gegen Pöbeln, Aufpeitschen und Verriegeln.

Lars Eidinger, out of Kubus

Und um direkt mal mit den Erwartungen zu brechen, beginnt die Deichkind-Show in der Hamburger Barclaycard-Arena nicht mit einem großen Bang. Stattdessen betrachtet das Publikum minutenlang einen Film, in dem Deichkind-Maskottchen Lars Eidinger nackt an einem Seil baumelt. In blaue Farbe getaucht strauchelt sein Körper über eine weiße Leinwand. Ein Mensch malt sich halb willenlos, halb angespannt sein Leben. 

Lars Eidinger, film, paint, blue, art

Das so entstandene Gemälde hängt an der Bühnenrückwand, als sich der Vorhang lüftet. Vorsicht Kunst. Ja ja. Und das ist eine der großen wundersamen Effekte der kommenden zweieinhalb Stunden in dieser Halle, in der sonst Stars wie Helene Fischer und Santiano leicht Verdauliches präsentieren.

Deichkind, band, Hamburg, Arena, Concert, Performance, Electro, Pop, HiphopDa wird mal eben in einen wilden Rave eingebunden, was sonst unter nickenden Blicken im weißen Kubus der Deichtorhallen betrachtet werden könnte. Da ist Performance zu sehen, die sonst auf Kampnagel auf gut informiertes Kulturklientel trifft. Bitte denken Sie groß. Bitte denken Sie quer.

Wie verhalten sich Menschen zueinander?

Bunt besprühte und grell blitzende Tänzerinnen und Tänzer verzahnen und entwirren sich. Sie rollen auf Podesten aufeinander zu oder entfernen sich. Wie verhalten sich Menschen zueinander? Wenn sie „Endlich autonom“ sind. Wenn sie „Dinge“ und „Richtig gutes Zeug“ konsumieren können. Wenn sie sich womöglich nach dem Sinn des Ganzen fragen.

Deichkind, band, Hamburg, Arena, Concert, Performance, Electro, Pop, Hiphop

 

Bilder blitzen auf aus diesem von „1000 Jahre Bier“ befeuerten Happening. Deichkind-Philipp schiebt mit seinem Riesenrucksack über die Bühne. „Hab Hamsterkäufe gemacht“, sagt er. Doch statt Vorräten gibt das Monster-Prepper-Tool nur weißen Rauch frei. Menschen verausgaben sich auf Trampolinen. Sie strampeln und kommen nicht vom Fleck. Ein Schlauchboot und ein Fass scheinen die effektivsten Fortbewegungsmittel zu sein. Mit ihnen geht es durch die Menge. 

Deichkind, band, Hamburg, Arena, Concert, Performance, Electro, Pop, Hiphop, beer

Deichkind: abstrakt statt nass

Ich erinnere mich an ein Konzert von Deichkind im Jahr 2008 beim Dockville-Festival. Die Band hatte 1000 Halbliter-Dosen verteilt und zur kollektiven Bierdusche mittels Schütteln aufgefordert. „Wo bin ich? Schon am Limit?“ Eine schöne Sauerei, die in der Arena ausbleibt. Jetzt ist alles abstrakter. Weniger nass. Es gibt sogar ein Taschenlampenmeer, wie ich es zuletzt bei Sarah Connor an eben jener Stelle gesehen habe. Die Deichkind-Insignien vermischen sich mit denen der Halle. Dreieckshelme und Budenzauber for the people.

Lights, pop, concert, arena

 

Nach Dreiviertel der Show setzen bei mir kurz Ermüdungserscheinungen ein. Electro-Beballerung und Zitat-Gewitter haben den Akku leergezogen. Doch zum Finale ist er instant wieder aufgeladen. Ich freue mich über eine alte Bekannte, die Hüpfburg. Vor einigen Jahren beim Konzert von Deichkind in der Fabrik hat das aufblasbare Utensil noch die gesamte Bühne ausgefüllt. In der Arena ist sie nun eine Akteurin von vielen im Deichkind-Spieleparadies. Neben einem Scheißhaufen-Emoji und einer Kanone, die kurz zuvor T-Shirts in die Menge gefeuert hat. Wenn schon Kapitalismus, dann richtig kacke gut, oder was?

Deichkind, band, Hamburg, Arena, Concert, Performance, Electro, Pop, Hiphop

Ganz zum Schluss, als Gruß für die Heimfahrt, steht da auf der Leinwand: „Gute Nacht Kinder!“ Ja, danke, wir schlafen schön. Und vorher waschen wir uns noch die Hände.

Follow my blog with Bloglovin