Pop-Kultur Festival Berlin: die gute Art der Irritation

Zunächst ist da das Gelände. Die Kulturbrauerei in Berlin. Raus aus der U-Bahn Eberswalder Straße und dann hinein in die Backstein-Bubble für drei Abende. Schon seit Jahren habe ich im August in Richtung Berlin geschielt. Hin zum Pop-Kultur Festival. Und als ich diesen Mix aus Konzerten, Konferenz und Kunstperformances jetzt das erste Mal besuche, kommt mir vor allem in den Sinn: Eine Party ist immer so gut wie ihre Gastgebenden. Am Einlass ein kleiner Plausch. Direkt nebenan steht ein Awareness-Team bereit. Und über das Kopfsteinpflaster hin zu ein Dutzend Spielorten sind Platten ausgelegt, damit zum Beispiel auch Leute im Rolli smooth von A nach B kommen. Festival bedeutet ja immer auch: Menschen. Das Ich mit der Menge abgleichen. Stimmungen aufnehmen und sich eingrooven. Erst recht mit Restanteilen von Corona-Introvertiertheit im System. 

Also hocke ich mich mit einer Gratiskugel Eis (danke, Deutschlandfunk Kultur) in einen der Liegestühle bei der sogenannten Çaystube. Die kleine Zeltbühne mitten auf dem Areal wird alsbald zum so gar nicht heimlichen, sondern lautstark pochenden Herz des Festival. Mit ihrem Projekt „Karaokee Xpress“ eröffnen gal sherizly und Như Huỳnh einen popkulturellen Raum für alle. Im Fokus steht nicht die Perfektion des Gesangs, sondern der kollektive Austausch. Die Idee, dass die Grenzen von Publikum und Bühne, von Stars und Fans durchbrochen werden. Dass jede und jeder ins Rampenlicht gehört und gefeiert werden soll. Und so stolpere ich, während ich beim Pop-Kultur Festival zwischen Livemusik und Panels pendele, immer wieder in passioniert performte Coverversionen von Amy Winehouse über Queen und Radiohead bis hin zu Nelly Furtado und Alice DeeJay. Ein wogender Glücksrausch mitsingender Menschen. 

Kreuzberger Rap von Wa22ermann und sirenischer Rave von Tama Gucci

Zum Auftakt gilt es aber zunächst einmal, den speziellen Berlin-Vibe aufzunehmen. Der ist ja nicht erfunden, sondern tatsächlich spürbar. Das Internationale. Der Catwalk von strahlend edgy bis gekonnt nachlässig. Das Offene, Queere und Postmigrantische, das die Çaystube mit viel Wärme empfängt und zelebriert. Eine gelebte Utopie, zu Beginn befeuert von der Kreuzberger Rapperin Wa22ermann und elektrisiert vom sirenischen Rave des New Yorkers Tama Gucci. Schnelle Brillen und pinke Haare, Selbstbehauptung und Empowerment. 

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Wa22ermann in der Çaystube beim Pop-Kultur Festival in Berlin

Mir gefällt beim Popkultur-Festival außerordentlich gut, dass das Kurationsteam nicht auf Sicherheit setzt. Dass sich Popkultur entgrenzen darf. Und sich nicht alles unmittelbar erschließt. Dass die Auftritte einen auch erst einmal durchpusten. Und irritiert zurücklassen. Dass sie etwas riskieren und mich somit aus meiner mentalen Komfortzone herausholen. Dass sich Perspektiven in mir verschieben, weil andere Grenzen ausloten, überschreiten oder durchlässig machen. Besonders deutlich zu erleben ist dieser inspirierende Schub bei den zahlreiche Auftragsarbeiten und Kooperationen, die eigens für das Popkultur-Festival entstanden sind. Gefördert von der Initiative Musik sollen Popkulturschaffende da zu Experimenten, Diskursen und Reflexionen angeregt werden. 

Wie symbiotisch existieren wir bereits jetzt mit der digitalen Welt?

Die Band Painting erkundet mit ihrer Arbeit „Painting White On White“ virtuelle Räume. Im Kesselhaus der Kulturbrauerei entfesselt das Trio einen Sog aus Free Jazz, Krautrock und Electro. Irgendwo zwischen Psychedelia und Avantgarde. Die Musiker*innen sind lediglich als Schattenrisse vor großen Leinwänden wahrzunehmen. Und das Publikum taucht ein in Gaming-Landschaften, durch die sich zwei Spielende am Rand der Bühne per Laptop bewegen. Dystopisch anmutende Gefilde werden da durchkreuzt. Eine Art kalifornischer Vergnügungspark in ätzendem Pink. Ein Eismeer, in dem ein Flugzeug versinkt.

Ein Tasten und Suchen im verlassenen Raum. Erst gegen Ende erscheinen Lebewesen. Halb Mensch, halb Ente marschieren sie durchs Bild. Es ist toll, sich in diese Sphären zu begeben und die eigenen Gedanken driften zu lassen. Umtost von der Musik. Von Drums, Gitarre, Saxofon, Beats, Störgeräuschen. Wie entwickelt sich unser Zusammenleben? Was kommt nach der Menschheit? Und wie symbiotisch existieren wir bereits jetzt mit der digitalen Welt?

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Performance der Band Painting im Kesselhaus

Güner Künier: brachiale Entgrenzung, die etwas löst und auslöst

Einen persönlicheren Ansatz wählt Güner Künier. In ihrer Performance „Papa Don*t Kill“ eröffnet sie ein Spannungsfeld zwischen traditioneller Sozialisation und freiheitlichen Bedürfnissen. In Videosequenzen führt sie uns zu ihrer türkischen Familie. Zu Ritualen, Gesprächen, Mustern. Zu Leerstellen und Zwängen. Mit ihrer Musik spielt sie sich zunehmend frei, ohne ihren Background zu negieren.

Die Klänge von Barış Öner an der Saz durchdringt sie mit elektronischen Sounds, bis die Inszenierung schließlich in eine Hardcore-Nummer mündet. Eine brachiale Entgrenzung, die etwas löst und auslöst. Die nachhallt. Wie ohnehin das prallvolle Programm beim Pop-Kultur Festival eine gewisse Überwältigung darstellt. Ein Input, der erst einmal sacken muss in den kommenden Tagen und Wochen. 

Diskussion über „Pop-Festivals: Welche Gesellschaft soll das abbilden?“

Allein die Panels beim Pop-Kultur Festival hätten gut und gerne eine Veranstaltung für sich ergeben. Von GenZ bis hin zu Altern in der Popkultur. Von Feminismus bis hin zum Verhältnis zwischen Mainstream und Musik aus vermeintlichen Nischen.

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Sonja Eismann vom Missy Magazin im Gespräch mit Popkünstlerin Uffie

Das Moderationsduo Juliane Reil und Christoph Reimann von Deutschlandfunk Kultur diskutiert etwa die Frage „Pop-Festivals: Welche Gesellschaft soll das abbilden?“. Eine hoch interessante Runde mit Rapper Graf Fidi, Jana Posth vom Lollapalooza Festival sowie Misla Tesfamariam, Musikmanagerin von Alli Neumann. Können Festivals überhaupt alle Menschen, Gruppen und Communities abholen? „Das ist utopisch“, merkt Misla Tesfamariam an. Doch sie verweist darauf, dass Festivals im deutschsprachigen Raum leider oft ein hauptsächlich weiß gelesenes Publikum anziehen. Auch wenn viele in der Musikindustrie das offenbar denken würden: Eine Band wie AnnenMayKantereit sei nicht für alle das Nonplusultra an zeitgenössischem Pop. 

„Es ist schade, dass es für viele Freunde und meine Familie so wenige Angebote gibt“, erklärt Misla Tesfamariam. Sie plädiert dafür, dass Teilhabe früh beginnt, etwa bei erschwinglichem und gut zugänglichem Musikunterricht. Und dass Sichtbarkeit auf allen Ebenen stattfinden muss — vom Catering über die Organisation bis zum Slot auf der Mainstage eines Festivals. Sehr wichtig finde ich auch ihren Einwand, zu welchen Themen wer auf ein Panel geladen wird. Sie sei als Person of Color stark bei Debatten um Diversity gefragt. Aber, so betont Misla Tesfamariam: „Ich bin auch eine verdammt gut Managerin“. Also, an die journalistische Nase gefasst: weg von der Schubladisierung, hinein in die Inhalte. Und hin zur Musik.

Weinen mit Arooj Aftab, Aufkratz mit Leopard, Poesie aus Ghana

Das Festival öffnet die popkulturellen Horizonte sperrangelweit. Und damit mein Entdeckerinnenherz. Bye bye: Langeweile. Hello: Wow! Zum Beispiel beim Konzert von Arooj Aftab. Ihres Zeichens die erste pakistanische Musikerin, die einen Grammy gewonnen hat. Direkt mal befreit weinen in der dunklen Hitze des Saals angesichts der sanften Wucht ihres Gesangs. Eine melancholische Schönheit, die sofort tief im Innern ankommt. Beats und Lyrics pumpen wiederum durch Haut und Knochen beim kanadischen Rap-Duo Cartel Madras. Und von der jungen Berliner Band Leopard kann sich das Publikum hübsch rau aufkratzen lassen mit widerspenstigem und zugleich humorvollem Indie-Post-Punk. 

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Leopard im Soda Club der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg

Intensiv bewegt haben mich auch die Gedichte der ghanaischen Spoken-Word-Künstlerin Poetra Asantewa, die Konzepte von Schönheit und Körper, gesellschaftlichen Erwartungen und dem Leben in verschiedenen Ländern mit eindringlichen Worten erforscht. Ich habe mir direkt ihren Lyrik-Band „Woman, Eat Me Whole“ besorgt. Darin heißt es: „We become art in an attempt to skip the death chair / we become poets in an attempt to skip shrink sessions / we become rappers in an attempt to transform“. Das Popkultur-Festival, es wirkt gut nach.

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Spoken-Word-Künstlerin Poetra Asantewa im Duett mit der Sängerin Oihane Roach

Audiovisuelle Eindrücke vom Pop-Kultur Festival gibt es in den Highlights auf Instagram 

Lesetipp: Reihe „Mein Beitrag“ auf Biggy Pop Blog

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