Der Sinnstifter: Nils Wülker präsentiert Live-Album „Decade“

Muss jedes Tun immer und ständig eine Funktion haben, einem Zweck dienen, ein Resultat erzielen? „Conquering The Useless“ heißt der Song, mit dem Trompeter Nils Wülker sein Live-Album „Decade“ eröffnet. Der Titel gefällt mir überaus gut. Das Unnütze will erobert werden in unserer durchgetakteten, optimierten Welt.

Nils Wülker liefert einen musikalischen Leitfaden für mehr Leichtigkeit

Bei Wülker klingt das erst tastend, dann immer selbstbewusster tänzelnd. Wie ein musikalischer Leitfaden für mehr Leichtigkeit. Und neben Piano und Percussion tritt sein Trompetenspiel zudem in Dialog mit einer E-Gitarre, die diesem ergebnisoffenen Treiben eine weitere dynamische Ebene hinzufügt.

Decade“, übrigens Wülkers zehntes Album, erscheint am 28. September bei Warner Music. Der Musiker ist jüngst von Hamburg nach München gezogen, um den Bergen näher zu sein, in denen er mit Vorliebe wandert. Diese Woche kehrte er jedoch in seine alte Wahlheimt zurück, um seine Platte einer kleinen Gästeschar im schicken Apartmenthaus Das Freytag im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst vorzustellen. Nicht etwa live, sondern im Gespräch mit Moderator Hannes Erdmann als Aufzeichnung für den Radiosender 917xFM.

Die Anwesenden lauschen gemeinsam schweigend der Musik

Der schöne Effekt: Neben der Unterhaltung zwischen Künstler und Redakteur lauschen die Anwesenden einfach gemeinsam schweigend der Musik. Da keine Bühnenshow zu betrachten ist, hat dieser Prozess etwas sehr Kontemplatives, Konzentriertes. Und ich muss daran denken, wie ich mich früher viel häufiger mit Freunden zum Musikhören getroffen habe, bevor Songs im Stream ständig und überall verfügbar waren. Wie heilig es war, mit einer neuen Platte jemand anderen zu besuchen und die Aufnahmen zusammen wahrzunehmen, zu analysieren, sich gemeinsam in eine bestimmte Stimmung versetzen zu lassen.

Musik ist nicht Nutzen bringend, aber Sinn stiftend“, sagt Nils Wülker über seinen Song „Conquering The Useless“. Diese Unterscheidung finde ich grandios. Verdeutlicht sie doch, dass Kunst selbstverständlich einen hohen Wert besitzt, aber eben keinen eins zu eins messbaren. In der Werbung erzählen sie uns, dass Waschmittel xy super sauber wäscht. Aber niemand würde sagen, dass Album xy die Seele zu 100 Prozent reinigt – oder bei Metal und Blues womöglich schwärzt. Dafür ist Kulturgenuss zu individuell, zu eigensinnig. Zum Glück.

Wie steht es um das Verhältnis von Komposition und Improvisation?

Nils Wülker, der übrigens ein äußerst entspannt wie freundlich dreinschauender Mensch ist, erzählt dann noch von dem organischen Wechsel zwischen Komposition und Improvisation auf „Decade“. Das eine bedingt das andere. Und während wir einem weiteren Song lauschen, muss ich darüber nachdenken, wie es in meinem eigenen Leben um das Verhältnis von Komposition und Improvisation bestellt ist. Wie viel ist Planung? Wie viel Spontanes lasse ich zu? Wie geerdet bin ich? Und wie frei?

Nils Wülkers Songs sind für mich auch Lektionen darin, unterschiedliche Situationen und Gefühle nicht nur anzunehmen, sondern dem Lauf der Dinge mit einer eigenen Stimme zu begegnen. Jede Emotion, jedes Erlebnis hat ein eigenes Tempo, eine eigene Melodie, einen eigenen Spannungsbogen.

„Decade“ ist Jazz, Pop, Funk, Hip Hop

Nils Wülker atmet mit seinem Instrument. Ruhigere Phasen klingen satt und innig – wie in der Nummer „Season“, bei dem der Gesang von Rob Summerfield diesen seelenvollen Eindruck noch verstärkt. Bei anderen Stücken beschleunigen Atmung und Puls. Das Trompetenspiel wird suchender, schneller, euphorischer. Ton um Ton anders. Gehaucht, gedehnt, gestoßen.

Insgesamt, finde ich, birgt Wülkers Musik eine sehr große Wärme. Sie bleibt auf der smoothen Seite des Lebens. Sie ist dem Menschen zugewandt.

Wer Schubladen aufziehen möchte, muss gleich mehrere nehmen: Jazz, Pop, Funk, Hip Hop. Vielleicht bleiben aber auch einfach alle geschlossen. Und wir hören schlichtweg zu.

Nils Wülker live: 25. Oktober 2018, Mojo Club

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