Beim Arbeitswohnprojekt in unserer Brüsseler Fabriketage ist es ruhiger geworden. Nicht, was den Austausch zwischen Matze, Julia und mir angeht. Weiterhin reden wir angeregt über Projekte und Ideen. Doch der Sound um uns herum ist leiser. Die unter uns probenden Bands scheinen seit Tagen ausgeflogen. Und ich staune zudem, wie schnell sich ein Mensch an einen Ort und dessen speziellen Klang gewöhnt. So wie ein täglich getragenes Parfüm seine Intensität zu verlieren scheint, nehme ich weniger Geräusche wahr, je länger ich in unserem vorübergehenden Domizil lebe. Ich höre das Knarren, Knacken und Klackern natürlich noch. Aber es ist zum selbstverständlichen Soundtrack meiner Tage geworden. Höchste Zeit also, neue Töne zu erkunden. In diesem Fall von dem jungen französischsprachigen Sänger Tawsen.
Tawsen lebt in Brüssel, ist in Italien geboren und hat einen marokkanischen Background. Ich finde es extrem inspirierend, wie in dieser Stadt unterschiedliche Kulturen zusammenkommen. 70 Prozent der Menschen haben einen Migrationshintergrund, was sich in der Musik widerspiegelt. Tawsen zum Beispiel kombiniert in seinem urbanen Pop Elemente von Hiphop und R’n’B mit den elegischen Gesangslinien des nordafrikanischen Rai und den akzentuierten Rhythmen des Zouk von den Antillen.
Tawsen feiert den Release seines Debütalbums „Al Warda“
Im Botanique, dem wunderschönen Konzertareal in unserer Nachbarschaft, feiert Tawsen den Release seines Debütalbums „Al Warda“ in der 250 Leute fassenden Rotonde. Eine tolle Location im Herzen des Botanique mit hoher Kuppel und einer Amphitheater-Architektur, die alle Konzentration auf die Bühne zulaufen lässt.
Der Auftritt von Tawsen beginnt um Punkt 20 Uhr und endet genau eine Stunde später — exakt so, wie vorher auf der Botanique-Seite angekündigt. Ein Service, den ich bereits bei verschiedenen Clubs in Brüssel beobachtet habe. Diese Pünktlichkeit und Vorhersehbarkeit mag spießig oder auch langweilig erscheinen. Ich finde es hingegen absolut angenehm zu wissen, ob ich mich auf ein ein- oder eher dreistündiges Konzerterlebnis einzustellen habe.
Viel marokkanische Community, hoher Frauenanteil, ganze Familien
Mit seinen äußerst melodischen wie fein rhythmisierten Songs zieht Tawsen an diesem Freitagabend eine freundliche wie cool-schicke Crowd an. Viel marokkanische Community, hoher Frauenanteil, ganze Familien. Die Rotonde ist ausverkauft und die Stimmung von Anfang an elektrisiert.
Auf der Bühne steht eine mit weißen und rosafarbenen Rosen besteckte Wand, davor liegt ein weiß glitzernder Teppich. Das Ambiente passt zur süßen Melodramatik, die Tawsen in seinem Video zum Song „Comme Une Fleur“ erzeugt. Als Fan von Bollywoodfilmen bin ich für so eine hoch dosierte Emotionalität absolut empfänglich.
Stimme und sanft euphorisierende Art des Künstlers im Fokus
Tawsen betritt die Bühne. Von Anfang an: Kreischen, Tanz, wilde Rufe und Mitsingen bis zur letzten Silbe. Der Sänger freut sich bei jedem Song aufs Neue, dass die Menge seine Lieder erkennt. Einmal legt er sich sogar auf den Boden, lässt das Publikum alleine singen und genießt den Augenblick. Direkt zwei Mal intoniert er mit seinen Fans im Chor die schwelgerische Hymne „Marrakech“.
Was mich zunächst überrascht: Auf der Bühne ist kein DJ, also keine Musikquelle zu sehen. Die Stimme und sanft euphorisierende Art des Künstlers stehen ganz im Fokus — ein softer Gesang mit schnellen, halb gerappten Einschüben sowie lautmalerischen Linien. Ich bin jedenfalls völlig begeistert von der verbindenden Energie dieser Show. In der Mitte darf die Jugend ausrasten, während oben auf den Stufen dieses Clubamphitheaters Mütter mit Kinder auf dem Arm feiern. Und zum Ende bedankt sich Tawsen minutenlang bei allen Beteiligten — vom Produzenten über Videofilmer und Make-Up-Artist bis hin zum Floristen.
Im Anschluss gehen wir in einer Musikkneipe in unserer Schaerbeek’schen Nachbarschaft noch ein Bier trinken. L’Âne fou heißt die entspannte wie hübsch eingelebte Bar. Verrückter Esel. Ein guter Name, um einen spannenden Brüsseler Abend ausklingen zu lassen.