Hurricane Festival 2019 — sunday I’m in love

Auf Festivals gibt es häufig diesen einen Moment, der mich besonders berührt. Der mich  tiefer packt und zugleich leichter macht. Inmitten all des schönen Irrsinns auf freiem Feld mit Musik und Menschen. Beim diesjährigen Hurricane ereignet sich dieser Popglückaugenblick bei der Show von Christine and the Queens. 

Mit Freunden fahre ich nur für den Sonntag als Tagesgast zum alten staubigen Eichenring im norddeutschen Scheeßel. 1998 war ich das erste Mal beim Hurricane. Ich erinnere mich an Tocotronic und Pulp bei brütender Hitze. Die Feuerwehr duschte die Menge gegen den Hitzschlag. Und Jarvis Cocker verlor beim Tanzen auf der Bühne seine Schlappen. Seitdem hat sich das Open Air aufgepumpt. Mit fünf Bühnen, Riesenrad, Supermarkt, Sponsorenpräsenz und Gastroboom sowie 68.000 Gästen in diesem Jahr.

Sookee: bester Flow mit Message

Ein kommerzielles Grundrauschen, mit dem ich mich versöhne, sobald ich als ersten Act des Tages eine Künstlerin wie Sookee erleben kann. Gut gelaunt und im besten Flow haut diese Berliner Rapperin ihre bunten, queeren, antirassistischen Songs hinaus. Und als sie dann mit der wunderbar glitzernden Saskia Lavaux von Schrottgrenze „Hengstin“ von Jennifer Rostock im Remix singt, bin ich sofort drin im positiv aufgeladenen Festivalfeeling. 

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Viel Kritik hatte das Hurricane im Vorfeld eingesackt, nachdem bei der ersten Ankündigungsrunde für 2019 keine einzige Frau auftauchte. Das wirkte tatsächlich extrem piefig in Zeiten, in denen etwa das Primavera Festival in Barcelona ein tolles paritätisches Line-up hinbekommt. Doch der Veranstalter FKP Scorpio zog nach und hob diverse coole Ladys ins Programm. Darunter auch Grossstadtgeflüster, ebenfalls Ur-Berliner Gewächse.

Großstadtgeflüster: Out-of-bed-Boombox

Sängerin Jen Bender amüsiert uns hochgradig mit ihrer entspannten Out-of-bed-Attitüde. Eine lässig groovende Boombox in Batikshirt und Schlabberhose, die die Selbstironie mit großen Löffeln gefrühstückt hat. Ihr Electrorap fährt uns zusammen mit der Hitze dieses Sommertages in die Körper und macht alles shake shake shake. 

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Derart rhythmisiert ziehen wir mitten hinein in den Cloudrap und Ballerhiphop von Yung Hurn aus Wien. Fluffige Wolken hängen auf der Bühne. Und seine Stimme in selbigen. Watteweich verzerrter Gesang untermalt eine Show zwischen Machopose und Proletentum, Kitsch und Gaga, Trap und Schmäh. Muss ich nochmal drüber nachdenken, über das Ganze. Die Kids jedenfalls singen jede Silbe mit, während sie sich Wasser über die glühenden Köpfe kippen. Ich gehe an eine der vielen kostenlosen Trinkstellen und tue es ihnen gleich. 

Hurricane Festival: Das Ich von der Leine lassen

Festival heißt auch, sich den Gegebenheiten hinzugeben. Es bedeutet, Pommes mit sehr viel Soße zu essen. Ein Bier in der Sonne zu trinken und zu fühlen, es seien fünf. Und sich an den anderen Gästen zu erfreuen. An den absent Tanzenden und den im Schatten Dösenden. An den harten Kuttenträger, die sich mit Glitzer schminken. Und an den Mädelscliquen mit den Eddingtattoos. Sich ausprobieren. Das Ich von der Leine lassen. Freundschaft feiern. 

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Das mit dem Partymachen etwas zu streng genommen hat für meinen Geschmack Mike Skinner von The Streets. Ja, lieber Mike, wir alle lieben Dein Debütalbum „Original Pirate Material“ und sind Anfang der Nuller-Jahre hart dazu abgegangen. Aber den gesamten Auftritt beim Hurricane auf eine immer wieder angekündigte Minute zu reduzieren, bei der dann alle kollektiv ausrasten sollen, erschöpft sich als Running Gag dann doch ziemlich schnell. Der Schnellsprech war fresh wie eh und je. Da braucht es diesen sabbeligen Sprung in der Platte doch gar nicht. 

Wolfmother: wilde Locken aus der Ferne

Zur Erholung setzen wir uns bei den australischen Hardrockern von Wolfmother auf die verdorrte Wiese inmitten des Hurricane. Ein feines Durchpusten ist das. In der Ferne sehen wir die wilden Locken von Sänger und Gitarrist Andrew Stockdale auf der Leinwand schwingen. Das wenig druckvolle Konzert der Pathosrocker Interpol wiederum lassen wir von weitem vorüberziehen. Nicht alles hat immer Spannung. Und nicht jeder Sound passt in gleißendes Licht. 

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Was ich beim Hurricane jedoch völlig fasziniert aufsauge, ist — wie bereits erwähnt — die Show von Christine and the Queens. Über ein Porträt im Zeit-Magazin bin ich im vergangenen Herbst so richtig auf die Sängerin aufmerksam geworden. Der Artikel zitiert sie mit dieser hübschen Selbstauskunft: „Ich habe das Gesicht eines jungen Skateboarders, der gerade in die Stadt hineinrast und ein Bier zwischen seinen Fingerspitzen hält.“ Großartig.

In ihrer Heimat Frankreich füllt Christine and the Queens Arenen. Beim Hurricane kann ich problemlos in die vorderen Reihen laufen. Interessant, wie sich ein Superstar wenige Hundert Kilometer vom Mutterland entfernt dann wieder ganz neu beweisen muss. Und das tut Héloïse Letissier alias Christine alias Chris dann auch. 

Christine and the Queens: Grenzen verwischen

Zu einem Mix aus 80s- und Electropop, Chanson und Funk liefert sie eine hoch konzentrierte wie unglaublich poetische Performance. Begleitet von einer knackig aufspielenden Band sowie sechs Tänzerinnen und Tänzern erschafft sie ein mitreißendes Musikdrama. Sie erzählt von einem Jungen, der Beyonce sein möchte. Sie inszeniert sich selbst als Mann, ist Michael Jackson und David Bowie. Sie singt von dem Gefühl, ein Freak zu sein. Hinaus zu wollen. Sich auszudrücken. 

Hurricane, Festival, Open Air, Music, Live, concerts, Christine And The Queens, The Cure, Sookee, Pop, Rap, Wave, RockIhre Songs und Choreographien verwischen Grenzen und offenbaren die menschliche Natur. Von verletzlich bis aggressiv. Christine selbst — klein, drahtig, geschmeidig, kurzhaarig, schmalbrüstig, ernst, breit grinsend, sexy, spröde — ist das Kraftzentrum inmitten dieses rhythmischen Panoramas. Der Tanz besitzt eine grandiose Dynamik: Synchrone Gruppenbilder, die immer wieder aufbrechen in individuelle Bahnen. Die Akteure vollführen kleine Szenen von Anziehung und Abstoßen, von Taumeln und Erhebung.

Besonders berührend verdichtet sich diese wunderbar vielschichtige Atmosphäre in dem Hit „Five Dollars“ mit seinem hymnischem Aufbau. Glitzernde Fontänen schießen in die Höhe. Christines Stimme schwingt sich empor, während die Sonne langsam untergeht. Die Haut kühlt sich ab, das Herz füllt sich auf. Ein Moment, in dem sich der eigene Körper mit Sound und Situation komplett verbindet. Alles ist aufgelöst. Alles ist eins. Das kann nur Livemusik. Eine Energie, die für dieses verklärte Strahlen in dreckverschmierten Gesichtern sorgt. 

The Cure: Besuch der alten Dame

Aufgeladen von dieser neuen Liebe laufe ich zur nächsten Bühne, um eine alte zu betrachten: The Cure. Robert Smith wirkt wie die freundliche schrullige Tante, die schon lange nicht mehr zu Besuch war. Die aber immer noch die besten Geschichten zu erzählen hat. Das Make-up ist dick und verschmiert aufgetragen. Ein paar Ketten baumeln exzentrisch um den Hals. Und wie sie sich freut, die Tante, die gesamte Sippe zu sehen. Und umgekehrt. Bestens bei Stimme beglückt uns Robert Smith mit seiner Band mit seinen nocturn verhangenen Smashhits: „Lullaby“, „Friday I’m In Love“, „Close To Me“, „Boys Don’t Cry“. 

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Gegen derart viel Glückseligkeit können die Foo Fighters als Headliner des Hurricane dann nicht mehr anballern. Wir winken Dave Grohl zu, während wir gen Ausgang laufen. Der Pop-Akku ist bis zum Rand gefüllt. Und wir tragen den schönen Schmutz des Festivals nachhause. 

Tolle Fotos vom Hurricane 2019 gibt es bei Sebastian Madej zu sehen.

Biggy Pop beim Watt En Schlick Fest 2018. Oder: Wie alles begann

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