Mu:con 2024 in Seoul: Festival von K-Pop bis Indie-Rock

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Warum am ersten Tag in Seoul nicht direkt ein Musikfestival besuchen? Ich kaufe mir also beim 7-Eleven-Convenience-Store eine T-Money-Card für die Subway. Verziert mit drei niedlichen Charakteren der Line Friends, einer vom Designer Kang Byeong Mok entwickelten Cartoon-Reihe. Popkultur steckt in Korea in jedem Detail. Einmal die Karte aufs Drehkreuz aufgelegt. Und los geht die Fahrt ins super hippe wie gehypte Stadtviertel Hongdae. Auf zur Mu:con! Organisiert wird diese Kombination aus Musik-Konferenz und Showcase-Festival von der KOCCA. Die Korea Creative Content Agency ist eine öffentliche Einrichtung, die dem Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus untersteht. Sie wurde 2009 mit dem Ziel gegründet, Koreas Popkultur in den Bereichen Musik, Mode und Entertainment zu fördern. Das Aushängeschild Mu:con ist eine Art Reeperbahn Festival. Nur kompakter und zeitlich anders sortiert. Zunächst treffen sich Business-Profis für drei Tage zu Matchmaking und Paneldiskussionen. Dann folgen Konzerte an zwei Abenden und drei Locations in Hongdae.

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Wartende Musikfans vor dem Hongdae Café

Ich erwische nach meiner Ankunft in Korea gerade noch den zweiten Showcase-Abend.  Und direkt entdecke ich ungemein tolle wie vielfältige Musik. Meine musikalische Erkundungstour beginnt bei einer Location mit dem eingängigen Namen Shinhan Card Sol Pay Square Live Hall. Eine Konzerthalle mit einer Kapazität von gut 800 Personen. Unten vor der Bühne warten bereits zahlreiche Fans. Als Delegate werde ich allerdings sofort auf den bestuhlten Balkon geführt. Zudem wird mir eine Flasche Wasser gereicht. Sehr angenehm. Ich setze mich in die erste Reihe und habe somit einen guten Blick auf das Geschehen. Zunächst wundere ich mich, dass direkt unter mir ein Produktionsplattform mit acht Leuten und fünf Workstations aufgebaut ist. Doch als ich den guten Sound höre und vor allem die vielen beeindruckenden Visuals sehe, wundert mich dieses Aufgebot nicht mehr.

K-Pop-Newcomer Pagaehun: Riesenrad & Feuerwerk auf der Bühne

Kurz vor dem Start werde ich noch freundlich begrüßt von Jun Yeong, der seit 2018 für die KOCCA arbeitet. Wir hatten uns vor einigen Tagen bei der koreanischen Reception, dem Mu:con Mixer, auf dem Reeperbahn Festival 2024 kennengelernt. Vorgestellt hatten mich ihm die freundlichen Menschen von der Hamburger Agentur Pop-up Records. Pop ist ein people’s business. Und ich finde es absolut fantastisch, wenn sich diese Verbindungen über den gesamten Globus ausbreiten.

Der Showcase beginnt mit Pagaehun. Ein K-Pop-Newcomer, der erst vor weniger als einem Jahr bei der Firma ATCM debütierte. Mir gefallen seine hyper eingängigen Popsongs ausgesprochen gut. Er tritt mit vierköpfiger Band auf. Und stilistisch reicht sein Konzert von der super emotionalen Ballade bis zum rockigeren „Play With Me“. Mit mal melancholischem Vibe und stets höchst melodisch. Wirklich begeistert bin ich von den LED-Projektionen auf der Bühnenhinterwand. Manche mögen monieren, dass so viel Optik von der Band und ihrem Wirken ablenken könnte. Aber wie da die Animationen passend auf die einzelnen Songs abgestimmt sind, ist im wahrsten Sinne des Wortes großes Kino. Von einem Riesenrad über Street Art bis hin zu einem fulminanten Feuerwerk. Und wir sprechen hier wohlgemerkt nicht von einer Arena-Show, sondern von einer mittelgroßen Location.

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Funken auf der Bühne: Pagaehun beim Mu:con Festival in Hongdae in Seoul

Animal Divers mit hypnotischer „Electronic World Music“ & Lasershow

Wie schon bei der Show von IVE in Berlin im Juni fällt mir auf, dass die Musiker*innen sehr viel kommunizieren. Aber wo sind die Untertitel, wie ich sie von Drama-Serien aus Korea gewohnt bin? Egal, der Charme transportiert sich auch so und ist in der Regel sehr warmherzig wie aufmerksam.

Musikalisch gänzlich anders geht es weiter mit Animal Divers. Das 2017 in Seoul gegründete Duo bezeichnet seinen Sound selbst als „Electronic World Music“. Handpan und Didgeridoo korrespondieren da mit E-Gitarre, Keyboard und Electronica. Ein hypnotischer bis ultra tanzbarer Sound, der mehr Techno als Ethno ist. Und gemeinsam mit grafischen Visuals und Lasershow (!) entfesselt Animal Divers einen wilden Sog, der mich sehr gut mitnimmt. Einen schönen Kontrast bildet dann Hey Men. Seit acht Jahren macht diese Band aus Korea gemeinsam Musik. Dabei kombinieren sie reichlich Rock mit Rap, poppigen Elementen und catchy Mitsing-Phrasen.

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Lasershow des Duos Animal Divers bei der Mu:con in Seoul

Werbung in den Umbaupausen & ein Wiedersehen mit Indie-Band Cotoba

Die einzelnen Auftritte des Mu:con-Showcase sind im Schnitt 30 Minuten lang. Und die Umbaupausen dauern stets nur einige Minuten. Alles geht flott über die Bühne. Und zur Überbrückung laufen Werbespots, zum Beispiel von Spotify oder Bose. Kommerzielle Berührungsängste sind offenbar weniger vorhanden als in Deutschland. Obwohl da zum Beispiel beim Hurricane ja auch mittlerweile Werbung in den Pausen läuft. Eine Alternative, die zumindest zu überdenken ist bei den aktuellen Preisexplosionen und Nöten in der Live-Branche.

Für mich gibt es dann ein schönes Wiedersehen mit der wunderbaren Band Cotoba aus Seoul. Ihr elegischer, rauer und einfallsreicher Indie- und Post-Rock hat mich 2023 bereits auf dem Reeperbahn Festival beim Showcase der KOCCA überaus eingenommen. Dafne, Dyon Joo, Hyerim und Minsuh begrüßen ihre Fans auf Koreanisch, Japanisch, Englisch und — weil sie bald in Mexiko auf Tour gehen — auch auf Spanisch. Wow!

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Bereits auf dem Reeperbahn Festival 2023 sehr toll: Cotoba aus Seoul bei der Mu:con

Numori, The Solutions & Einblick in globale Musikmärkte beim Networking

In Hongdae ist es mittlerweile dunkel geworden. Und das nächtliche Treiben an diesem Freitagabend verdichtet sich zusehends. Einige Gehminuten weiter sehe ich in der Musinsa Garage, einer cleanen Keller-Location, noch den letzten Song von Numori. Ein fulminater Hybrid-Sound aus K-Pop, Rock und traditionellen Klängen aus Korea. Inklusive der zwei-felligen Trommel Janggu. Mit dem Konzert von The Solutions in der dritten Locations, dem Hongdae Café, endet meine musikalische Tour über die Mu:con. Das Quartett spielt seit 2012 zusammen und ist bei dem Label Happy Robot Records unter Vertrag. Ihr Indie-Rock erinnert mal an Manchester Rave, mal an Alternative- und Grunge-Bands aus den USA.

Kurz vor dem Finale mit The Solutions besuche ich noch das Networking-Event der Mu:con oben im Hongdae Café. Mit einem leckeren Buffet und drei verschiedenen Biersorten vom Hahn zur Selbstbedienung. Dort lerne ich unter anderem Natasha Chu kennen, die in Taipeh die auf Rock spezialisierte Konzerthalle The Wall Live House betreibt. Wir unterhalten uns darüber, wie sich ihr Venue und die Livemusik von der Pandemie erholt hat. Und wie wichtig für ihr Booking die Musikszenen und Märkte in China und Südkorea sind. Tag eins in Seoul. Und ich fahre zurück zu meinem Apartment. Angefüllt mit Geschichten und Eindrücken. Und mit Musik.

Audiovisuelle Eindrücke von der Mu:con 2024 gibt es in meinem Highlight „Seoul Pop 24“  auf Instagram 

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Reeperbahn Festival 2020, Tag 1 – check check check

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Nun hat es also begonnen, das erste Reeperbahn Festival unter Pandemie-Bedingungen. Und bei dieser Art von popkulturellem Labor-Event ist mir am ersten Tag noch einmal enorm bewusst geworden, wie nachhaltig Corona unser Verhalten prägt. Unser Leben ist kontrollierter geworden. Das wird vor allem beim Zugang zu den Open-Air-Bühnen und Clubs auf St. Pauli deutlich. Bei jedem Einlass gilt es, mit Hilfe eines QR-Codes einzuchecken. Also die eigenen Kontaktdaten auf einer Webseite zu hinterlegen, um potenzielle Infektionsketten nachvollziehbar zu machen. Beim Verlassen der Spielstätte muss sich jede und jeder aber auch wieder aus dem Areal ausloggen. Sonst klappt es nicht mit dem nächsten Einlass. Check-in. Check-out. Check one two. Check check check. 

Dieses Prozedere führt mitunter zu leicht kafkaesken Momenten. Etwa, wenn ich das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld verlasse (Check-out), um nach fünf Meter das Gelände für die große Festivalbühne zu betreten (Check-in). Kurz wünschte ich, ich hätte mir für das Reeperbahn Festival eine dieser praktischen Anglerwesten mit vielen Taschen besorgt. Denn gefühlt jongliere ich permanent mit Gegenständen. Handy, Maske, Sonnenbrille, Desinfektionsmittel, zudem der Mantel für den kühleren Abend. Ein stetes Hervorkramen und Verstauen. Aber ach. Natürlich ein hundertfünfzigprozentiges Luxusproblem. Denn wie beglückend ist es doch, so etwas wie ein Festival in diesem Jahr überhaupt erleben zu können. 

Vom Homeoffice-Level auf Festival-Modus umschalten

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Die Fritz Bühne im Festival Village mit Corona-Kästchen, fotografiert von Tom Heinke

Die Band Koko eröffnet das Live-Programm des Reeperbahn Festivals am frühen Mittwochnachmittag auf der kleinen Fritz-Bühne im Festival Village. Mit ihrem Mix aus Electro, Hip-Hop und Indie-Rock bieten sie den perfekten Soundtrack, um von Homeoffice-Level langsam auf Festival-Modus umzuschalten. Festival-Modus 2020, versteht sich. Denn, wie heißt es so schön in einem Hit von Stereo Total: „Wir tanzen im Viereck“. In 1,50 Meter Abstand sind Quadrate auf den Asphaltboden aufgesprüht, in denen je zwei Menschen stehen oder sitzen dürfen. Für Square-Dance-Mini-Raves. 

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Akua Naru, fotografiert von Robin Schmiedebach

Doch da ist diese große Dankbarkeit zu spüren, wieder gemeinsam mit anderen Popkultur feiern zu können. Zum Beispiel bei Sängerin und Spoken-Word-Artistin Akua Naru. Sie habe diverse Corona-Tests machen lassen, um endlich in dieses Mikrofon singen zu dürfen, ruft sie von der großen Open-Air-Bühne auf dem Heiligengeistfeld hinab.

Die ankommenden Musikfans werden dort vom Security-Personal an ihre Plätze geführt. Zwei Stühle, Abstand, zwei Stühle, Abstand. Und so weiter. Ein sehr luftiges Sitzen. Bei Akua Narus Fusionsound aus Soul, Jazz und RnB führt das eher zu einer Lounge-Atmosphäre in der Abendsonne als zu euphorischem Groove in der Menge. 

Umsicht und Freundlichkeit vor den Clubs und Bühnen

Insgesamt fühlt sich dieser erste Festivaltag wie ein gemeinsames Herantasten und Lernen an. Die meisten Gäste scheinen extrem darauf bedacht, gut mitzumachen, damit diese durchaus historische Festivalausgabe gelingt. Selbst bei langen Schlangen vor den Clubs am Abend – etwa vor dem Gruenspan bei International Music oder vorm Molotow für die Band Paar – ist die Stimmung meines Erachtens sehr entspannt bis umsichtig.

Und all den Menschen, die auf den Open-Air-Arealen sowie vor und in den Clubs arbeiten, sei ohnehin ein riesiges Lob ausgesprochen für ihre Geduld und Freundlichkeit. Denn sie sind diejenigen, die nun zu koordinieren haben, dass die Locations Corona-bedingt nur zu etwa einem Fünftel gefüllt sein dürfen. Ohne sie ist Popkultur nichts.

Carsten Brosda: „Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen“

Alles in allem fehlt mir der internationale Buzz, der sonst Hamburg in diesen vier Ausnahmetagen im September erfasst. Das Reeperbahn Festival fühlt sich deutlich lokaler an. Und weniger beschwingt, frei, spielerisch. Was für ein Unterschied ist das zum Beispiel zum vergangenen Jahr, wo das Festival für mich mit Guerilla-Networking vor einem Kiosk auf der Reeperbahn begann. Aber als erster Eindruck überwiegt für 2020 die Erkenntnis: Es ist anders, aber es funktioniert. Und auch die Jonglage des Check-in, Check-out habe ich bis zum Ende des ersten Tages halbwegs erlernt. Denn letztlich geht es in diesen merkwürdigen Corona-Tagen nicht nur um das individuelle Musikerleben. 

„Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für unsere Kreativindustrie, für unser Kultur, für die Bildende Kunst, für die kulturelle Infrastruktur, die Clubs, die Plattenfirmen, die Konzertveranstalter, die Backliner, die Verleger und natürlich die Musiker“, erklärt Kultursenator Carsten Brosda bei der Eröffnungsveranstaltung am Mittwochabend, die ich mir am nächsten Morgen im Stream anschaue. Normalerweise tragen all diese Menschen dazu bei, unser Leben zu bereichern. Nun sei es aber unser Job als Gesellschaft, der Musikbranche zu helfen, diese schlimmen Zeiten zu durchzustehen, erläutert Carsten Brosda. 

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Kultursenator Carsten Brosda bei „Doors Open“, fotografiert von Fynn Freund

„Das Reeperbahn Festival ist dieses Jahr ein Zeichen des Überlebens und ein Leuchtfeuer der Hoffnung, dass Livekultur zurückkehren wird. Trotz der Auflagen, die das Virus uns auferlegt“, erklärt der Kultursenator in seiner Ansprache weiter. Es gehe auch darum, so Carsten Brosda, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen. Mit Ängsten umzugehen. Weiterzumachen. Und vor allem: offen zu bleiben für Mitmenschlichkeit. Erst recht in Zeiten, in denen Europa in seiner Flüchtlingspolitik so heftig versage. Musik, besonders live, öffnet diese Emotionen und Haltungen seit jeher. Derzeit ist sie daher wichtiger denn je.

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Hurricane Festival 2019 — sunday I’m in love

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Auf Festivals gibt es häufig diesen einen Moment, der mich besonders berührt. Der mich  tiefer packt und zugleich leichter macht. Inmitten all des schönen Irrsinns auf freiem Feld mit Musik und Menschen. Beim diesjährigen Hurricane ereignet sich dieser Popglückaugenblick bei der Show von Christine and the Queens. 

Mit Freunden fahre ich nur für den Sonntag als Tagesgast zum alten staubigen Eichenring im norddeutschen Scheeßel. 1998 war ich das erste Mal beim Hurricane. Ich erinnere mich an Tocotronic und Pulp bei brütender Hitze. Die Feuerwehr duschte die Menge gegen den Hitzschlag. Und Jarvis Cocker verlor beim Tanzen auf der Bühne seine Schlappen. Seitdem hat sich das Open Air aufgepumpt. Mit fünf Bühnen, Riesenrad, Supermarkt, Sponsorenpräsenz und Gastroboom sowie 68.000 Gästen in diesem Jahr.

Sookee: bester Flow mit Message

Ein kommerzielles Grundrauschen, mit dem ich mich versöhne, sobald ich als ersten Act des Tages eine Künstlerin wie Sookee erleben kann. Gut gelaunt und im besten Flow haut diese Berliner Rapperin ihre bunten, queeren, antirassistischen Songs hinaus. Und als sie dann mit der wunderbar glitzernden Saskia Lavaux von Schrottgrenze „Hengstin“ von Jennifer Rostock im Remix singt, bin ich sofort drin im positiv aufgeladenen Festivalfeeling. 

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Viel Kritik hatte das Hurricane im Vorfeld eingesackt, nachdem bei der ersten Ankündigungsrunde für 2019 keine einzige Frau auftauchte. Das wirkte tatsächlich extrem piefig in Zeiten, in denen etwa das Primavera Festival in Barcelona ein tolles paritätisches Line-up hinbekommt. Doch der Veranstalter FKP Scorpio zog nach und hob diverse coole Ladys ins Programm. Darunter auch Grossstadtgeflüster, ebenfalls Ur-Berliner Gewächse.

Großstadtgeflüster: Out-of-bed-Boombox

Sängerin Jen Bender amüsiert uns hochgradig mit ihrer entspannten Out-of-bed-Attitüde. Eine lässig groovende Boombox in Batikshirt und Schlabberhose, die die Selbstironie mit großen Löffeln gefrühstückt hat. Ihr Electrorap fährt uns zusammen mit der Hitze dieses Sommertages in die Körper und macht alles shake shake shake. 

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Derart rhythmisiert ziehen wir mitten hinein in den Cloudrap und Ballerhiphop von Yung Hurn aus Wien. Fluffige Wolken hängen auf der Bühne. Und seine Stimme in selbigen. Watteweich verzerrter Gesang untermalt eine Show zwischen Machopose und Proletentum, Kitsch und Gaga, Trap und Schmäh. Muss ich nochmal drüber nachdenken, über das Ganze. Die Kids jedenfalls singen jede Silbe mit, während sie sich Wasser über die glühenden Köpfe kippen. Ich gehe an eine der vielen kostenlosen Trinkstellen und tue es ihnen gleich. 

Hurricane Festival: Das Ich von der Leine lassen

Festival heißt auch, sich den Gegebenheiten hinzugeben. Es bedeutet, Pommes mit sehr viel Soße zu essen. Ein Bier in der Sonne zu trinken und zu fühlen, es seien fünf. Und sich an den anderen Gästen zu erfreuen. An den absent Tanzenden und den im Schatten Dösenden. An den harten Kuttenträger, die sich mit Glitzer schminken. Und an den Mädelscliquen mit den Eddingtattoos. Sich ausprobieren. Das Ich von der Leine lassen. Freundschaft feiern. 

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Das mit dem Partymachen etwas zu streng genommen hat für meinen Geschmack Mike Skinner von The Streets. Ja, lieber Mike, wir alle lieben Dein Debütalbum „Original Pirate Material“ und sind Anfang der Nuller-Jahre hart dazu abgegangen. Aber den gesamten Auftritt beim Hurricane auf eine immer wieder angekündigte Minute zu reduzieren, bei der dann alle kollektiv ausrasten sollen, erschöpft sich als Running Gag dann doch ziemlich schnell. Der Schnellsprech war fresh wie eh und je. Da braucht es diesen sabbeligen Sprung in der Platte doch gar nicht. 

Wolfmother: wilde Locken aus der Ferne

Zur Erholung setzen wir uns bei den australischen Hardrockern von Wolfmother auf die verdorrte Wiese inmitten des Hurricane. Ein feines Durchpusten ist das. In der Ferne sehen wir die wilden Locken von Sänger und Gitarrist Andrew Stockdale auf der Leinwand schwingen. Das wenig druckvolle Konzert der Pathosrocker Interpol wiederum lassen wir von weitem vorüberziehen. Nicht alles hat immer Spannung. Und nicht jeder Sound passt in gleißendes Licht. 

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Was ich beim Hurricane jedoch völlig fasziniert aufsauge, ist — wie bereits erwähnt — die Show von Christine and the Queens. Über ein Porträt im Zeit-Magazin bin ich im vergangenen Herbst so richtig auf die Sängerin aufmerksam geworden. Der Artikel zitiert sie mit dieser hübschen Selbstauskunft: „Ich habe das Gesicht eines jungen Skateboarders, der gerade in die Stadt hineinrast und ein Bier zwischen seinen Fingerspitzen hält.“ Großartig.

In ihrer Heimat Frankreich füllt Christine and the Queens Arenen. Beim Hurricane kann ich problemlos in die vorderen Reihen laufen. Interessant, wie sich ein Superstar wenige Hundert Kilometer vom Mutterland entfernt dann wieder ganz neu beweisen muss. Und das tut Héloïse Letissier alias Christine alias Chris dann auch. 

Christine and the Queens: Grenzen verwischen

Zu einem Mix aus 80s- und Electropop, Chanson und Funk liefert sie eine hoch konzentrierte wie unglaublich poetische Performance. Begleitet von einer knackig aufspielenden Band sowie sechs Tänzerinnen und Tänzern erschafft sie ein mitreißendes Musikdrama. Sie erzählt von einem Jungen, der Beyonce sein möchte. Sie inszeniert sich selbst als Mann, ist Michael Jackson und David Bowie. Sie singt von dem Gefühl, ein Freak zu sein. Hinaus zu wollen. Sich auszudrücken. 

Hurricane, Festival, Open Air, Music, Live, concerts, Christine And The Queens, The Cure, Sookee, Pop, Rap, Wave, RockIhre Songs und Choreographien verwischen Grenzen und offenbaren die menschliche Natur. Von verletzlich bis aggressiv. Christine selbst — klein, drahtig, geschmeidig, kurzhaarig, schmalbrüstig, ernst, breit grinsend, sexy, spröde — ist das Kraftzentrum inmitten dieses rhythmischen Panoramas. Der Tanz besitzt eine grandiose Dynamik: Synchrone Gruppenbilder, die immer wieder aufbrechen in individuelle Bahnen. Die Akteure vollführen kleine Szenen von Anziehung und Abstoßen, von Taumeln und Erhebung.

Besonders berührend verdichtet sich diese wunderbar vielschichtige Atmosphäre in dem Hit „Five Dollars“ mit seinem hymnischem Aufbau. Glitzernde Fontänen schießen in die Höhe. Christines Stimme schwingt sich empor, während die Sonne langsam untergeht. Die Haut kühlt sich ab, das Herz füllt sich auf. Ein Moment, in dem sich der eigene Körper mit Sound und Situation komplett verbindet. Alles ist aufgelöst. Alles ist eins. Das kann nur Livemusik. Eine Energie, die für dieses verklärte Strahlen in dreckverschmierten Gesichtern sorgt. 

The Cure: Besuch der alten Dame

Aufgeladen von dieser neuen Liebe laufe ich zur nächsten Bühne, um eine alte zu betrachten: The Cure. Robert Smith wirkt wie die freundliche schrullige Tante, die schon lange nicht mehr zu Besuch war. Die aber immer noch die besten Geschichten zu erzählen hat. Das Make-up ist dick und verschmiert aufgetragen. Ein paar Ketten baumeln exzentrisch um den Hals. Und wie sie sich freut, die Tante, die gesamte Sippe zu sehen. Und umgekehrt. Bestens bei Stimme beglückt uns Robert Smith mit seiner Band mit seinen nocturn verhangenen Smashhits: „Lullaby“, „Friday I’m In Love“, „Close To Me“, „Boys Don’t Cry“. 

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Gegen derart viel Glückseligkeit können die Foo Fighters als Headliner des Hurricane dann nicht mehr anballern. Wir winken Dave Grohl zu, während wir gen Ausgang laufen. Der Pop-Akku ist bis zum Rand gefüllt. Und wir tragen den schönen Schmutz des Festivals nachhause. 

Tolle Fotos vom Hurricane 2019 gibt es bei Sebastian Madej zu sehen.

Biggy Pop beim Watt En Schlick Fest 2018. Oder: Wie alles begann

Watt En Schlick: Denn davon handeln wir

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Hamburg Harbour Festival: Wagnis Newcomer

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Gibt es eigentlich etwas Aufregenderes in der Musikszene als Newcomer? Klar, eine renommierte Musikerin oder einen erfahrenen Popkünstler über Jahre zu begleiten und beim virtuosen Spiel zu erleben, kann ein Hochgenuss sein. Und verleiht unserem Dasein zudem eine vertrauensvolle Beständigkeit. Doch auch die Etablierten haben sich irgendwann zaghaft, zäh oder wütend an die Öffentlichkeit begeben. Ein Schritt hinaus. Und dann noch einer. Ein Sich-Öffnen.

Ich finde diesen Moment hochgradig spannend. Wenn die eigenen Lieder, das eigene Wirken, die eigene Person das erste Mal auf ein Publikum treffen. Ein ultimativ intimer Akt, sich mit der Welt zu verbinden. Es bedarf Übung, sich zu zeigen. Und von daher bin ich immer wieder begeistert, wenn andere Musikverrückte Newcomern eine Plattform bieten. So wie Sebastian Madej mit seinem Festival Hamburg Harbour.

Das popkulturelle Leben in der nordfriesischen Provinz

Vor Kurzem startete der Vorverkauf für die dritte Ausgabe von Hamburg Harbour im Knust im Januar 2019. Und aus diesem Anlass erzählte mir Sebastian, wie sich sein Festival überhaupt entwickelt hat. Lange Jahre hat er in Husum gelebt und pendelte als passionierter Musikfan für zahlreiche Konzerte nach Hamburg. Um das popkulturelle Leben in der nordfriesischen Provinz in Schwung zu bringen, engagierte er sich im Speicher Husum.

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Sebastian Madej, Gründer der Festivals Husum und Hamburg Harbour.

Dieses soziokulturelle Zentrum gestaltet sein Programm demokratisch per Abstimmung. Sebastians Idee eines kleinen feinen Festivals fand offenbar Zustimmung. Und so spielen seit 2011 beim Husum Harbour jährlich im Frühjahr Indie- und Folkpopmusiker sowie Singersongwriter im historischen Backsteingebäude direkt am alten Husumer Hafen. 

Sebastian ist ein beherzter Missionar, der anderen Menschen einfach gerne Musik nahe bringen möchte, die er selbst liebt. Und so kombinierte er bei den vergangenen Husum Harbour Festivals stets so genannte „größere Acts“ als Zugpferde mit noch weniger bekannten Bands. Niels Frevert, Thees Uhlmann, Gisbert zu Knyphausen und Alin Coen zogen dann im Laufe der Jahre auch Fans bis aus Hamburg an die Nordsee. Und zugleich konnte das Publikum dann in einer Tour prima Entdeckungen machen. Etwa Singersongwriter Julian Gerhard, das Folkquintett Dangers Of The Sea oder Sängerin Lina Maly.

Hamburg Harbour: von Husum ins Karoviertel

Mittlerweile lebt Sebastian in Hamburg und ist hauptberuflich in der Musikbranche aktiv. Zunächst war er als Finanzchef für die Agentur Neuland Concerts tätig. Aktuell arbeitet er beim Hamburger Konzertveranstalter Funke Media als Leiter Finanzen für die Bereiche Rechnungswesen, Steuern, Controlling und Beteiligungsmanagement. Leidenschaft für Musik und Kenntnis von Zahlen ist eine äußerst gefragte Kombination im Popgeschäft. Und als hätte Sebastian mit Job, Familie, Konzertbesuchen und dem weiter laufenden Husum Harbour nicht genug zu tun, mischt er nun auch in der Hamburger Szene mit.

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Jonas David
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The Lion And The Wolf

Gemeinsam mit dem Knust im Karoviertel kam die Idee auf, einen Ableger seines charmanten Festivals hoch im Norden in Hamburg aufzuziehen. Und so stieg 2016 das erste Hamburg Harbour Festival mit Acts wie den Isbells und Tim Neuhaus & The Cabinets. Für die dritte Ausgabe 2019 konnte Sebastian vier sehr interessante Acts gewinnen.

Jonas David zieht seine Hörerinnen und Hörer mit fragilem Folkpop unmittelbar auf eine Ebene zwischen Melancholie und Zuversicht. Eine Musik, die uns durchlässiger macht für die guten seelenvollen Dinge. Jonas Davids Qualitäten als Arrangeur und Komponist fanden bereits Anklang bei so unterschiedlichen Projekten wie Matthias Schweighöfers Film „Vaterfreuden“ sowie bei der MTV-Unplugged-Session von Revolverheld.

ROE aus Nordirland: traumwandlerische und zugleich trotzige Attitüde

„Das ist einer dieser Künstler, den noch viel viel mehr Menschen kennenlernen sollen“, sagt Sebastian. Gleiches gilt für Tom George alias The Lion And The Wolf. Der Brite bringt die Gemüter ebenfalls sachte, aber dafür umso tiefgreifender zum Schwingen.

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Provinz, fotografiert von Nico Braun.

Als Freundin von prägnanten Bandnamen wie Küken, Karies oder Pranke bin ich besonders gespannt auf das Quartett Provinz aus Ravensburg. Eine jener Bands, die „in den Startlöchern steht“, wie Sebastian sagt. Sänger Vincent erzählt mit aufgerauter Stimme und intensivem Druck zu schwelgerischem Kammerpop vom Fühlen und Verstehen, von Angst und Liebe.

Das Hamburg Harbour 2019 wird komplettiert von ROE. Auf die nordirische Musikerin trifft der Aspekt Newcomer voll und ganz zu: 19 Jahre ist sie alt und wird direkt als größtes Nachwuchstalent ihrer Heimat gehandelt. In ihren Songs und ihrer Stimme steckt eine traumwandlerische und zugleich trotzige Attitüde, die sie in coole wie detailverliebte Electrosounds hüllt. Das gefällt mir sehr gut und ist eine tolle Klangfarbe für das Festival.

Booking aus Passion

Trotz dieses vielversprechenden Line-Ups ist der Vorverkauf nicht rasant Richtung „ausverkauft“ gestartet. Anders als noch im vergangenen Jahr, als er mit Moritz Krämer einen Künstler mit reichlich Fanbase ankündigen konnte, erzählt Sebastian. Auch für 2019 hatte er versucht, einen populäreren Act als Zugpferd zu buchen. Doch eine Vielzahl an Gründen führte zu freundlichen Absagen.

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ROE

Manche Künstlerinnen und Künstler sind durch kommende größere Auftritt in Hamburg an Gebietsklauseln gebunden. Einige warten lieber auf die Releaseshow zu ihrem nächsten Album. Andere stecken gerade mitten im Entstehungsprozess für neues Material.

Hinzu kommt, dass Sebastian seine Veranstaltungen komplett als Hobby und ehrenamtlich betreibt. Im Zuge dessen zahlt er Künstlern zwar Honorar, kann aber nicht so hohe Gagen bieten wie ein großer Konzertveranstalter.

Nachdenken über Newcomer

Dass ein erlesen kuratiertes Newcomer-Programm nicht genügend Publikum ziehen könnte, erläutert Sebastian, das habe ihn nachdenklich gemacht. Und mich auch. Wenn uns immer ständig alles digital entgegenruft „Jetzt! Neu! Sofort! Hype! Schnell!“, schwindet dann die Motivation, sich im realen Leben für ein paar Stunden wirklich auf Unbekanntes einzulassen? Oder gehen die Menschen einfach lieber auf Nummer sicher, wenn sie schon vor die Türe treten und Geld für ein Konzert ausgeben? Ist womöglich das Angebot in Hamburg einfach viel zu groß?

Klar, es gibt vom Publikum gelernte Konzepte wie das Reeperbahn Festival, das auf Newcomer setzt. Doch das zieht natürlich mit einem ganz anderen finanziellen Wums seine Gäste. Interessanter finde ich da, wie sich die neue Reihe von FKP Scorpio entwickeln wird: Im Januar lädt der Hamburger Konzertveranstalter bereits zum dritten Mal zu „Mucke bei die Fische“, um die „jungen Wilden“ auf die Bühne zu holen. Bands auf dem Sprung mit wenig Live-Erfahrung, von denen sich viele beim kurz zuvor stattfindenden Eurosonic Festival im niederländischen Groningen ausprobiert haben.

Weitere Formate für neue Töne: „Mucke bei die Fische präsentiert“

Unter dem Titel „Mucke bei die Fische präsentiert“ bringt FKP Scorpio seit November nun monatlich Newcomer in unterschiedliche Clubs. „Wer neue Töne hören möchte, wer dabei sein will, wenn junge und aufregende Bands ihr Debüt geben oder sehen möchte, wie sich Künstler entwickeln, die vielleicht schon einmal in der Hansestadt zu Gast waren, ist ab jetzt zum monatlichen Date mit guter Musik verabredet“, heißt es in der Presseinfo zu dem neuen Format.

Das Artwork zu Hamburg Harbour 2019 gestaltete Denise Hennings.

Ich bin wirklich angetan davon, Newcomer so eindeutig in den Fokus zu rücken. Und ich wünsche allen – auch mir selbst – die Muße, sich mit Herz und Hirn auf das Abenteuer zu begeben, Unbekanntes ganz nah an sich heranzulassen. Das muss ja nicht immer mit Überwältigungsgeste geschehen. Es kann auch ein neugieriges Beobachten und Erforschen sein, wie es das wunderschöne Artwork zum Hamburg Harbour 2019 von Denise Hennings zeigt. Ein Mädchen schaut von einem Ruderboot aus in einen Teich und betrachtet die darin umher schwimmenden Koikarpfen mit ihren farbigen Flossen.

Wenn Musik weiterhin so inspirierend schillern soll, braucht sie Publikum. Braucht sie uns. Und wir, wir brauchen sie ja sowieso, die Musik.

Newcomer-Termine:

„Mucke bei die Fische präsentiert“: Skegss, Molotow: 8. Dezember 2018
Hamburg Harbour Festival: 12. Januar 2019, Knust
Mucke bei die Fische: 19. Januar 2019, Molotow
Husum Harbour Festival: 6. & 7. April 2019
Reeperbahn Festival: 18. bis 21. September 2019, St. Pauli

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Reeperbahn Festival 2018, Tag 4 – Finale und Fazit

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All die Musik und all die Menschen, all die Gespräche, Gesichter und Geschichten driften noch drunter und drüber durch Hirn und Herz am Tag nach dem Reeperbahn Festival. Langsam runterkommen. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Die Organisation

Auch im 13. Jahr dieser Clubsause denke ich: Wow, was für eine logistische Meisterleistung. An vier Tagen und Nächten gibt es auf St. Pauli rund 500 Konzerte plus Hunderte weitere Veranstaltungen aus Kunst, Film und Konferenzteil an 90 Locations, die hoch professionalisiert bespielt werden. Das Reeperbahn Festival 2018 erlangt zudem einen neuen Besucherrekord: 45.000 Popfans und Konferenzteilnehmer kamen auf den Kiez.

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Gesehen auf einer Jeansjacke im Molotow

Und was mit hundertprozentiger Gewissheit eintritt: der Faktor Zufall. Etwa das kurzfristig krankheitsbedingt abgesagte Konzert von Ibeyi in der Elbphilharmonie. All das will geregelt und kommuniziert werden. Sollte es für solche großen Acts wie beim Theater eine zweite Besetzung geben? Wäre das noch Rock ’n‘ Roll? Aber wäre es nicht auch unfassbar cool, hätte ein Hamburger Newcomer im Großen Saal spontan als Ersatz zur Wandergitarre greifen können?

Die Besucher

Mich faszinieren Festivals immer besonders, wenn jede und jeder dort seine und ihre Nische finden kann. Und durch das Reeperbahn Festival führen Tausende individuelle Wege. Vermutlich würde es gegen Trilliarden Persönlichkeitsrechte verstoßen, die Einlassbänder mit einem Tracker (ähnlich wie bei Vogelbeobachtungen) auszustatten. Aber vier Tage und Nächte lang die Bahnen der Besucher zu verfolgen, wäre extrem spannend. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis allein gibt es bereits die unterschiedlichsten Verhaltensweisen zu betrachten.

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Queen Zee im Backyard des Molotow

Die Superorganisierte wechselt mit Stundenplan im Halbstundentakt von einer Band zur nächsten. Die Netzwerkerin ist zu so vielen Meet & Greets eingeladen, das sie erwägt, Tupperschüsseln mitzubringen, um sich die nächsten Monate von den Festivalhäppchen zu ernähren.

Der Ergebnisoffene lässt sich treiben und trudelt von diversen Vor-der-Türe-Schnacks zu Konzerten und zurück. Der Geschäftsmann arbeitet sich von Termin zu Termin und hat maximal drei Bands gesehen. Die Genrefixierte grast sämtliche Hip-Hop-Acts beim Reeperbahn Festival ab. Der Energieeffiziente bleibt die gesamte Festivalzeit im Molotow und vergnügt sich dort vor mittlerweile vier Bühnen (quasi ein Hurricane Festival auf kleinstem Raum). Die Erschöpfte nimmt sich am Freitag einen Festival-Off-Day, um am Samstag ausgeruht in den Endspurt gehen zu können. Und dann gibt es noch die Ticketbesitzerin, deren freier Wille über das Programm siegt – im Stile von: „Es ist so schönes Wetter, ich lege mich jetzt an den Elbstrand“.

Persönlichkeiten 2018

Zwei Menschen sind für mich beim Reeperbahn Festival 2018 herausragend präsent. Beide sind mit ihrem Auftreten und ihren Aussagen so etwas wie der „Talk Of The Festival“. Sie erschaffen einen positiven Buzz. Die Rede ist von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda und Linda Perry, Sängerin und Songschreiberin der 4 Non Blondes sowie Produzentin, Labelmanagerin und in diesem Jahr Mitglied in der Jury des Newcomer-Awards Anchor.

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Artwork beim Anchor Award

Carsten Brosda gibt optisch im Anzug den seriösen Politiker, ist aber in seinen Worten ein freiheitsliebender Geist. Auf dem Festival ruft er Rede um Rede emphatisch und euphorisierend dazu auf, unsere demokratischen Werte zu verteidigen und mit der Kraft der Musik unseren diversen, offenen Lebensstil zu beflügeln.

Als Gegenbeispiel zu einem freiheitlichen Dasein nennt er einen Vorfall aus den USA: Auf dem Plattencover zu „Songs Of Resistance“ von Marc Ribot will eine Sängerin, die an einem der Songs beteiligt ist, nicht namentlich genannt werden. Sie hat Angst, dass ihre Inhalte der Trump-Regierung missfallen und ihr das Visum entzogen wird. Und Brosda fragt sich: „Wo leben wir eigentlich?“ In was für – im negativen Sinne – irren Zeiten? Bei der Verleihung des Anchor Awards am Samstagabend im St. Pauli Theater wünscht er sich für uns alle vor allem eines: „being different without fear“. Diese Formulierung wiederholt Brosda mehrfach. Starker Applaus.

Linda Perry, das personifizierte „Don’t Fuck With Me“

Definitiv anders – und furchtlos – ist Linda Perry. Die schmale Frau mit dem markanten Hut ist beim Reeperbahn Festival auf Panels und in Interviews zu erleben. Sie ist die Stimme, die permanent sagt: „Aber der Kaiser ist doch nackt“. Eine radikale Wahrheitssucherin und -aussprecherin. Das personifizierte „Don’t Fuck With Me“.

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Die Jury des Anchor Award (v.l.): Linda Perry, Cassandra Steen, Tony Visconti, Skye Edwards und Jason Bentley

Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht zuletzt ihrer famosen Kratzbürstigkeit zu verdanken ist, dass es mit Faces On TV sowie Tamino beim Anchor 2018 direkt zwei Gewinner gibt. Recht unverblümt macht Perry bei der Verleihung deutlich, dass sie von allen acht Nominierten, die die Jury im Laufe des Festivals live erlebt hat, mehr erwartet. An Performance. An Energie. Rock ’n‘ Roll sei schließlich kein 9-to-5-Job. Ihre Ansprüche seien hoch. Auch an sich selbst.

Linda Perry ist ein zähes Biest. Eine Naturgewalt. Einerseits blafft sie den Moderator an, ob er Angst vor ihr habe. Andererseits sorgt sie mit ihrem Auftritt bei der Anchor-Gala für meinen intensivsten Gänsehaut-Moment des Festivals. Gemeinsam mit den Sängerinnen Skye Edwards von Morcheeba und Cassandra Steen von Glashaus interpretiert sie – am Flügel spielend und begleitet vom wunderbaren Kaiser Quartett – ihren Hit „What’s Up“. Eine zarte Reprise. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, vor lauter Schönheit nicht loszuheulen.

Entwicklungen

Das Reeperbahn Festival zeigt zunehmend Haltung zu gesellschaftlichen, aber auch brancheninternen Themen. Das gefällt mir.

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Metronomy beim Anchor Award

Der Anchor Award ist – vor allem im Vergleich zum eingestellten, auf Verkaufszahlen basierenden Echo – ein guter Impuls in der Landschaft der Poppreise. Wieso ständig das ohnehin schon Exzellente auszeichnen, wenn doch das Künftige unterstützt werden kann? Der Anchor ist geschmackvoll inszeniert und gehaltvoll in der Auseinandersetzung mit Musik. Das zeigt allein die offensichtliche Uneinigkeit der Jury. Was kann Popkultur denn besseres passieren, als dass sie Anlass zu beherzten Diskussionen ist. Dass sie nicht egal ist. Dass sie lebt.

Mehr Musikerinnen auf den Bühnen

Fantastischer Weise deutlich spürbar sind die Auswirkungen des Keychange-Programms, das der britische Musikfonds PRS Foundation 2017 initiiert hat. Mehr als 100 Musikfestivals aus Europa und Kanada, darunter das Reeperbahn Festival, haben sich verpflichtet, dass 50 Prozent der musikalisch Mitwirkenden bis 2022 Frauen sein sollen. Sprich: mehr Musikerinnen auf den Bühnen. Das heißt vor allem: mehr Abwechslung. Top.

Zu erleben ist das am Samstag zum Beispiel bei den estnischen Rapperinnen von Hoax. Im Karatekeller des Molotow hauen die beiden hochfrequent ihren Sprechgesang heraus. Wut und Humor, Power und Skills. Die Menge feiert das. Yeah!

Ideen fürs Reeperbahn Festival 2019

So ein verdichtetes Popkultur-Erlebnis wie das Reeperbahn Festival wirft bei mir sofort das Kopfkino an, was noch alles möglich wäre. Von daher anbei einige Ideen, Anregungen und Wünsche meinerseits für das Reeperbahn Festival 2019.

1. Noch mehr Vielfalt

Ich wünsche mir noch mehr stilistische Vielfalt, mehr abgefahrenen Kram und vor allem noch mehr Input aus anderen Ländern – ungewohnte Rhythmen, überraschende Melodien, noch mehr unterschiedliche Sprachen aus Südamerika, Afrika und Asien.

2. Kuratierte Abende

Helen Schepers von der Fahrradgarderobe, die ich beim Helga Award kennenlerne, erzählt mir von einem Jazzfestival in den Niederlanden, auf dem einzelne Musiker Abende kuratieren. Eine sehr schöne Idee. Ich wünsche mir als neues Fangirl eine Nacht mit Künstlern, die Linda Perry auswählt. Ein Abend von Jarvis Cocker oder Damon Albarn fände ich ebenfalls fein. Bitte denken Sie groß.

3. Hamburg-Abend

Im Hamburg-Haus im St. Pauli Museum haben sich beim Reeperbahn Festival 2018 hiesige Labels wie Backseat und hfn music präsentiert. Sehr gut ist das. Wie wäre es zudem mit einem Abend ausschließlich mit Acts aus Hamburg? So hätten Besucher von außerhalb die Chance, geballt Talente aus der Hansestadt zu erleben.

4. Open Stage

Das Reeperbahn Festival arbeitet mittlerweile derart professionell, dass mir ein wenig das anarchische Moment fehlt. Wie wäre es als kleines Guerilla-Element mit einer Open Stage am Mittwochabend? Bands könnten sich vor Ort anmelden und werden nach dem Losverfahren auf die Bühne gebeten. Eine Jury oder das Publikum wählt den Gewinner, der dann am nächsten Tag einen Slot im Festival-Programm erhält.

5. Internationale Blogger Battle

Da ich selbst gerade angefangen habe, über Popmusik in Hamburg zu bloggen, bin ich natürlich sehr dafür, dieses Medium zu pushen. Wie wäre es also beim Reeperbahn Festival 2019 mit einer internationalen Blogger Battle? Schreiber (und Podcaster) aus verschiedenen Ländern berichten aus ihrer ganz individuellen Perspektive über das Festival. Ich stelle mir das äußerst inspirierend vor.

6. Schlafbärenquartier

Das Reeperbahn Festival ist in manchen Momenten einfach nur fordernd, ja anstrengend. Mitunter möchte ich als Besucherin einfach nur eine halbe Stunde Ruhe haben, um mich dann wieder frisch auf all die neue Musik einlassen zu können. Wie wäre es daher mit einem (akustisch abgeschotteten oder mit Noise-Cancelling-Headphones versehenen) Ruheraum, einer Chilloutarea, einem Entspannungsseparee? Oder, wie ich es nennen würde, einem Schlafbärenquartier? Gerne mit Massage-Einheit. Danke.

See you next year

Ich jedenfalls bin sehr gespannt auf das Reeperbahn Festival 2019. Jetzt ist ja erstmal ein Jahr Zeit, um sich auszuruhen.

Zum Nachgucken

Wer tolle Fotos vom Reeperbahn Festival sehen möchte, dem seien die Instagram-Accounts von Charles Engelken und Stefan Malzkorn empfohlen.

Zum Nachlesen – mein Reeperbahn Festival 2018
Klaus Voormann: Vernissage zum Reeperbahn Festival
Tag 1 – positiver Schockzustand
Tag 2 – preisverdächtig
Tag 3 – Nachdenken über Musikjournalismus

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Reeperbahn Festival, Tag 3 – Nachdenken über Musikjournalismus

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Den dritten Tag beim Reeperbahn Festival starte ich am Nachmittag mit zwei Panels zum Thema Musikjournalismus. Eine Diskussionsrunde beschäftigt sich mit der hiesigen Popmedienlandschaft, die andere mit der internationalen.

Ich finde es großartig, dass der Konferenzteil des Reeperbahn Festivals auf vielen verschiedenen Ebenen die Möglichkeit bietet, sich auszutauschen und zu reflektieren. Zum Beispiel über Pop und Politik oder über Geschlechtergerechtigkeit im Musikbusiness. Mich hat das Thema Musikjournalismus an diesem dritten Festivaltag – gedanklich und ganz real – nicht mehr losgelassen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogpost darauf fokussieren, bevor ich dann aufbreche zum großen Finale am vierten und letzten Tag beim Reeperbahn Festival 2018.

Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“, plädiert für Optimismus

Beide Panels – das deutschsprachige wie das internationale – werden moderiert von Johnny Häusler, seines Zeichens Musiker, Journalist und Veranstalter der Web-Konferenz re:publica. Solche Persönlichkeiten live zu erleben, finde ich an und für sich schon immer äußerst spannend.

In beiden Runden skizzieren die Diskutanten kurz die radikalen Einbrüche im Popprintjournalismus. Die „Intro“ in Deutschland, der „New Musical Express“ in Großbritannien und „The Village Voice“ in New York sind nur einige Beispiele für eingestellte gedruckte Musik- und Kulturmagazine. Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“ von 2014 bis 2018, erzählt, dass die kostenlos ausgegebene Zeitschrift über Anzeigen nicht mehr zu finanzieren war. Statt jedoch in ein großes Lamento zu verfallen, plädiert er für Optimismus in unserer Zunft. Da bin ich ganz bei ihm.

Innovative Formate, um mit Menschen in Kontakt zu treten

Daniels Blick nach vorne richtet sich auf innovative Formate, die sich erst noch ausprobieren, aber deutlich wachsen. Zum Beispiel auf den Podcast „Machiavelli“ der WDR-Plattform Cosmo, der Rap und Politik verhandelt. Oder auf „St. Vincent’s Mixtape Delivery Service“. Fans liefern da der Künstlerin Infos zum eigenen Musikgeschmack. Und St. Vincent bastelt ihnen – auf dem Musikkanal Beats 1 von Apple – individuell zugeschnittene Playlisten.

Ich mag den Ansatz, die technischen Neuerungen nicht ständig als Überforderung und Fluch zu verstehen, sondern als Chance, auf neue Art miteinander in Kontakt zu treten. Ich muss dabei immer an meine gute Freundin Anke Mönning von Garnstories denken, die handgefärbte Wolle verkauft. Das klingt zunächst super oldschool. Aber ihre Vermarktung hat sie komplett über Instagram entwickelt. Und mittlerweile verkauft sie ihre knallig-bunten Produkte bis nach Australien.

Lust auf Information und Inspiration statt „boring as fuck“

Auch Mary Anne Hobbs von der BBC sieht Social Media als Werkzeug, ihr Programm zu (neuen) Hörern zu bringen. Zu Herzen gehen mir ihre Ausführungen, wie sie als Teenager mit den Füßen scharrend am Kiosk auf den „New Musical Express“ gewartet hat. Noch auf der Straße habe sie die Zeitschrift nach ihren Lieblingsmusikern und -autoren durchsucht. Nachts habe sie dann das Heft von der ersten bis zur letzten Seite unter der Bettdecke mit Hilfe einer Taschenlampe durchgelesen.

Dieser Enthusiasmus berührt mich nachhaltig. Denn ich bin zutiefst der Überzeugung, dass diese ultimative Lust auf gut geschriebene Texte, auf spannende Geschichten, auf Information und Inspiration nicht einfach versiegt ist mit Abnahme der popkulturellen Printprodukte. Und wenn ein Gast im Publikum anmerkt, Reviews zu lesen sei „boring as fuck“ in Zeiten permanenter Musikverfügbarkeit, dann müssen sich die Medienmacher eben fragen: Wie mache ich mein Storytelling (wieder) spannend?

Salwa Houmsi: kritische Zwischentöne auf Social-Media-Kanälen

Absolut beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang die jüngste Teilnehmerin der Diskussion, Salwa Houmsi. Die 22-Jährige zählt zu den Gewinnerinnen des International Music Journalism Award, der auf dem Reeperbahn Festival vergeben wird. Sie moderiert unter anderem für Radio Fritz in Berlin mit Spezialisierung auf Deutschrap und legt unter dem DJ-Namen Salwa Benz Hiphop und Artverwandtes auf.

Mit mehr als 16.000 Followern auf Instagram ist Salwa definitiv eine Influencerin, auch wenn der Begriff auf dem Panel kontrovers diskutiert wird. Ihren Einfluss und ihre Rolle hinterfragt Salwa klug und unverkrampft. Zum Beispiel wünscht sie sich, in den schnelllebigen sozialen Medien, in denen viel polarisierend über das Prinzip „hop oder top“ funktioniert, mehr kritische Zwischentöne einbringen zu können.

Große Strategien und Masterpläne werden auf den beiden Panels in der Kürze der Zeit nicht entworfen. Und die Branche wird definitiv noch lange im Umbruch sein. Ich bin wirklich gespannt, welche Wege sich noch öffnen werden, um über Musik zu berichten und diese den Menschen näher zu bringen.

Live-Radio-Show auf dem Reeperbahn Festival

Eine sehr zeitgemäße Methode ist es, analog zum boomenden Live-Geschäft, direkt mitten hinein ins Leben zu gehen mit journalistischen Formaten. Dass diese Rechnung aufgeht, zeigt sich später an diesem Freitag bei „NDR Blue Backstage“. Vor der Alten Liebe Bar direkt am Spielbudenplatz auf St. Pauli hat sich eine Schlange gebildet, um: Radio zu hören. Wobei „hören“ nicht das ausreichende Wort ist. Vielmehr geht es um das Erleben mit allen Sinnen.

NDR Blue Backstage, NDR, Radio, Live, Show, Club, Pop, Festival, Alte Liebe Bar, Hamburg, hosts, Jan Möller, Siri Keil, Reeperbahn Festival, LIFE, Band Die beiden NDR-Moderatoren Siri Keil und Jan Möller empfangen beim Reeperbahn Festival live on air Gäste. Festivalchef Alexander Schulz zum Beispiel erzählt von den Auswirkungen des Sturms auf das Programm an diesem Freitag. Zudem spielen Künstler live im hübsch dekorierten Schaufenster der Bar, etwa die britische Indierockband Life. Siri unterhält sich mit Sänger Mez über die Wut in seinen Lyrics. Und über seine soziale Arbeit mit Jugendlichen.

Die Atmosphäre im Raum ist locker, lebendige Geräusche wie Applaus sind ausdrücklich erwünscht. Schließlich sollen die Hörer, die nicht physisch anwesend sind, sondern an den Empfangsgeräten, ein Gefühl für die Veranstaltung bekommen. Vor Ort wiederum genieße ich sehr, wie sich die Konzentration einer Live-Aufzeichnung auf mich als Besucherin überträgt. Ich bin ganz da und wach und kann mich voll auf Gespräche und Musik fokussieren.

Ich werde ganz gewiss weiter über das Thema Musikjournalismus nachdenken. Und nach diesem Tag auf dem Reeperbahn Festival bin ich mir umso sicherer, dass der Popjournalismus der Zukunft neben Know-how und Handwerk vor allem Charakter, Haltung und Offenheit benötigt. Er braucht neben Information eben auch Identität und Inspiration, zudem Austausch und Komplizenschaft. Ich bleibe optimistisch.

Hier lässt sich nachlesen, wie mein Tag 1 und Tag 2 auf dem Reeperbahn Festival verliefen.

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Nørden Festival: Ausflug in das Bullerbü des Pop

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Gerade als ich dachte, der Gründungsboom bei Festivals würde ein wenig ausklingen, poppte das Nørden Festival in Schleswig an der Schlei auf der Open-Air-Landkarte auf. Das schlicht und schön gestaltete Programmheft versprach ein ambitioniertes Programm aus Musik von Indierock über Soul bis Deutschpop, zudem Artistik und Freiluftaktivitäten wie Bogenschießen, Stand-Up-Paddeling und Sauna. Und das direkt an drei Wochenenden von Ende August bis Mitte September, jeweils von Donnerstag bis Sonntag. Kein ganz kleines Projekt also.

Nørden Festival, Schleswig, Open Air, Festival, Pop, Rock, Design, Hygge Ich bewundere derart kreativen wie unternehmerischen Mut. Und ich liebe es, mir neue Festival-Gelände anzuschauen. Mich interessiert, welche Ideen zutage treten und wie die Macher es schaffen, eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Also fahre ich am Freitag mit einer Freundin von Hamburg hoch nach Schleswig-Holstein, um das rden Festival zu erkunden.

Unser erster Eindruck: Wir fühlen uns sofort sehr wohl. Das liegt vor allem an den vielen dunkelrot angestrichenen Holzhütten, die wie hingewürfelt auf der grünen Wiese stehen. Die Häuschen beheimaten Bars und kulinarisches Angebot, den Merchandise-Stand sowie kleine Design- und Mode-Shops. Und auch die Licht- und Tonpulte der Hauptbühne sind in einem der Hütten untergebracht. Wimpel- und Lichterketten, die kreuz und quer über dem Gelände hängen, unterstreichen den malerischen Effekt zusätzlich.

Das Nørden Festival macht spürbar, wie nah wir an Skandinavien leben

Heutzutage wird diese Art von nordischer Heimeligkeit gerne auch bei uns mit dem dänischen Wort Hygge bezeichnet. Für mich ist das allerdings schlichtweg der Bullerbü-Effekt. Ich denke sofort an die Geschichten von Astrid Lindgren, in denen die Kinder sehr selbstbestimmt in der Natur auf Entdeckungsreise gehen. Und dass das rden Festival direkt am Stadtstrand von Schleswig an der Schlei gelegen ist, potenziert den Eindruck von verwunschener Idylle noch einmal.

Das rden Festival macht für mich sehr gut spürbar, wie nah wir in Norddeutschland an Skandinavien leben. Und dass zudem eine starke Verbindung zu den baltischen Ländern existiert. Das schlägt sich an diesem Freitag sehr schön im künstlerischen Programm nieder.

Nørden Festival, Schleswig, Open Air, Festival, Pop, Rock, Design, Hygge, Gløde, Band, musician, Schlei, waterDen Auftakt macht der Musiker Gløde, ein grundsympathischer Typ, der eigentlich mit Band auftritt, an diesem frühen Abend aber solo unterwegs ist. Seine warmherzigen Singer-Songwriter-Lieder singt er – wahlweise zu akustischer Gitarre oder Piano – auf Deutsch oder Dänisch. Ein perfekter Soundtrack, um den Blick von der Bühne über das schilfbewachsene Ufer der Schlei wandern zu lassen und den wilden Formationsflügen der Stare zuzuschauen. Ein ruhiges Gefühl von Freiheit.

„Jetzt ist die Zeit, den Sommer gehen zu lassen, und sich zu freuen, dass er nächstes Jahr wiederkommt“, sagt Gløde ganz freundlich und zuversichtlich.

Carnival Youth singen zum Teil auf Lettisch

Der Herbst zieht äußerst frisch über die Schlei heran. Zehen und Nase werden kalt. Wir trinken daher den ersten Glühwein des Jahres und lauschen, bei einer Hütte direkt am Wasser, dem herzerweiternden mehrstimmigen Gesang von The Notes. Das Trio aus Estland singt Teile seines Repertoires in seiner Landessprache. Mit gefällt das sehr, diesen unvertrauten Klängen zuzuhören. Eine schöne Reise im Kopf lässt sich so beginnen.

Nørden Festival, Schleswig, Open Air, Festival, Pop, Rock, Design, Hygge, Carnival Youth, Band Und fortgeführt wird dieser Ausflug in sprachliche Gefilde mit dem Konzert von Carnival Youth aus Riga, die ebenfalls nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Lettisch singen. Eine tolle Kombination ist das zusammen mit dem rhythmusverliebten Indiepop des Quartetts. Harmonien, Tempiwechsel und viele feine musikalische Details ergeben einen hymnischen und mitreißenden Sound. Schon lange habe ich keine Band mehr erlebt, die derartig dauerhaft strahlt bei einem Auftritt. Das macht unglaublich Spaß. Und lädt dazu ein, sich in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit warm zu tanzen, um später dann angefüllt und glücklich durch die Nacht zurück nach Hamburg zu fahren.

Das Konzept des Nørden Festivals muss erst noch ankommen

Wieder zuhause, wo die Häuser höher und weniger hölzern sind, lese ich beim Schleswig-Holsteiner Zeitungsverlag ein Interview mit Manfred Pakusius, dem aus Hamburg stammenden Veranstalter des Nørden Festivals. Darin erfahre ich, dass es bei dieser Premiere rund 2000 Dauergäste gab, aber die Resonanz in der Region noch verhalten ausgefallen sei. Einer der Hauptgründe: Das komplexe Konzept müsse erst nach und nach bei den Leuten ankommen.

Nørden Festival, Schleswig, Open Air, Festival, Pop, Rock, Design, Hygge, letters, typographyIch muss gestehen, dass ich mich bei meinem Besuch sehr stark auf die Musik fokussiert habe und die übrigen Angebote wie etwa die Feuer-Akrobatik weniger beachtet habe. Ich mag jedoch den Gedanken, dass jeder Gast seine Vorlieben herauspicken kann. So entsteht eine entspannte Mischung aus Stadtfest und Popfestival, das nicht zu uncool ist für die Jugend und nicht zu wüst für die Älteren. Oder umgekehrt.

Das rden Festival, das mit städtischen, regionalen und europäischen Mitteln gefördert wird, hat mit der Stadt Schleswig einen Fünf-Jahres-Vertrag abgeschlossen. Ich bin gespannt, wie sich dieses anspruchsvolle Projekt entwickelt. Und ich plane fest, im kommenden Jahr wieder hinzufahren – ins Bullerbü-Open-Air-Land im Norden.

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Festival „Müssen alle mit“: Arme und Energie, Nerven und Notwist

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Bei mir ist gerade große Ausprobierphase angesagt. Am Samstag habe ich beim Festival „Müssen alle mit“ in Stade, kurz MAMF, am Einlass bei der Bändchenausgabe gearbeitet. Ich finde es hochgradig spannend, welches logistische Drumherum nötig ist, um einen Tag lang ein solches Pop-Open-Air über die Bühne zu bringen. Eine feine Meisterleistung an Koordination und Teamwork, Professionalität und Improvisation, Geduld und Leidenschaft.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, Die Nerven, Band Unterschiedliche Gewerke kommen zusammen – etwa die Thekencrew vom Knust aus dem Karoviertel, das Künstlercatering von der Wilhelmsburger Kaffeeklappe sowie der Backline-Service vom Instrumentenhandel Rückkopplung auf St. Pauli. Für mich gehört das alles zur Popkultur dazu. Von der Security, die die Taschen kontrolliert, über den stets am Walkie-Talkie hängenden Veranstalter bis hin zum Musiker, der letztendlich im Rampenlicht steht. Und wir am Einlass dürfen die rund 2000 Besucher des „Müssen alle mit“ willkommen heißen. Eine Aufgabe, die Spaß macht. Und die in variierenden Wiederholungsschlaufen abläuft.

„Müssen alle mit“: Check-in in der Halfpipe

Immer und immer wieder: Anschauen und anlächeln, „bitte zu mir“ und „herzlich willkommen“, Ticket checken und einreißen, Bändchen nehmen und um den Arm legen, zur Zange greifen und die Metallöse am Bändchen zudrücken, Programmheft anreichen und viel Spaß wünschen. Minütlich grüßt das Murmeltier. Kontakt um Kontakt um Kontakt. Die Gäste ziehen weiter aufs Gelände. Songs von Zimt, Swutscher, Goldroger und Rocko Schamoni wehen zu unserem Stand herüber, der in eine Halfpipe des örtlichen Skaterparks hineingebaut wurde. Keep on rolling.

Mit jeder S-Bahn aus Hamburg erhöht sich der Rhythmus. Neue Gesichter. Neues Lächeln. Neue Arme. Arme mit Festivalbändchensammlung. Arme mit Schmuck. Ab und an sogar Arme mit Uhren. Weiße und schwarze, braune und rote. Dünne und dicke, junge und alte. Glatte und raue, bunte und beschriftete. Diese Arme gehören entspannten Menschen. Leute, die auf der Wiese sitzen und Musik hören möchten. Die vor der Bühne stehen und ausrasten wollen. All diese unterschiedlichen Arme führen an diesem Tag nichts Böses im Schilde. Es sind keine Arschlocharme. Es sind Arme, die zusammenkommen. Die sich nur ab und an in den Himmel strecken, wenn ein Song von der Bühne gerade besonders berührend ist. Das ist gut.

Angenehm verstört bis amüsiert bei Die Nerven

Um kurz nach 17 Uhr habe ich Feierabend, was mir zum Glück Zeit lässt, einige Bands des „Müssen alle mit“ anzuschauen. Am meisten freue ich mich auf Die Nerven aus Stuttgart, die ich noch nie live gesehen habe, und auf The Notwist aus Weilheim, bei denen es lange her ist.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air Bei den Nerven fällt mir als erstes auf, dass die drei Musiker auf der breiten Bühne sehr nah beieinander stehen. Das gefällt mir, hat es doch etwas sehr Vertrautes, Verbundenes. Kompakte Energie. Dringlicher Krach. Weltschmerzende Wut. Nervöse Takte. Akzentuiertes Atmen. Irritierender Hall. Ich bin sofort drin und aufgesogen und angenehm verstört bis amüsiert von diesem Rock und Punk und Nichts und Allem.

Drummer Kevin Kuhn ist wunderbar drüber mit seinem MAD-Shirt an irrem Blick. Bassist Julian Knoth schaut freundlich in die Menge. Und Sänger Max Rieger ist ganz selbstverständlich da mit seinen rätselhaften Texten. „Finde niemals zu dir selbst.“ Diesen Satz wiederholt er in Schlaufe. Und wie er diese Worte singt, klingen sie desillusioniert und hoffnungsvoll zugleich. Das ist sehr schön. Das rotiert in mir.

"Müssen alle mit", MAMF, Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, The Notwist, Band Bei The Notwist legt sich langsam das Dunkel über den Park in Stade, so dass weiße und bunte Lichtkegel die Band und ihren Sound atmosphärisch einkleiden können. Sechs Musiker wirken an Gitarre, Bass und Schlagzeug, an Vibrafon und Percussion, an Synthesizern und elektronischen Effektgeräten. Sechs Arme eines Organismus, der alle Körper vor der Bühne nach und nach absorbiert mit seinem Klang. Halb Mensch, halb Maschine. Ein Geschöpf, dass die Störgeräusche unserer Zeit in Musik fließen lässt. Es knistert und brutzelt, drängt und driftet, wächst an zur Überwältigung, zieht sich zurück, packt einen von hinten. Einfallsreich und freidrehend, merkwürdig und einnehmend.

The Notwist: Etwas öffnet sich sperrangelweit

The Notwist verstehen es seit jeher, so etwas wie einen Rave für Melancholiker zu entfesseln. Und wenn dann bei einem Song wie „Pick Up The Phone“ der sanfte Gesang von Markus Acher einsetzt, dann öffnet sich etwas sperrangelweit. Etwas in mir fällt ab und wird leichter. Und ich bin erneut dankbar, dass Musik so etwas kann. Und noch viel mehr.

"Müssen alle mit", Festival, Stade, Pop in Hamburg, Pop, Musik, Open Air, Kettcar, Band Zwischen Die Nerven und The Notwist spielt Kettcar als Ersatz für die erkrankt ausfallenden Turbostaat. Eine Hamburger Bank. Zigfach erlebt. Rock und Rückgrat. „Das Humanitäre ist nicht verhandelbar“, sagt Sänger und Gitarrist Markus Wiebusch zum Kettcar-Song „Sommer ’89“, der von Fluchthilfe erzählt. Von Courage. Starker Applaus. „Müssen alle mit“.

Den Hauptact Zweiraumwohnung schwänze ich und fahre müde mit der S-Bahn nachhause. Es ist gleich 23 Uhr. MAMF-Rückreisende mischen sich mit jenen, die es vom Stadtrand aus zum Feiern auf den Kiez zieht. Träge Arme treffen auf Alarm und Adrenalin. Und die Stadt schreibt sich stetig fort.

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„Reeperbahn Festival“ 2018: Biggy Pops tierische Top Ten

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Jetzt kommt die Zeit, in der die Tiere wieder hinein wollen. Heute früh bin ich bereits von einer kompakten Spinne, einem langbeinigen Exemplar sowie diversen Marienkäfern begrüßt worden. Partytime!

Es wird kälter. Die Tiere sind unruhig. Sie dürfen wieder in die Clubs, ohne dass dieser Einkehrtrieb vom Rausgehzwang unterdrückt wird. Dach und Druck statt Himmel und Heiterkeit.

Passend zu diesem aufkommenden Indoor-Feeling hat die große Hamburger Club-Sause, dasReeperbahn Festival“, nun seinen Timetable für die tollen Tage vom 19. bis 22. September veröffentlicht. Und weil ich heute ohnehin schon über Tiere nachdachte und da ich ja nun irgendwie mal anfangen möchte mit dem Durchhören der vielen angekündigten Festival-Acts, ziehe ich einfach die nun folgende Kategorie an den Haaren beziehungsweise am Fell herbei.

Hier ist sie also:
Biggy Pops Top Ten der tierischen Teilnehmer des „Reeperbahn Festivals“.

Jaguwar: Mi 29.9., 23.20 Uhr, Nochtspeicher

Das Raubtier mit der arty Schreibweise. Ich habe diese Berliner Band Anfang des Jahres bereits in meiner Radiosendung Das Draht auf Byte FM gespielt. Damals war soeben ihr Debütalbum „Ringthing“ beim Hamburger Label Tapete Records erschienen. Ich mag den hall-verliebten, halb ausgetüfftelten, halb hingebretterten Sound des Trios. Der Gesang von Oyèmi Noize lässt mich kurz an Juliana Hatfield denken. Ein Tier, in dessen Adern Wave und Noise und Rock und Pop pulsiert. Und das sich beim Gitarrenspiel gerne auf die Pfoten guckt. Das klingt dunkel und zugleich von der Sonne geküsst.

Goat Girl: Mi 19.9., 0 Uhr, Häkken & Do 20.9., 21.30 Uhr, Knust

Yeah, yeah, yeah! Vier Ladies aus London, die sich dem bockigen Ziegentum im allerbesten Sinne verschrieben haben: Die Hufe gewetzt und das Fell struppig spielt Goat Girl einen coolen, lasziven und angenehm spröden Mix aus Indierock, Sixtiesbeat, Jingle-Jangle-Pop und Postpunk. Als Roller-Derby-Fangirl liebe ich Kampfnamen. Und mit Clottie Cream, Rosy Bones, Naima Jelly and L.E.D. sind bei dieser Band vier Premium-Pseudonyme am Start. Besonders amüsant finde ich das Video zu „The Man“, in dem Goat Girl die Beatles-Hysterie geschlechterumgedreht nachspielen: Auf der Bühne rocken die Ziegen, flennend am Zaun davor hängen die Typen. Mäh, mäh! Ich bin gespannt, wie das beim „Reeperbahn Festival“ so zugehen wird.

DeWolff: Do 20.9., 17 Uhr, Molotow Backyard & Fr 21.9., 22.30 Uhr, Knust

Aahuuuu! Meister Isegrim heult gerne laut. Doch als ich DeWolff das erste Mal 2017 beim Festival „Sommer in Altona“ im Zirkuszelt sah, spielte die Band aus den Niederlanden wegen Lärmschutzauflagen das wohl leiseste Konzert ihrer Geschichte. Ich freue mich daher schon sehr darauf, das Trio mit ihrem psychedelischen Südstaatenrock im wortwörtlichen Sinne aufgedreht zu erleben. Ich verspreche mir nicht weniger davon als ein Biest, das gerne im Dreck wühlt und sich im Sound verbeißt.

Lion: Do, 20.9., 21 Uhr, St. Pauli Kirche

Mitunter sind Klischees ja auch was Feines. Wer sich im Popkontext eine Person mit dem Künstlernamen Lion vorstellt, könnte flugs bei Beth Lowen landen – blondbraune Mähne, lauernder Blick und kraftvoller Auftritt. Das Wichtigste jedoch: Diese Löwin besitzt eine Stimme, die nicht sanft schnurrt, sondern wild und rau aus den tiefsten Tiefen emporsteigt. Die Australierin, die es nach England verschlagen hat, ist eine unberechenbare Musikerin, die sich mal scheinbar dösend dem Singer-Songwriter-Sound hingibt, um dann blitzschnell mit der Pranke des Rock ’n‘ Roll zuzuschlagen. Wer sich auf Safari in die St. Pauli Kirche wagt, dürfte dort also eher Aufschrei als Andacht finden.

The Dogs: Do 20.9., 23 Uhr, Karatekeller im Molotow

Und wo wir schon bei Stereotypen sind: Bei einer Band, die The Dogs heißt, stelle ich mir ein paar räudige Typen mit dicken Koteletten und verschwitzten T-Shirts vor, die sich irgendwo zwischen Britpop und Punk bewegen, viel Bier trinken und noch mehr davon verschütten. Nun ja, knapp vorbei ist auch daneben. Die norwegischen Hunde, von denen an dieser Stelle die Rede sein soll, sind äußerst adrette Erscheinungen mit schwarzen Hemden und schnieke zurückgekämmten Haaren. Wenn ich mir ihre Songs zwischen Garagen- und Punkrock so anhöre, beschleicht mich allerdings der Verdacht, dass es live durchaus wüst zugehen könnte bei diesem Rudel. Die Frage ist nur: Sechs kläffende Köter im Karatekeller des Molotow – wo soll da noch das Publikum hin?

Walrus: Fr 21.9., 14 Uhr, Kukuun

Wenn sich Walrösser an Land hieven, machen sie einen recht schwerfälligen Eindruck. Im Wasser hingegen gleiten sie elegant dahin, sie überraschen mit entspannten Drehungen und Wendungen. Ganz so verhält es sich mit der Rockband namens Walrus. Schlurfige Typen, deren Songs so psychedelisch dahin driften und mit Wucht um die Kurve kommen, als schwämme das Robbentier durch ein Korallenriff. Alles so schön bunt hier. Und so angenehm verschwommen. Diese wunderbaren Weirdo-Walrosse stammen übrigens aus Halifax und spielen im Kukuun, dem Haus der Kanadier, die beim „Reeperbahn Festival“ traditionell einen großen Aufschlag hinlegen. Da dürfte gewiss einiges an Stimmung überschwappen. Und jetzt alle: „I Am The Walrus“!

Cat Clyde: Fr 21.9., 20.50 Uhr, Schulmuseum

Diese Katze hat den Blues. Und Soul. Und sie besitzt den weiten traurigen Blick, der tief ins Herz des Country hineinzuschauen versteht. In dem Poesiealbum namens Facebook gibt sie an, dass sie alte Westernfilme liebt. Und wir malen uns aus, wie sie dunkel schnurrend diese düsteren Geschichten anschaut, um sie in ihrer Seele abzulagern und später in ihre eigenen schönen Storys zu verwandeln. Dann spielt sie auf ihrer Gitarre Melodien von betörender Schlichtheit, während ihre Stimme zeitlos und facettenreich ertönt. Ein Gesang, der sich in unserer Inneres schleicht, um dort – ganz Katze – zu machen, was er will.

Milkywhale: Sa 22.9., 19.30 Uhr, Häkken

Menschen sollten viel mehr alleine in ihren Wohnungen und Häusern umher tanzen. Unbeobachtet. Albern. Ausgelassen. Sehr schön demonstriert das die junge Isländerin namens Melkorka Sigríður Magnúsdóttir in ihrem Video zu „Birds Of Paradise“, wo sie zu einem feinen, sich euphorisch steigernden Electro-Pop auf Socken durch die Räume tobt. An ihrer Seite jedoch kein milchiger Wal, wie der Name ihres Duos vermuten ließe, sondern ein träge dreinschauender Windhund. Wieso nicht? Je mehr Tiere, desto besser. Die betörenden wie beschwingten Sounds stammen von ihrem Kompagnon Árni Rúnar Hlöðversson, seines Zeichens zudem Mitglied der Band FM Belfast. Spätestens seit dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ wissen wir ja, dass sich eine Rakete in einen Wal verwandeln kann. Vielleicht wird es bei diesem Konzert umgekehrt der Fall sein.

Mammal Hands: Sa 22.9., 23.10 Uhr, Resonanzraum

Mammal Hands – Säugetierhände. Willkommen in der Oberkategorie des Tierlichen. Und was fabrizieren sie, die Hände? Jazz. Schwelgerische, atmende, organische, sich in Schlaufen wiederholende und stets leicht variierende, sachte wachsende Musik. Quasi Evolution zum Zuhören. Saxofon, Schlagzeug und Piano sowie Keyboard bilden ein dreiköpfiges wunderschönes Übertier, das beim „Reeperbahn Festival“ im Resonanzraum des Feldstraßenbunkers in seinem entsprechenden Habitat zu betrachten ist.

Black Foxxes: Sa 22.9., 23.15 Uhr, Kaiserkeller

Sind Füchse, die sich mit zwei x schreiben, doppelt so schlau und gerissen wie andere? Mag sein. Vielleicht sind sie auch einfach nur wütender und melancholischer. Das britische Trio Black Foxxes nennt seinen Sound selbst Romantic Gloom. Und da erinnern wir uns doch flugs an all die Fabeln, die den Fuchs an und für sich umgarnen. Und an die Nachrichten, die Reineke immer häufiger bei den großen Städten sehen. Wird da das Tier menschlicher oder der Mensch tierischer? Die Black Foxxes jedenfalls sprechen und schreien mit ihrem brachialen Indierock unsere innersten Instinkte an. Fuchs, du hast den Grunge gestohlen. Gut so.

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Acht Stunden Inspiration: „Burger Invasion“ im Molotow

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Ich liebe das Molotow. Vor allem, wenn in dem Club auf St. Pauli ein Festival stattfindet. Wenn also auf allen drei Stockwerken Bands spielen und DJs auflegen. Ich fühle mich dann immer wie in einem Pop-Zauberwürfel. Ständig wechseln die Ebenen, die Farben, der Sound. Kästchen für Kästchen, Raum für Raum, Bühne für Bühne gilt es zu erkunden. Und bei jeder Bewegung ergeben sich neue Kombinationen, andere Muster, ungewohnte Einblicke. Sehr schön ist das. Eine Art aufregende Geborgenheit.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Merchandise, Flyer, Records, Tapes An diesem Samstag öffnet das Molotow seine Türe für die „Burger Invasion“. Zwar gibt es im Hinterhof tatsächlich Bulettenbrötchen vom Team des nahe gelegenen Lokals Grilly Idol. Doch der Name stammt eigentlich von der 2007 gegründeten kalifornischen Plattenfirma Burger Records, die für feinen Schrammel- und Schlonzrock sowie herzöffnenden Powerpop steht. Die Hamburger Veranstalter Sebastian Tim und Timotheus Wiesmann sind Fans des Labels, das seine Musik bevorzugt auf Kassetten veröffentlicht.

Sofort muss ich daran denken, wie ich in den 80er- und 90er-Jahren mit meinen TDK-Tapes an der Stereoanlage meiner Eltern sitze, um Musik von Freunden zu überspielen, Songs aus dem Radio aufzunehmen oder Mixe zu machen und um Cover zu basteln. Die ganze Sache spricht meine nostalgische Seite an und verströmt zudem ein sehr sympathisches Flair von Do-It-Yourself-Kultur.

„Burger Invasion“, Komplizenschaften weit über die Stadtgrenzen hinaus

Sebastian Tim und Timotheus Wiesmann jedenfalls haben im Austausch mit den Burger-Records-Gründern Sean Bohrman and Lee Rickard nun zum zweiten Mal ein Programm mit lokalen und internationalen Bands zusammengestellt – eben die „Burger Invasion“. Mir gefällt es sehr gut, wie da Komplizenschaften weit über die Stadtgrenzen hinaus geknüpft werden. Ein gutes Mittel, damit die Popkultur in Hamburg nicht im provinziellen Lokalpatriotismus versandet.

Bereits draußen vor dem Club am Ende der Reeperbahn kündet ein Poster von der großen Sause: Ein Burger sendet wie ein Raumschiff in einschlägigen Science-Fiction-Filmen einen Lichtstrahl auf die Erde. Ich muss sehr lachen über dieses größenwahnsinnige wie angenehm spackige Artwork. Gut gelaunt entern wir also am Nachmittag das Molotow – um den Laden acht Stunden später wieder zu verlassen. Ein Clubbesuch als Tagwerk. Eine Schicht lang Shows und Schnacken, Menschen und Magie, Treppen auf und ab, an die Bar, aufs Klo, in den Hinterhof, Luft schnappen, Leute treffen, Gucken und Lächeln, Hören und Driften, Spüren und Tanzen.

Lichtscheues Gesindel wollen wir sein

Wir gleiten sanft hinein in die Invasion mit My Friend Peter aus Graz, die in der Skybar im zweiten Stock einen entschleunigt groovenden Pop mit hübsch verpeilter Aura spielen. Die Sonne scheint prall durch die Fenster. Unten zieht der Kiez grell vorbei.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Band, Juniore, France, Sixties, Rock Bei den Franzosen von Juniore im Erdgeschoss-Saal zieht dann doch jemand die Vorhänge zu. Passt auch besser zu dem sixties-inspirierten Psychedelic-Rock des Trios. Lichtscheues Gesindel wollen wir sein. Und die Band hat ohnehin ihre eigene Sonne mitgebracht. Der Keyboarder und Gitarrist trägt eine goldene Maske, die ins nachmittägliche Dunkel hinein funkelt. Die Kasseler Combo Catch As Catch Can wiederum macht im Karatekeller ohnehin vergessen, dass draußen noch Tag ist. Garagenrock in der räudigsten Ecke des Pop-Zauberwürfels. Angekommen im Ausgehmodus.

Feinripp-Remmidemmi mit Blondie-Charme

Immer weiter lassen wir uns verwirren und durchströmen von der Vielfalt, dem Krach, dem Schillernden der Musik. Toller eruptiver Gesang von der Formation Erregung Öffentlicher Erregung aus Hamburg und Berlin. Roher Rock ’n‘ Roll-Schub an nackter Haut von der Rotterdamer Band Iguana Death Cult. Und linkische Lieblichkeit mit den hyperharmonischen Popmelodien der New Yorker Cut Worms. Zudem eine einnehmende Wolke aus Hall von den Texanern Holy Wave. Hochtouriger Punkrock mit gutem Schreifaktor von Häxxan aus Tel Aviv. Und Feinripp-Remmidemmi mit Blondie-Charme der Abriss-Rock ’n‘ Roller Amyl And The Sniffers aus Australien.

Burger Invasion, Burger Records, Label, Festival, Molotow, Club, St. Pauli, Hamburg, Band, Garagerock, Rick McPhail, Frehn Hawel Eine spannende Entdeckung, die der Pop-Zauberwürfel Molotow für mich bei der „Burger Invasion“ hervorbringt: Tocotronic-Gitarrist Rick McPhail kann vorzüglich Schlagzeug spielen und präsentiert gemeinsam mit Hamburgs Frehn Hawel einen famos krachenden wie akzentuiert wütenden Garagenrock im Karatekeller. Hawels Tipp: „Nie das Handtuch vergessen bei einem Auftritt in dieser Schwitzbude!“

Fenster, eine sanft Grenzen sprengende Band

Restlos begeistert mich das Konzert von Fenster in der Skybar, eine sanft Grenzen sprengende Band aus Deutschland, den USA, Frankreich und England. Ich finde es unfassbar interessant, diesem Quartett zuzuhören, wie sie da eine Popmusik produzieren, die schwelgerisch betört und sphärisch entführt, die Tempi wechselt und Pausen lässt, in denen die eigenen Assoziationen atmen können. Das Fenster weit offen. Humorvoll, einfallsreich, wunderschön. Hinter mir stehen einige Typen, die in regelmäßigen Abständen fasziniert ein einziges Wort wiederholen: „geil“. Stimmt.

Hinzu kommt: Sängerin JJ Weihl lebt in New York. Und wenn ich mir die so heiß geliebte Stadt als Mensch vorstellen sollte, käme vermutlich solch eine eigensinnige und hoch charismatische Person dabei heraus. Wie sie dasteht mit ihrem weiß-rosa gestreiften Kleid und ihren weißen Boots und dem halb blonden Haar. Plus ihr facettenreicher Gesang – geil.

„Labskaus, Diggi!“

Aus diesem Himmel geht es dann noch einmal hinab in den Keller, zum amüsanten wie durchpustenden Abschluss dieser irrlichternden Invasion. Das Duo Swearing At Motorists aus Dayton, Ohio / Hamburg ist ein Gitarre-Schlagzeug-Inferno, das nicht nur mit wilden Songs über Pizza und Liebe besticht, sondern auch durch komödiantisches Potential. „Labskaus, Diggi!“ Diesen freudigen Ausruf von Sänger Dave Doughman möchte ich mir auf ein T-Shirt drucken lassen. Auf seiner Brust wiederum prangt ein alt vertrauter Spruch: „Ich bin neu in der Hamburger Schule“. Genau. Und es gibt Bier als Pausenbrot. Bei dieser Tages- und Nachtschicht „Burger Invasion“ im Molotow. Satt und glücklich radeln wir nach Hause.

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„Sommer in Altona“: Country in der City

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Ich bin immer wieder schwer beeindruckt von Menschen, die in einer Wiese nicht bloß eine Wiese sehen, sondern einen Ort, an dem Leute zusammenkommen, Musik hören, sich begegnen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Eine Wiese darf auch gerne eine Wiese bleiben und nicht jeder Platz in der Stadt muss stets einen Zweck, eine Funktion, einen Nutzen haben. Aber im Fall von „Sommer in Altona“ gefällt mir die temporäre Bespielung des Parks am Nobistor äußerst gut.

Einen Monat lang zeigt uns die Hamburger Platten-, PR- und Bookingfirma Popup Records mit ihrer (von der Stadt unterstützten) Konzertreihe, was im öffentlichen Raum möglich ist zwischen den Polen „kommerzielles Großevent“ und „Umsonst-und-Draußen“. Ein hoch sympathisches Pop-Festival direkt vor der Haustüre nämlich, für das niemand Easy-Jet-Open-Air-Hopping quer durch Europa betreiben muss. Und das auf Kooperationen in verschiedene Richtungen setzt.

PR Newman spielt Songs von dringlicher Beiläufigkeit

An diesem Abend präsentiert das Hamburger Label Devil Duck Records vier Bands aus seinem wachsenden Portfolio. Zwei Künstler spielen bei freiem Eintritt im lauschigen Biergarten, zwei Bands treten später im – ausverkauften – Zirkuszelt auf. Ein schöner Kompromiss.

Am Eingang werde ich aufgefordert, für die Alimaus zu spenden, die nahe Tagesstätte für Obdachlose. Denn der „Sommer in Altona“ möchte kein in der Nachbarschaft gelandetes Raumschiff sein, das ohne Kontakt zur Umwelt sein Spektakel aussendet. Kommunikation ist der Schlüssel.

Wie hingewürfelt stehen Biergarnituren und Liegestühle unter alten Bäumen, flankiert von Getränkestand, Käsegrill und Dixi-Klos. Die Sonne scheint milde durch die Blätter über uns, als PR Newman Songs von dringlicher Beiläufigkeit in den Abendhimmel schickt. Ein junger schmaler Typ aus Texas mit Stimme, Gitarre, Mundharmonika und Dylan’eskem Charme. Das PR in seinem Namen steht übrigens für Punkrock. Ein hübscher Beweis dafür, dass Punk nicht zwingend etwas mit Krawall und Lautstärke zu tun haben muss, sondern womöglich vielmehr mit einer gewissen ruppigen, gewitzten bis querdenkenden Attitüde. Und mit einem Gesang, der die Zuhörer fein aufzuwühlen versteht.

Jon Kenzies Laut-Leise-Spiel sorgt für tolle Dynamik

Im Anschluss stellt Devil-Duck-Chef Jörg Tresp den Briten Jon Kenzie vor, den er beim Straßenmusizieren entdeckt hat. Zur akustischen Gitarre singt Kenzie schwelgerische Songs voller Blues, Soul, Folk. Sein Gesang besitzt einen satten warmen Klang, den er wie mit einem inneren Verstärker noch einmal hoch regeln kann, was on the road ohne Mikrofon gewiss von Vorteil ist. Beim „Sommer in Altona“ sorgt sein Laut-Leise-Spiel für eine tolle Dynamik.

Ein wenig scheinen die Lauschenden ringsherum auch den Sommer zu verabschieden. Die Wetteraussichten für die kommenden Tage ist nicht so dolle, der Herbst naht. Noch einmal ohne Jacke dasitzen. Luft auf der Haut. Alles abspeichern. Die Schwangere, die an einem Baum lehnt. Die bärtigen Bikertypen, die so freundlich gucken. Die tätowierten Beine, die aus Kniestrümpfen ragen. Die Gesichter, die die Elbstrandsonne gebräunt hat. Die Wespen, die Bierbecher entern. Die Frau mit Hut und Hund, die übers Grün flaniert. Das Paar, was einfach lächelnd dasitzt.

Drinnen im Zirkuszelt dann Energiewechsel. Mehr Feier als Abend. Mit Whiskey Shivers entern fünf Musiker die Bühne, denen die Spielfreude aus jeder Pore zu tropfen scheint. Die Texaner sind so etwas wie eine Multikulti-Redneck-Band, die einen absolut famosen Mix aus Bluegrass, Hillbilly und Countrymusik spielt. Frontmann Bobby Fitzgerald, seines Zeichens Sänger und Highspeed-Virtuose an der Fiddle, ist eine ärmellose, barfüßige Turbo-Erscheinung samt Vokuhila-Frisur, die er mit größter Selbstverständlichkeit trägt. Die Songs der Whiskey Shivers rasseln und rattern mit Hochgeschwindigkeit in die kleine Arena hinein. Dauergrinsen. Dance op de deel. Es riecht nach Schweiß und Spänen.

The Dead South besticht durch herrlich räudiges Charisma

Eine perfekte Einheizung für The Dead South, dem Hauptact des Abends, zu dem noch wesentlich mehr Leute ins Zirkuszelt strömen. Diverse Fans im Publikum tragen T-Shirts der Band oder haben sich direkt den Look der Combo angeeignet, deren männliche Mitglieder in weißen Hemden mit schwarzen Hosenträgern auftreten. Banjo-Spielerin Eliza Mary Doyle wiederum erinnert in schwarzem Kleid mit roter Blume im Haar an eine Saloon-Lady.

Die Kanadier fabrizieren einen ultra coolen, grandios dreckigen und zugleich äußerst mitreißenden Sound aus Folk, Bluesgrass und Rock ’n‘ Roll. Die Band besticht durch ihr herrlich räudiges Charisma – und die ein oder andere Tanzeinlage. Doch wie die verschiedenen Saiteninstrumente von Mandoline über Cello bis Gitarre fein ineinandergreifen, bringt die Seele noch einmal auf einem anderen Level zum Schwingen. Und die Saunatemperaturen unter der Zeltkuppel lassen den Geist zusätzlich angenehm irrlichtern. Ein musikalischer Desperado-Trip.

Wieder draußen dann: atmen, abkühlen. Und schließlich abreisen. Nach Hause. Mit dem Rad.

Im Winter werde ich an dieser Wiese vorbeifahren. Und an den Sommer denken. In Altona.

Weitere Konzerte für Countrymusiclovers gibt’s bei Yeehaw Hamburg

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Dockville Festival 2018: Dream A Little Dream With Me

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Jedes Mal, wenn ich zu einem Festival fahre, so wie am Freitag zum nunmehr zwölften Dockville in Wilhelmsburg, frage ich mich, was mir der Besuch bringen mag. Was werde ich finden? Was treibt mich an? Die Liebe zur Musik und zu den Menschen, klar. Aber was ist mein Motor für genau diesen einzigen, nicht wiederkehrenden Tag?

Die Antwort erhalte ich, nachdem ich mein Rad bei der famosen Fahrradgarderobe abgegeben habe und Richtung Festivalgelände laufe. Auf dem Rücken der Jeansjacke einer jungen Frau vor mir steht in weiß gepinselten Lettern: „Follow Your Fucking Dreams“. Okay. Danke. Eine der schönsten und zugleich schwierigsten Aufgaben, die es im Leben zu absolvieren gilt, soll also mein Motto sein.

Art, Darko Caramello, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicFestivals sind verdichtete Message-Boards. Alle sind auf Sendung. Mit Sprüchen. Mit Outfits. Mit Expression. Und ich, ich folge nun also meinen verdammten Träumen.

Meine erste Station ist der Auftritt von Aroma, die am frühen Nachmittag die Vorschot-Bühne eröffnen. „Ganz schön undankbar, um diese Uhrzeit zu spielen“, sagt ein Typ in Lederjacke mit Blick auf die wenigen Menschen auf dem Platz. Aber er soll eines Besseren belehrt werden. Denn mit ihrem driftenden Mix aus Electro und Indierock, mit euphorischen Ansagen und einer starken Energie ziehen die Hamburger zusehends mehr Leute an.

Als würde Aroma all diese Farben vertonen

Diese Popband ist die erste, die beim Dockville 2018 alles anfacht. Das Träumen und das Tanzen. Etwa bei dem Mädchen, das einen Regenbogen auf ihr rechtes Schienbein gemalt hat. Als würde Aroma all diese Farben vertonen. Das Nichtgreifbare. Das transparent Schimmernde. Und ich, ich ziehe weiter, auf der Suche nach dem Schatz, nicht am Ende des Regenbogens, sondern mittendrin.

Elmar Karla, art, Dockville, Festival, Pop, Hamburg, MusicIch stoße auf Kunst, die das Dockville stets zu so viel mehr macht als einem reinen Pop-Event. Installationen und Interventionen, Street-Art und Malerei ziehen feine zusätzliche Ebenen durch das Festival, die die Seele animieren und das Hirn durchpusten. Beste Voraussetzungen zum Träumen also. Die bewegliche Skulptur des Künstlers Elmar Karla macht, neben ihrem haptischen Spielspaß, auch nachdenklich. In drei drehbaren Blöcken lassen sich Kopf, Rumpf und Beine von so unterschiedlichen Figuren wie Dagobert Duck, einer Amazone und einem Roboter nach Herzenslust kombinieren, so dass gepuzzelte Geschöpfe entstehen. Geremixte Identitäten sozusagen.

Ein Gorilla speit Seifenblasen

Create Your Own God“ heißt das variable Werk. Und als ich mich so auf dem ehemaligen Industriegelände umgucke, denke ich, dass viele Besucher bereits sehr gut darin sind, ihre eigenen Gottheiten zu erschaffen. Sie haben sich Festival-Totems gebastelt, die sie hochhalten und anbeten und umtanzen als Symbole von Freiheit und Fun. Ein Gorilla speit Seifenblasen. Ein Lama glitzert. Ein Regenschirm lässt Gold regnen.

Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicSie alle versammeln sich zu einer Messe nach der anderen. Zum Beispiel zum Auftritt von The Cool Quest aus den Niederlanden, die mit Beats und Groove, Rap und Irrwitz für reichlich Wallung sorgen. Besonders angetan bin ich, dass die Band den lange nicht gehörten Hit „Gypsy Woman (She’s Homeless)“ von Crystal Waters covert. Mit einem housigen „La Da Di Ladida“ im Kopf ziehe ich weiter und denke an erste Diskothekenbesuche. Träumen bedeutet mitunter eben auch, sich zu erinnern. Also quasi rückwärts zu träumen und die Bilder dann ins Heute zu holen.

Träumen darf nicht zielgerichtet sein. Zum Glück ist es der Matrix des Dockville immanent, dass sich die Gäste in dem Festival verlieren. Am besten funktioniert das im verwunschenen Wäldchen jenseits der Butterland-Bühne, von der das Pulsen und Pochen des Hamburger DJ-Kollektivs Tisko herüber weht. Ein perfekter Herzschlag-Soundtrack, um sich auf verschlungenen Pfaden zwischen hochgewachsenem Grün zu verquatschen, zu vergucken, zu verbummeln. Ein Holunderwunderland mit Bühnen und Bars, die es zu entdecken gilt. Ein Dancefloor, der von einem Smiley bewacht wird. Ein Wohnwagen, aus dem Lakritz fließt. Funkelnde Menschen lassen sich in Hängematten nieder und fletzen sich in Astgabelungen. Alice im Dockvilleland.

Das Dockville bietet Raum, sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben

Ich schaue mich um und denke: The Kids Are Alright. Sie sind bunt und divers, dick und dünn, merkwürdig und schön, groß und klein, aufgekratzt und überfordert, entspannt und neugierig. Sie tragen Wolfsmütze und Lorbeerkranz, pinke Kniestrümpfe und wüst gemusterte Overalls. Klar, die meisten besitzen einen erkennbaren Willen zur Hipness, dies aber eigen und sinnig. Und das Dockville bietet allen einen Raum, um sich auszuprobieren, zu erfinden, auszuleben. Ein Traumbeschleuniger. Ein verantwortungsvoller zudem.

Auf dem Kreativmarkt sind zwischen feinen Illustrationen und „Anti-Nazi-Stickern“ auch Stände von Pro Familia sowie für einen kostenlosen Hörtest zu finden. Auf letzteren verzichte ich, da ich das Ergebnis fürchte, und lasse mich lieber kurz in den nächsten Rave hineinziehen, der vor der Nest-Bühne zum Set des Kollektivs Fischmarkt seinen Staub aufwirbelt. Ein Stampfen und Heulen. Wie ein Rudel auf der Jagd nach Nichts. Schön.

Jakobus Durstewitz, painting, harbour, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicTräumen heißt: loslassen. Nicht immer alles verstehen müssen. So wie bei der Grazer Band Granada, die mit verschwitztem Burschi-Charme auf der Grossschot-Bühne eine von Indierock befeuerte Party entfachen. Ich schnappe einzelne Versatzstücke auf, die nicht in Musik und Mundart untergehen: „Liebend gern bei Dir“, „Körperkultur“, „Scheiß Berlin“.

Mein Hirn versucht noch, sich eigene Geschichten zwischen diesen Worten auszudenken, als ich beim weiteren Stromern auf die Hütte von Jakobus Durstewitz stoße. Der Künstler malt die großformatigen Hafenlandschaften, die die Bühnen des Dockville farbenfroh flankieren. Während des Festivals arbeitet er live an (kleineren) Bildern. Und es ist eine kontemplative Freude, dem freundlichen Herren dabei zuzusehen, wie er besonnen Pinselstrich um Pinselstrich setzt. Leuchtend und melancholisch sind seine Hamburg-Panoramen, die er für 2019 in einem Kalender versammelt hat. Monat für Monat ein Stück Dockville-Bühne, zwölf Seiten Festival-Traum.

Chefboss schießt Blitze aus Gold mit Dancehall, Tanz und Abriss

Von dieser ruhigen Kraft tauche ich ein in eine wilde Performance. Und ich freue mich sehr, dass solche Kontraste auf so dichtem Raum möglich sind. Die Hamburger Formation Chefboss schießt Blitze aus Gold mit ihrer Show aus Dancehall, Tanz und Abriss.

Chefboss, Alice Martin, Maike Mohr, Dockville, Festival, Hamburg, Pop, Wilhelmsburg, Openair, musicAlice Martin rappt so unmittelbar, als läge ihr Herz direkt auf der Straße. Und Maike Mohrs Moves sind getanztes Scratchen: geschmeidig, zuckend, jeden Beat verkörpernd. Die Menge tobt, Handtücher kreisen. „Ich liebe diese Energie. Die gibt’s nur in Hamburg City“, ruft Alice Martin. Und dann feuert Chefboss ihren aktuellen Hit ab: „Hol dein Freak raus“!

Schon wieder so eine Message, ein Motto, ein Auftrag. Aber das soll an einem anderen Tag geschehen. Das Träumen ist gerade so schön. „Let Me Dream While My Heart Is Large“.

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