Reeperbahn Festival Fazit 2023: What’s next, Pop?

Was für ein Glück, direkt am ersten Abend des Reeperbahn Festivals eine tolle Entdeckung zu machen. Wenn einem direkt ein wilder wie wunderschöner Drive entgegenschlägt. Mit freundlichem Selbstbewusstsein entfesselt Uche Yara im Bahnhof Pauli mit ihrer Band einen Sound zwischen Indie-Rock, Pop und Rap. Hoch rhythmisch, mit spannenden Brüchen, um dann erneut und anders loszupreschen. Ihre Lyrics sind punchy und klug. In „www she hot“ verhandelt sie die großen und kleinen Monstrositäten, die der Planet Erde auszuhalten hat. „There’s a shitstorm in the system“, singt sie mit eindringlicher  Stimme. Ein furioser Hit, der bei mir direkt auf heavy rotation geht. Und der bisher einzige Song, den Uche Yara veröffentlicht hat. Genau dafür liebe ich das Reeperbahn Festival, das vom 20. bis 23. September nun wieder in Hamburg auf St. Pauli über die Bühnen ging. Junge Artists treffen in den Clubs und open-air geballt auf ein großes und neugieriges Publikum. 

Zu dieser 18. Ausgabe des Reeperbahn Festivals konnten 49.000 Musikfans rund 400 Bands und Musiker*innen aus mehr als 40 Ländern erleben. Ergänzt wurde das Programm durch 180 Talks, Ausstellungen und interaktive Angebote. 4000 Fachbesucher*innen arbeiteten sich zudem durch die Konferenz, also durch Panels, Networking-Events, Showcases und Award-Verleihungen. Ein irres Gewusel, das jetzt, in der ersten post-pandemischen Ausgabe, wieder das starke Gefühl hinterlässt, nie in Gänze zu bewältigen zu sein. Ein guter Lernort für Menschen mit Fomo. Kommen doch jedes Jahr neue Angebote hinzu. Dieses Jahr etwa die Digital-Konferenz re:publica. Kultursenator Carsten Brosda hält da unter anderem ein flammendes Plädoyer für die Stärkung und Neuerfindung des Journalismus in einer fragmentierten Medienrealität.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Opening emotional auf Elf

Die Opening Show am Mittwochabend und somit das gesamte Reeperbahn Festival stehen unter der Frage „What’s Next“. Also: Was müssen wir tun, um die nächste Generation für Popkultur zu begeistern? Und wie lässt sich unsere Gesellschaft im Allgemeinen und die Musikwirtschaft im Speziellen nachhaltig, divers und achtsam gestalten? Nach einem hanseatisch soliden Grußwort vom Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher dreht Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrer Rede direkt auf Elf. Und Rio Reiser zitierend ruft sie zum Handeln auf: „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wie, wenn ohne Liebe? Wer, wenn nicht wir?“ 

All die Statements von Aktivist*innen im Anschluss wirken in ihrer Aneinanderreihung auf Dauer jedoch leider etwas ermüdend. Teils wackelige Videocalls, eine leicht hämmernde Wiederholung der Keyphrasen und die Hitze im Operettenhaus sorgen für Publikumsschwund. Schade, denn die wirklich wichtigen Botschaften sollten ja unbedingt verfangen. Einen unfreiwillig emotionalen Effekt liefert da eine zu hoch abgefeuerte Luftschlangenkanone, die lange Papierstreifen in die Bühnentraverse schickt, während der Rest einige wenige Gäste unter einem dicken Blobb aus Papier begräbt. Nun ja. Das ist live. Und darum geht es ja. 

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Uche Yara im Bahnhof Pauli, fotografiert von Christian Hedel

Uche Yara als Teil des Förderprogramms „Wunderkinder“

Beim Konzert von Uche Yara ist er dann unmittelbar zu spüren, dieser Transfer zwischen Band und Fans. Die wechselseitige Freude. Das Kennenlernen, Staunen und Jubeln. Das Subversive und das Anregende. Stell die Verbindung her. Ein kollektives Miteinander auf Zeit, das stark nachwirkt. Konzerte richten die Antennen langfristig sozial aus. Die Musik schwingt noch Tage in einem weiter. Ebenso wie der Wunsch, diese Art von Gemeinschaftsgefühl wieder und wieder zu erfahren. 

Uche Yara, das sei noch erwähnt, ist eine österreichische Musikerin mit nigerianischen Wurzeln, die nun in Berlin lebt. Und die von Gitarre über Bass bis Schlagzeug zahlreiche Instrumente spielt. Vorgestellt wird sie zu Beginn des Reeperbahn Festivals beim „Wunderkinder“-Nachmittag. Ein Talent- und Exportförderprogramm des Reeperbahn Festivals, das hiesige Künstler*innen in den Austausch bringt mit internationalen Scouts von Booking bis zum Sync-Bereich. Die Journalistenkollegen Steve Blame und Daniel Koch präsentieren die Teilnehmenden 2023, darunter Acts wie Indie-Musikerin Brockhoff aus Hamburg und Parlo Brooks aus Düsseldorf mit seinem Coming-of-Age-Synth-Pop. Eine äußerst sinnvolle Sache. Eröffnen sich doch so handfeste Chancen, die eigene Karriere zu befeuern. 

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Die koreanische Indieband Cotoba auf dem Spielbudenplatz

Panel „Domestic Push“: Wie lässt sich die Karriere hiesiger Acts befeuern?

Offenbar gibt es einen großen Bedarf in der deutschen Musikbranche, die Beziehungen zu internationalen Popmärkten auszubauen. Eine Zeit lang wurde da womöglich auch einiges verschlafen. Das ist zumindest eines der Fazits des Panels „Domestic Push“, das ich am Donnerstag auf dem Reeperbahn Festival moderiere. Ich bin wirklich beeindruckt, was Christian Tjaben aus dem Organisationsteam da für ein geballtes Know-how auf dem Podium versammelt hat. Dementsprechend ist das Panel super besucht und die Leute hören bis zum Schluss konzentriert zu. Das freut mich natürlich sehr.

Max Mönster, Director A&R and Creative der Urban-Division von Universal Music spricht über seine Arbeit mit Rapper Haftbefehl im Vergleich zu der Strategie, die er nun mit dem jungen Hamburger Singer-Songwriter Berq fährt. Unter Vertrag genommen wurde Berq mit einem Video, das damals unter 1000 Klicks hatte. Ein Signing aus Überzeugung, das durch klar wirtschaftliche Themen querfinanziert werde. Eine Mischkalkulation also. 

Das bei den Majors überhaupt noch „emotionale Signings“ gemacht werden, freut wiederum Musikmanagerin Kleo Tümmler. Als Solo-Business-Frau vertritt und betreut sie Artists wie Popsängerin Jamie-Lee, Jazztrompeter Till Brönner und die Münchner Indie-Pop-Band Wait of the World. Auf dem Panel erzählt sie auch von ihrer früheren Arbeit mit Tokio Hotel, bei denen im Ausland damals von den Fans explizit die deutschsprachigen Nummern eingefordert worden seien. Ist der fehlende „Domestic Push“ also wirklich in der Sprachbarriere begründet oder mangelt es an entsprechenden Verbindungen und Programmen? 

„Bildet Banden“ fordert RockCity Hamburg gewohnt kämpferisch

Natascha Augustin, Vice President des Musikverlags Warner Chappell Music Germany spricht auf dem Panel unter anderem über die beschleunigte Erfolgsgeschichte von Ayliva. Neben deutschen Songs hat die Popsängerin auch Lyrics auf Englisch und in arabischer Sprache veröffentlicht. Henning Rümenapp, Head of Programming & Editorial bei Amazon Music Deutschland, stellt auf dem Podium die Nachswuchs-Programme des Streaminganbieters vor. Vor allem Amazon Music Breakthrough, in dessen Rahmen auch Rapperin Paula Hartmann am Festival-Mittwoch auftritt. Passend zu ihrem neuen Song „Schwarze SUVs“ auf entsprechendem Gefährt stehend. 

Für eine junge Künstlerin ist Paula Hartmann natürlich schon weit nach vorne gepusht. Vor allem im Vergleich zu all den vielen Newcomer*innen im Pop, deren Weg noch weit ist. Und die im Eierlegende-Wollmilchsau-Modus aus selbst gestemmten Veröffentlichungen, Social-Media-Hustle und gestiegenen Kosten im Live-Bereich zusehen müssen, dass sie sich nicht komplett selbst verheizen. „Bildet Banden“ fordert RockCity Hamburg gewohnt angenehm unangenehm kämpferisch bei der Reception „Fish You Were Here“. Auf deren Panel geht es unter anderem darum, untereinander mehr Transparenz zu schaffen in Sachen Vergütung und Honorare. Um dann gemeinsam entsprechend angemessene Preise fordern zu können. 

Leidenschaftsgetriebenes Wirken versus Selbstverheizung

Eine entschleunigte Art des Protests empfiehlt die wunderbare Nadia Shehadeh später im Imperial Theater. Die Autorin liest aus ihrem Buch „Anti-Girlboss — den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“. Und vor allem hält Nadia Shehadeh mitreißende Ansprachen, dass nicht immer alles nützlich sein muss, erst recht nicht die eigene Freizeit.

Wie sich das in das leidenschaftsgetriebene Wirken von Musiker*innen (oder auch Journalist*innen) integrieren lässt, darüber denke ich immer wieder nach. Jedenfalls dürfte Nadia Shehadeh derart redend und rantend gerne mal im Bundestag sprechen. Allein die Insights aus ihrer Arbeit mit Geflüchteten an ihrem Wohnort Bielefeld dürften für diverse Aha-Erlebnisse sorgen. 

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Im Gespräch mit Bundestagsabgeordnetem Michael Kellner auf Einladung des Forum Musikwirtschaft im Angie’s, fotografiert von Lina Essmann

Talk mit Staatssekretär Michael Kellner vom Kulturpass bis zur KSK

Politisch ist der Freitag auf dem Reeperbahn Festival für mich auch deshalb, da ich ein Panel mit Michael Kellner moderiere. Das Forum Musikwirtschaft, ein Zusammenschluss von sieben Musikbranchenverbänden, hat dazu eingeladen, den Politiker mit sieben drängenden Fragen zu konfrontieren. Denn Michael Kellner ist nicht nur Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz sowie Beauftragter der Bundesregierung für den Mittelstand. Er ist seit knapp einem Jahr zudem offizieller Ansprechpartner der Bundesregierung für die Kultur- und Kreativwirtschaft.

Was hat er für Ziele? Warum gilt der Kulturpass eigentlich nur für 18-Jährige? Wie lässt sich beim Publikum und auch bei den Fachkräften in der Musikbranche die Diversität erhöhen? Warum kann die Rückzahlung der Corona-Hilfen nicht entbürokratisiert werden? Wie können Wahrnehmungs- und Absatzmöglichkeiten für Newcomer*innen verbessert werden? Was sind seine Ansätze, um all den Schließungen im Musikfachhandel entgegenzuwirken? Und wie lässt sich die Künstlersozialabgabe stabil halten?

Ein konstruktives und in Teilen auch persönliches Gespräch. Natürlich reicht eine Dreiviertelstunde bei weitem nicht aus, um im Detail und in der Tiefe zu Klärungen zu kommen. Aber ich denke, dass es enorm wichtig ist, all diese Themen überhaupt erst einmal zu adressieren und auf die Agenda zu bringen. Und mir hat es Spaß gemacht, auch immer wieder konkreter nachzubohren. Zum Beispiel, wenn Michael Kellner in seine große Leidenschaft, den Basketball, abzuschweifen drohte.

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Kegeln ist serious business: Henning Mues (Euphorie, l.) und Sebastian Tim (Koralle Blau) zählen Punkte beim Pegelkegeln in der Trattoria da Mario

Politik, Parties, People und ein wohlwollendes Interesse füreinander

Pop ist und bleibt ein People’s Business. Das zeigt sich auf dem Reeperbahn Festival überdeutlich. Es entstehen Kontexte der Begegnung. Sei es die Präsenz der Politik. Seien es Formate wie das digitale Jugendfestival Tincon und das Recruiting-Format Music People, das ein Kennenlernen zwischen potentiellem Nachwuchs und Musikwirtschaft ermöglicht. Seien es all die angedokten Parties. Etwa die feine Sause des Konzertveranstalters Neuland, diesmal vor dem Backstein-Ambiente des Museums für Hamburgische Geschichte. Oder das famose Pegelkegeln der Indie-Firmen Euphorie und Koralle Blau. Was als lustiges Keller-Event begann, hat sich nun zu einem hippen Massenauflauf an der Corner-Ecke beim Grünen Jäger entwickelt. Frei nach Eminem: They created a monster. 

Auch ich bin innerhalb von vier Tagen und Nächten von einem Gespräch ins nächste getrudelt. Ob kurzer Schnack oder ausführlichere Unterhaltung, ob alte Vertraute oder neue Kontakte: Es ist ein großes Interesse aneinander zu spüren. Eine Wärme. Ein aufrichtiges Sich-Erkundigen. Das hinterlässt nach dieser turbulenten Sause den guten Eindruck, doch nicht im ganz falschen Bereich zu arbeiten.

Ist das Reeperbahn Festival zu teuer geworden?

Fakt ist allerdings auch, dass die internationale Vielfalt durch die angespannte wirtschaftliche Situation gelitten hat. Zwar gibt es nach wie vor zahlreiche Receptions. Etwa den koreanischen Nachmittag auf dem Spielbudenplatz, bei dem ich die grandiose Indiepop-Band Cotoba für mich entdeckt habe. Oder den herzlichen Empfang der Luxemburger, diesmal im Häkken mit weitem Blick über die Reeperbahn. Doch Länder wie Dänemark, Schweden und der Pop-Verbund aus dem osteuropäischen Raum fehlen dieses Jahr beim Reeperbahn Festival.

„Ist das Reeperbahn Festival zu teuer geworden?“, fragte das Hamburger Abendblatt im Vorfeld. Zum Hintergrund: Die Veranstaltung finanziert sich zu 25 Prozent aus den Ticketerlösen der Konferenz-Teilnehmenden und des Festival-Publikums, zu 54 Prozent durch die öffentliche Hand und zu 21 Prozent mit der Hilfe von Sponsoring- und Werbepartnern. Ich bin gespannt, wie sich die preisliche Entwicklung für 2024 gestaltet.

Softer NNDW mit Diggidaniel, Überraschungskonzert der Blood Red Shoes

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Die Blood Red Shoes bei ihrem Acoustic-Konzert am Spiegelsaal-Stand auf der Flatstock-Poster-Ausstellung

Musikalisch ist 2023 ein starker Zug gen purem Pop zu vernehmen. Das driftet mal hin zu einem beliebigeren Sound wie bei Fred Roberts aus UK in der Großen Freiheit. Mal gibt es charmante Überraschungen wie bei Diggidaniel aus Hannover im Kaiserkeller. Seine Version der Neuen Neuen Deutschen Welle fühlt sich soft und euphorisch an. Und so, als animiere er gerade seine Freunde im Partykeller der Eltern.

Das Reeperbahn Festival ist immer wieder gut für kleine feine Erlebnisse. So erfahre ich kurzfristig davon, dass die Blood Red Shoes bei der Flatstock-Poster-Ausstellung auf dem Heiligengeistfeld ein Acoustic-Konzert geben. Zwei Klappstühle, zwei Gitarren, zwei Stimmen. Fertig. Unverstärkt vor rund 30 Leuten. Toll! Die Schlange vor dem eigentlichen Konzert des Duos später im Gruenspan reicht dann von der Großen Freiheit bis zur Talstraße. Drinnen ist die Luft zum Schneiden und die Herzen fliegen hoch. Das ist live. Immer wieder. 

Und noch ein Tipp: In meiner Sendung Nachtclub Überpop gibt es ein Recap des Reeperbahn Festivals 2023. Zu Gast: Indiepop-Artist Shitney Beers, Sebastian Tim (Koralle Blau) und Tino Lange (Hamburger Abendblatt).

Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2022 gibt es in meinen Highlights auf Instagram 

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