Reeperbahn Festival, Tag 3 – Nachdenken über Musikjournalismus

Den dritten Tag beim Reeperbahn Festival starte ich am Nachmittag mit zwei Panels zum Thema Musikjournalismus. Eine Diskussionsrunde beschäftigt sich mit der hiesigen Popmedienlandschaft, die andere mit der internationalen.

Ich finde es großartig, dass der Konferenzteil des Reeperbahn Festivals auf vielen verschiedenen Ebenen die Möglichkeit bietet, sich auszutauschen und zu reflektieren. Zum Beispiel über Pop und Politik oder über Geschlechtergerechtigkeit im Musikbusiness. Mich hat das Thema Musikjournalismus an diesem dritten Festivaltag – gedanklich und ganz real – nicht mehr losgelassen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogpost darauf fokussieren, bevor ich dann aufbreche zum großen Finale am vierten und letzten Tag beim Reeperbahn Festival 2018.

Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“, plädiert für Optimismus

Beide Panels – das deutschsprachige wie das internationale – werden moderiert von Johnny Häusler, seines Zeichens Musiker, Journalist und Veranstalter der Web-Konferenz re:publica. Solche Persönlichkeiten live zu erleben, finde ich an und für sich schon immer äußerst spannend.

In beiden Runden skizzieren die Diskutanten kurz die radikalen Einbrüche im Popprintjournalismus. Die „Intro“ in Deutschland, der „New Musical Express“ in Großbritannien und „The Village Voice“ in New York sind nur einige Beispiele für eingestellte gedruckte Musik- und Kulturmagazine. Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“ von 2014 bis 2018, erzählt, dass die kostenlos ausgegebene Zeitschrift über Anzeigen nicht mehr zu finanzieren war. Statt jedoch in ein großes Lamento zu verfallen, plädiert er für Optimismus in unserer Zunft. Da bin ich ganz bei ihm.

Innovative Formate, um mit Menschen in Kontakt zu treten

Daniels Blick nach vorne richtet sich auf innovative Formate, die sich erst noch ausprobieren, aber deutlich wachsen. Zum Beispiel auf den Podcast „Machiavelli“ der WDR-Plattform Cosmo, der Rap und Politik verhandelt. Oder auf „St. Vincent’s Mixtape Delivery Service“. Fans liefern da der Künstlerin Infos zum eigenen Musikgeschmack. Und St. Vincent bastelt ihnen – auf dem Musikkanal Beats 1 von Apple – individuell zugeschnittene Playlisten.

Ich mag den Ansatz, die technischen Neuerungen nicht ständig als Überforderung und Fluch zu verstehen, sondern als Chance, auf neue Art miteinander in Kontakt zu treten. Ich muss dabei immer an meine gute Freundin Anke Mönning von Garnstories denken, die handgefärbte Wolle verkauft. Das klingt zunächst super oldschool. Aber ihre Vermarktung hat sie komplett über Instagram entwickelt. Und mittlerweile verkauft sie ihre knallig-bunten Produkte bis nach Australien.

Lust auf Information und Inspiration statt „boring as fuck“

Auch Mary Anne Hobbs von der BBC sieht Social Media als Werkzeug, ihr Programm zu (neuen) Hörern zu bringen. Zu Herzen gehen mir ihre Ausführungen, wie sie als Teenager mit den Füßen scharrend am Kiosk auf den „New Musical Express“ gewartet hat. Noch auf der Straße habe sie die Zeitschrift nach ihren Lieblingsmusikern und -autoren durchsucht. Nachts habe sie dann das Heft von der ersten bis zur letzten Seite unter der Bettdecke mit Hilfe einer Taschenlampe durchgelesen.

Dieser Enthusiasmus berührt mich nachhaltig. Denn ich bin zutiefst der Überzeugung, dass diese ultimative Lust auf gut geschriebene Texte, auf spannende Geschichten, auf Information und Inspiration nicht einfach versiegt ist mit Abnahme der popkulturellen Printprodukte. Und wenn ein Gast im Publikum anmerkt, Reviews zu lesen sei „boring as fuck“ in Zeiten permanenter Musikverfügbarkeit, dann müssen sich die Medienmacher eben fragen: Wie mache ich mein Storytelling (wieder) spannend?

Salwa Houmsi: kritische Zwischentöne auf Social-Media-Kanälen

Absolut beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang die jüngste Teilnehmerin der Diskussion, Salwa Houmsi. Die 22-Jährige zählt zu den Gewinnerinnen des International Music Journalism Award, der auf dem Reeperbahn Festival vergeben wird. Sie moderiert unter anderem für Radio Fritz in Berlin mit Spezialisierung auf Deutschrap und legt unter dem DJ-Namen Salwa Benz Hiphop und Artverwandtes auf.

Mit mehr als 16.000 Followern auf Instagram ist Salwa definitiv eine Influencerin, auch wenn der Begriff auf dem Panel kontrovers diskutiert wird. Ihren Einfluss und ihre Rolle hinterfragt Salwa klug und unverkrampft. Zum Beispiel wünscht sie sich, in den schnelllebigen sozialen Medien, in denen viel polarisierend über das Prinzip „hop oder top“ funktioniert, mehr kritische Zwischentöne einbringen zu können.

Große Strategien und Masterpläne werden auf den beiden Panels in der Kürze der Zeit nicht entworfen. Und die Branche wird definitiv noch lange im Umbruch sein. Ich bin wirklich gespannt, welche Wege sich noch öffnen werden, um über Musik zu berichten und diese den Menschen näher zu bringen.

Live-Radio-Show auf dem Reeperbahn Festival

Eine sehr zeitgemäße Methode ist es, analog zum boomenden Live-Geschäft, direkt mitten hinein ins Leben zu gehen mit journalistischen Formaten. Dass diese Rechnung aufgeht, zeigt sich später an diesem Freitag bei „NDR Blue Backstage“. Vor der Alten Liebe Bar direkt am Spielbudenplatz auf St. Pauli hat sich eine Schlange gebildet, um: Radio zu hören. Wobei „hören“ nicht das ausreichende Wort ist. Vielmehr geht es um das Erleben mit allen Sinnen.

NDR Blue Backstage, NDR, Radio, Live, Show, Club, Pop, Festival, Alte Liebe Bar, Hamburg, hosts, Jan Möller, Siri Keil, Reeperbahn Festival, LIFE, Band Die beiden NDR-Moderatoren Siri Keil und Jan Möller empfangen beim Reeperbahn Festival live on air Gäste. Festivalchef Alexander Schulz zum Beispiel erzählt von den Auswirkungen des Sturms auf das Programm an diesem Freitag. Zudem spielen Künstler live im hübsch dekorierten Schaufenster der Bar, etwa die britische Indierockband Life. Siri unterhält sich mit Sänger Mez über die Wut in seinen Lyrics. Und über seine soziale Arbeit mit Jugendlichen.

Die Atmosphäre im Raum ist locker, lebendige Geräusche wie Applaus sind ausdrücklich erwünscht. Schließlich sollen die Hörer, die nicht physisch anwesend sind, sondern an den Empfangsgeräten, ein Gefühl für die Veranstaltung bekommen. Vor Ort wiederum genieße ich sehr, wie sich die Konzentration einer Live-Aufzeichnung auf mich als Besucherin überträgt. Ich bin ganz da und wach und kann mich voll auf Gespräche und Musik fokussieren.

Ich werde ganz gewiss weiter über das Thema Musikjournalismus nachdenken. Und nach diesem Tag auf dem Reeperbahn Festival bin ich mir umso sicherer, dass der Popjournalismus der Zukunft neben Know-how und Handwerk vor allem Charakter, Haltung und Offenheit benötigt. Er braucht neben Information eben auch Identität und Inspiration, zudem Austausch und Komplizenschaft. Ich bleibe optimistisch.

Hier lässt sich nachlesen, wie mein Tag 1 und Tag 2 auf dem Reeperbahn Festival verliefen.

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