Reeperbahn Festival 2022 Fazit — sich neu verlieben lernen

Reeperbahn Festival, Hamburg, St. Pauli, Bands, Musik, Pop

„Ich habe verlernt, mich zu verlieben“, singt Charlotte Brandi im Nochtspeicher auf St. Pauli. Oder zumindest glaube ich, dass sie diesen Satz gesungen hat. Denn das ist ja das unfassbar Schöne an Popmusik. Dass sie in jedem und jeder anders nachhallt. Dass sie sich in einem verwandelt und uns verändert. Ich laufe also mit diesem Satz über das Reeperbahn Festival, wo Charlotte Brandi am ersten Abend ein grandioses Konzert zum Schockverlieben gibt. Eine eigensinnige Kunstpoplied- und Indierockshow, die einfach enorm interessant anzuhören und anzusehen ist. „Ich habe verlernt, mich zu verlieben.“ Der Satz geht mit mir in die Nacht. Und ich frage mich: Wie funktioniert das überhaupt mit dem Verlieben? In Menschen und in die Welt, in das Hinausgehen und in die Livemusik, in Momente und Miteinander. 

Wenn ich in den vergangen Wochen mit Leuten aus der Clubkultur gesprochen habe, dann droht die Liebe und das Verlieben derzeit verloren zu gehen. Der Spark und Drive, der viele über Jahre und Jahrzehnte befeuert hat, wird zerrieben von drohendem Burn-Out und allzu realen Zukunftsängsten. Publikumsschwund und Fachkräftemangel plus Pandemieerschöpfung, Ukraine-Krieg und globale Konflikte, Energieknappheit und Kostensteigerung. Diese Aspekte sind omnipräsent auf dem Reeperbahn Festival. Bei der Eröffnung im Operettenhaus auf dem Kiez macht Festival-Chef Alexander Schulz vehement auf diese verheerende Gemengelage aufmerksam. Und bereits am Vorabend hat das Clubkombinat Hamburg die Kampagne „Rettet die Clubkultur — the show must go on“ gestartet, um einem „Kollaps in der Veranstaltungswirtschaft“ entgegenzuwirken. 

Das Reeperbahn Festival zwischen Krise, Kritik und Popkulturliebe

Mit diesem „heavy cross“ im Herzen stehen bei mir die Zeichen zu Beginn des Festivals nicht unbedingt auf hemmungsloses Verknallen in alles, was da passieren soll. Zumal ich direkt am ersten Tag diverse Menschen treffe, die sich einfach nicht mehr verlieben wollen. Denen das Reeperbahn Festival in seiner 17. Ausgabe zu „corporate“ und zu kommerziell ist. Und die das Booking nicht aufregend genug finden. Doch gerade diese komplexe Atmosphäre zwischen Krise, Kritik und nach wie vor unbedingter Popkulturliebe führt meines Erachtens dazu, dass die Gespräche während des Festivals offener und ehrlicher sind. Die Frage „Wie geht’s?“ führt schneller in die Tiefe. Sowohl in Einzelgesprächen in Clubs, auf der Straße und beim Networking. Als auch auf den Panels der Reeperbahn Festival Konferenz.

Ich hoffe zutiefst, dass die innovative Kraft und konstruktive Stimmung, die da gerade aktiv ist, schneller und stärker wirkt als die zermürbende Wucht der Probleme. Ganz so, wie Kultursenator Carsten Brosda es im Gespräch mit Pianist Igor Levit und Journalistin Aida Baghernejad zum Festival-Auftakt sagt. Er führt aus, dass wir an Orten der Kultur die Welt „anders spielen“ können. Und darin stecke revolutionäres Potenzial. Denn, so Brosda: „Das heißt ja, die Dinge sind veränderbar. Die Dinge sind gestaltbar. Und die Dinge sind verbesserbar. Wir können das anders denken. Und wir können das anders spielen. Und wenn wir das auf dem sicheren Raum der Bühne können, dann können wir das ja vielleicht sogar im echten Leben da draußen.“ 

Pianist, Igor Levitt, Gespräch, Journalistin, Aida Baghernejad, Kultursenator, Carsten Brosda
Pianist Igor Levit (l.) im Gespräch mit Journalistin Aida Baghernejad und Kultursenator Carsten Brosda, fotografiert von Lidija Delovska

Glamour von Pabllo Vittar, Genre-Explosion mit Sharktank

In den vier Tagen und Nächten auf dem Reeperbahn Festival lerne ich also, mich wieder zu verlieben. In das Glitzernde und Kaschemmige, in die inspirierende und auch überfordernde Fülle an Sounds und Zeichen. Und in die Energie, die sich austauscht. Sei sie schüchtern oder impulsiv.

Ich verliebe mich in ein funkelndes Geschöpf wie die Brasilianerin Pabllo Vittar aus der Jury des Anchor Awards, die das Festival mit extravagantem Glamour und optimistischem Spirit auflädt. Und ich verliebe mich in Sharktank aus Österreich, die Indie-Pop und Hip-Hop live dermaßen furios fusionieren, als sollten die Genres bitte jetzt sofort auf der Stelle im- und explodieren. Die Band tobt und spielt in einer Ecke des urigen und immens vollgepackten Drafthouse, einer der Bars am Hans-Albers-Platz, die ich eher unter tourisaufi verbucht hatte. Wieder einen neuen Ort gesehen. Wieder ein wenig die Perspektive verschoben. 

Reeperbahn Festival, Hamburg, St. Pauli, Bands, Musik, Pop, Band, Korea, Dajung, Korean Spotlight, Kocca
Die koreanische Band Dajung auf dem Spielbudenplatz. 41.000 Popfans sahen 400 Konzerte von Bands aus 38 Ländern. Zudem besuchten 4300 internationale Gäste aus der Musikbranche rund 200 Konferenzprogrammpunkte mit Panels, Networking-Events, Showcases und Award-Shows.

Entdeckungen: Nerd Connection aus Korea, Marlon Hammer aus Bochum

Nach der inhäusigen Corona-Zeit sehne ich mich noch mehr nach Impulsen, die aus fernen Ländern kommen. Und so freue ich mich sehr über eine Band wie Nerd Connection aus Südkorea, die ihre klangverliebten Indie-Schwelgereien durch das gleißende Sonnenlicht über den Spielbudenplatz schickt. Oder über den ghanaischen Superstar KiDi, der das Mojo mit Afropop, Funk, Rap und sexpositivem Bounce in eine wogende Party verwandelt. 

Das Reeperbahn Festival ist und bleibt ein Festival für Entdeckungen. Und ein Sprungbrett. Im trüben Regen am Samstag erlebe ich den jungen Bochumer Musiker Marlon Hammer mit seiner Band auf der Open-air-Bühne im Festival Village. Gerade 18 geworden. Mit Texten von kluger Unverfrorenheit. Und einem eigensinnig-schroffen und zugleich zarten Sound. Ich hoffe, dass so viel Talent nicht allzu schnell verglüht. Denn das ist ja immer die Sache mit der Passion, das Risiko beim Sich-Verlieben. Dass all die Emotionen und Verwirrungen zu heftig brennen. Oder eben umso schöner strahlen. Also geht es immer wieder um die Frage: Wie lässt sich das gute wilde Leben anfachen und praktizieren? Wohin führt die Reise? Wie entwickelt sich die Popkultur?

Eine trockene, dafür aber nicht minder wichtige Zahl: 55 Prozent der Acts auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival sind weiblich gelesen. Und dennoch ist in Bezug auf Gendergerechtigkeit in der Branche noch viel zu tun, wie eine neue Studie der MaLisa-Stiftung zeigt. „Die Musikbranche ist weiterhin ein Boys Club“, erklärt Elisabeth Furtwängler, Initiatorin der Recherche, beim Reeperbahn Festival. „Aber zu wissen, dass Ungerechtigkeiten existieren, ist eine gute Voraussetzung, um Dinge zu verändern.“

Anchor Award, Jury, Hosts, Preisverleihung, Reeperbahn Festival, St. Pauli Theater
Hosts und Jury beim Anchor Award (v.l., fotografiert von Ilona Henne): Aminata Belli, Pelle Almqvist (The Hives), Joy Denalane, Tony Visconti, Tayla Parx, Pabllo Vittar, Bill Kaulitz und Sven Gätjen. Gewonnen hat die Band Cassia.

Panel und Preisverleihung loten Zukunft des Musikjournalismus aus

Das Credo lautet also: debattieren, fordern, anschieben, machen. Zum Glück kann ich da auch mitmischen. Die Reeperbahn Festival Konferenz hat mich eingeladen, auf einem Panel zum Thema „Trusted Transmission“ zu diskutieren. Zusammen mit den wunderbaren Kolleg*innen Dalia Ahmed von FM4, Ruben Jonas Schnell von ByteFM und Maik Brüggemeyer vom Rolling Stone Magazin. Es geht um den Status quo von musikjournalistischen Audioprogrammen.  Und warum wir diesen vertrauen. Meines Erachtens führen gerade Podcasts dazu, dass viele bisher ungehörte Stimmen und Meinungen einen Raum finden. Super! Aber ich finde,  dass auch bei diesem relativ jungen Medium noch reichlich Luft nach oben ist. Die Frage ist ja, welche Formate von Firmen und Sponsoren gepusht werden. Sind es die Podcasts, in denen zwei weiße Cis-Dudes ihre Fachsimpeleien ins Internet verlegen? Oder sind es Reihen und Sendungen, die verstärkt auf Vielfalt setzen?

Eine spannende Bandbreite an Arbeiten hat in diesem Jahr erneut der International Music Journalism Award, kurz IMJA, gekürt. Dankenswerter Weise war ich mit meiner Radiosendung Nachtclub Überpop zum Thema „Klangkörper Frau“ in der Kategorie Audio nominiert. Gewonnen hat die tolle Teamarbeit der öffentlich-rechtlichen Jugendsparte Funk: „Deso — der Rapper, der zum IS ging“ um Journalistin Azadê Peşmen. Herzlichen Glückwunsch! Wirklich begeistert bin ich von dem SWR-Feature „Freddie Mercury und ich – Aufbruch aus einem kommunistischen Land‟ von Renata Nasseri, das ebenfalls nominiert war. Gut 20 Minuten kompakte und eindringlich erzählte Musik- und Migrationsgeschichte aus weiblicher Sicht. Sehr zu empfehlen. Und auch mit den Publikationen der anderen Gewinner*innen werde ich mich definitiv beschäftigen. Gratulation an alle!

Arbeiten in der Musikbranche — warum?

Klar, der IMJA ist eine von gefühlt unzähligen Veranstaltungen zwischen all den Diskussionen und Konzerten, Netzwerk-Events und Receptions auf dem Reeperbahn Festival. Doch ich bin sehr froh, mit welchem Nachdruck Konferenz-Chef Detlef Schwarte seine Wertschätzung für den Musikjournalismus formuliert. Denn auch mir, die ich als Biggy Pop seit nun mehr vier Jahren selbstständig arbeite, stellt sich gerade in der aktuellen Umbruchzeit die Frage, wie ich meine Unternehmung in den kommenden Jahren gestalte. Deshalb gefällt mir auch die Gesprächsreihe am Festival-Samstag äußerst gut. Im Neo House auf dem Heiligengeistfeld befragt Journalist Yannick Niang verschiedene Businessprofis zum Thema „10 Gründe, warum du in der Musikbranche arbeiten solltest“. Ein Format, dass sich eindeutig an den Nachwuchs richtet. Dass für mich als Status-Update aber ebenfalls bestens funktioniert. 

Nach vier Tagen und Nächten auf dem Reeperbahn Festival bleibt also die Frage: Warum arbeite ich in der Musikbranche? Warum verliebe ich mich immer wieder in den Job. Und den Pop. Mir kommt immer wieder dieser Song von Thees Uhlmann in den Sinn: „Sich gehen zu lassen, in Liebe und Angst / Das, was man hat, verschenken / Vom Versuch, das mit Würde zu schaffen / Denken: Für immer die Menschen“. Ich habe beim Reeperbahn Festival unglaublich viele Leute wiedergetroffen und kennengelernt. Ich bin umhergestromert und habe die Batterien aufgeladen. Wir haben geredet, geschwiegen, geschrieen. Gemeinsam in der Musik. Daher mein unbedingt hoch emotionaler Appell: Lasst uns immer wieder lernen, uns zu verlieben. Und lasst uns auch Dinge verlernen. Um Platz zu schaffen für Neues. 

Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2022 gibt es in den Highlights auf Instagram 

Lesetipp: Reihe „Mein Beitrag“ auf Biggy Pop Blog

Biggy Pop bei Facebook

Follow my blog with Bloglovin 

Jahresrückblick 2018 – im Transit unter der Discokugel

Biggy Pop, annual review, Jahresrückblick, 2018, calendar, mirrorball, discokugel, sticker, b-side-label, tape, december

Ein Tag vor Silvester. Der Kopf hängt halb in der Zwischen-den-Jahren-Resterkältung, halb in der Rückschau auf ein bewegtes Jahr 2018. Vor fünf Monaten habe ich mich als Biggy Pop selbstständig gemacht. Und seit fünf Monaten schreibe ich diesen Blog über Popmusik in Hamburg. Dieses ist der 44. Eintrag. Dass diese Zahl zugleich mein Alter ist, ist purer Zufall. Doch da es mir nun einmal aufgefallen ist, möchte ich es nicht unerwähnt lassen. Ich habe keine Lust, mich jünger oder älter zu machen. Warum auch?

Ich bin zutiefst der Überzeugung, dass Popkultur für alle da ist. Dass niemand bestimmte Kriterien erfüllen muss, um am guten wilden Leben teilzuhaben. Denn wenn ich auf 2018 zurückblicke, dann haben sich drei Leitsätze für mich verdichtet, die nun am Ende des Jahres in großer Leuchtschrift dastehen: Sich mit Menschen verbinden. Meine Stimme finden. Offenheit üben.

2018: Orientieren, Dynamik und reden, reden, reden

Die erste Jahreshälfte war geprägt vom Schritt hinaus aus der Festanstellung. Von Durchatmen und Orientieren. Von Seminaren und Formularen. Von Ideen und Aufbau. Und von dem Lernprozess, das Gefühl des Transits und der Unsicherheit als Teil der neuen Freiheit zu verstehen.

In der zweiten Jahreshälfte erhöhte sich die Dynamik: Die eigene Arbeit anbieten. Die Aufregung erster freiberuflicher Aufträge. Sich ausprobieren. Mutig sein. Zwischendurch innehalten und einfach nur erschöpft auf dem Sofa liegen, um all das Neue sacken zu lassen. Dann: „Immer weiter durchbrechen.“ Dinge verwerfen und Prioritäten setzen. Einen Rhythmus finden. Und vor allem: reden, reden, reden.

Biggy Pop, annual review, Jahresrückblick, 2018, beer, words, Rock, Bar, Hausverbot, St. Pauli, Hamburg, PopOb als Journalistin, Texterin, Dozentin oder DJ – 2018 ist für mich beruflich definitiv das Jahr der Kommunikation. Ich bin sehr dankbar, mich mit so vielen verschiedenen musikpassionierten Menschen austauschen zu können – von der Studentin bis zum alten Pophasen. Ich durfte viele Künstlerinnen und Hintergrundarbeiter, die die hiesige Szene erst so richtig knallschillernd machen, neu oder anders kennenlernen. Kontakte entstanden oder vertieften sich.

Wer hat denn hier die Coolness gepachtet?

Kaffees, Biere und Schnäpse wurden getrunken. Und Themen gewälzt. Etwa über den Wandel des Musikjournalismus. Meiner Ansicht nach ist die emotionale und leidenschaftliche Verbundenheit, die Pop erzeugen kann, ein Schlüssel, wie das Genre in Zukunft bestehen kann. All die Fans da draußen wollen meiner Meinung nach beherzten, detailverliebten, nerdigen, schrulligen, kritischen, hintergründigen Austausch und Input über Musik. Aber nicht von oben herab. Wer hat denn hier die Coolness gepachtet? Niemand. Thank god!

Es geht um Teilhabe. Darum, sich zu verbinden in Musik. Zustände zu beschreiben, zu reflektieren, zu hinterfragen, zu prognostizieren, zu ironisieren und zu überhöhen mit Pop. Auf meinem Blog versuche ich nach wie vor herauszufinden, wie das funktionieren kann. Ich suche meine Stimme. Und ich freue mich zutiefst, wenn Menschen mitlesen und sich womöglich inspiriert fühlen, hinauszugehen, mitzumischen, sich zu verbinden, laut zu sein, leise zu fühlen, quer- und nachzudenken.

Eine verpeilte Geschichte

2018 ist das Jahr, in dem die immense Bedeutung eines respektvollen Miteinanders gesellschaftlich noch einmal besonders heftig spürbar wurde. Und wie sehr ich mir in Sachen Offenheit immer und immer wieder amtlich an die eigene Nase fassen darf, ist mir bei einem kleinen Erlebnis aufgegangen. Es ist keine große tragische Geschichte, eher eine kleine verpeilte, die jedoch nachschwingt.

Für den 29. September stand ich auf der Gästeliste für das Konzert der Berliner Indierocker Von Wegen Lisbeth in der Großen Freiheit. Ich war am Nachmittag bei der antirassistischen Parade am Hafen gewesen. Und nach einem Essensstopp in der Kleinen Pause in der Wohlwillstraße eilte ich mit einer Freundin kurz vor knapp zum Club auf den Kiez. Die freundliche Frau an der Kasse fand mich nicht auf der Liste, ließ uns aber nach kurzer Rücksprache mit dem Veranstalter netter Weise hinein.

Xavier Rudd, Australia, musician, concert, Hamburg, Große Freiheit, Club, Biggy Pop, retrospective, Jahresrückblick, 2018 Wir schoben uns durch den Raucherraum bis nach vorne. Und als ich gerade noch überlegte, warum da wohl ein Didgeridoo auf der Bühne stand, kam die Band bereits auf die Bühne. Statt schmächtiger Indieboys trat da allerdings ein tätowierter Surfertyp in Tarnlatzhose und mit Zopfduttfrisur ins Rampenlicht. Der Saal: ausverkauft. Die Menge: euphorisiert. Wir: perplex.

Rasches Googeln ergab: Wir waren im falschen Jahr. Von Wegen Lisbeth soll am 29. September 2019 in der Großen Freiheit spielen (we got a date!). Das Konzert war halt nur mit sehr sehr langem Vorlauf angekündigt worden. An diesem Abend trat der australische Songwriter, Sänger und Multiinstrumentalist Xavier Rudd mit seinem Ethnopop auf.

„Who am I to judge?“

Als Journalistin war ich bereits bei vielen Konzerten, die nicht unbedingt meinem individuellen Geschmack entsprechen. Die ich dann danach beurteile, ob der Auftritt dem Genre entsprechend gut ist. Ob etwas überspringt.

Doch so unerwartet und unvorbereitet in eine Situation zu stolpern, hat mit noch einmal auf einer anderen Ebene erwischt: Ich fühlte mich ertappt. Denn kurz hatte ich den Impuls, nicht nur über mich selbst zu lachen, sondern auch über den Künstler. Der sah aus wie ein Abziehbild des ökologisch bewegten Weltenretters. Also wie ein Klischee. Aber das sind viele Indierockkids natürlich auch. Und wie heißt es im Englischen so schön: „Who am I to judge?“

Wildcard für die Popkultur

Das Publikum sang inbrünstig seine teils von Aborigines inspirierten Songs mit. Und sie lauschten aufmerksam Rudds Botschaften von Love, Peace and Understanding. War das nicht genau das, wofür ich kurz zuvor demonstriert hatte? Nun nur eben – aus meiner Sicht – uncooler verpackt?

Leicht beschämt beschloss ich, mich fortan noch mehr aus meinem Dunstkreis hinausbewegen zu wollen. Wie wäre es zum Beispiel, einmal im Monat den Programmteil der „Szene Hamburg“ zu nehmen, mit dem Finger hineinzustechen und sich so seine eigene Wildcard in Sachen Popkultur zu basteln? Wie wäre es, sich insgesamt im Leben noch mehr verwirren und überraschen zu lassen?

Der gute Vorsatz: mehr Durchlässigkeit

Rückblickend bin ich – nicht zuletzt als große Freundin von Zeitreisefilmen und -serien – begeistert davon, dass ich mich so verschoben fühlen durfte. Wann geschieht das denn noch in unserer überinformierten, durchgoogelten Welt? Daher lautet einer meiner Vorsätze für 2019: Die (eigenen) Grenzen noch durchlässiger machen.

Drangsal, Zores, Album, Cover, Music, Biggy Pop, annual review, Jahresrückblick, 2018, BestenlisteUnd, ach ja, wer in diesem Blogpost die obligatorischen Bestenlisten vermisst: Für das Internetradio Byte FM habe ich meine Top Ten an Alben und Songs des Jahres notiert. Kaum abgeschickt, fielen mir natürlich sofort weitere Künstlerinnen und Musiker samt ihrer Werke 2018 ein, die ebenfalls grandios sind. Alles kann immer nur Bestandsaufnahme sein. Denn alles ist im Flow, im Groove. In diesem Sinne: Keep on und kommt gut rein ins Neue!

Follow my blog with Bloglovin

Reeperbahn Festival, Tag 3 – Nachdenken über Musikjournalismus

NDR Blue Backstage, NDR, Radio, Live, Show, Club, Pop, Festival, Alte Liebe Bar, Hamburg, hosts, Jan Möller, Siri Keil, Reeperbahn Festival, Boss, Alexander Schulz

Den dritten Tag beim Reeperbahn Festival starte ich am Nachmittag mit zwei Panels zum Thema Musikjournalismus. Eine Diskussionsrunde beschäftigt sich mit der hiesigen Popmedienlandschaft, die andere mit der internationalen.

Ich finde es großartig, dass der Konferenzteil des Reeperbahn Festivals auf vielen verschiedenen Ebenen die Möglichkeit bietet, sich auszutauschen und zu reflektieren. Zum Beispiel über Pop und Politik oder über Geschlechtergerechtigkeit im Musikbusiness. Mich hat das Thema Musikjournalismus an diesem dritten Festivaltag – gedanklich und ganz real – nicht mehr losgelassen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogpost darauf fokussieren, bevor ich dann aufbreche zum großen Finale am vierten und letzten Tag beim Reeperbahn Festival 2018.

Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“, plädiert für Optimismus

Beide Panels – das deutschsprachige wie das internationale – werden moderiert von Johnny Häusler, seines Zeichens Musiker, Journalist und Veranstalter der Web-Konferenz re:publica. Solche Persönlichkeiten live zu erleben, finde ich an und für sich schon immer äußerst spannend.

In beiden Runden skizzieren die Diskutanten kurz die radikalen Einbrüche im Popprintjournalismus. Die „Intro“ in Deutschland, der „New Musical Express“ in Großbritannien und „The Village Voice“ in New York sind nur einige Beispiele für eingestellte gedruckte Musik- und Kulturmagazine. Daniel Koch, letzter Chefredakteur der „Intro“ von 2014 bis 2018, erzählt, dass die kostenlos ausgegebene Zeitschrift über Anzeigen nicht mehr zu finanzieren war. Statt jedoch in ein großes Lamento zu verfallen, plädiert er für Optimismus in unserer Zunft. Da bin ich ganz bei ihm.

Innovative Formate, um mit Menschen in Kontakt zu treten

Daniels Blick nach vorne richtet sich auf innovative Formate, die sich erst noch ausprobieren, aber deutlich wachsen. Zum Beispiel auf den Podcast „Machiavelli“ der WDR-Plattform Cosmo, der Rap und Politik verhandelt. Oder auf „St. Vincent’s Mixtape Delivery Service“. Fans liefern da der Künstlerin Infos zum eigenen Musikgeschmack. Und St. Vincent bastelt ihnen – auf dem Musikkanal Beats 1 von Apple – individuell zugeschnittene Playlisten.

Ich mag den Ansatz, die technischen Neuerungen nicht ständig als Überforderung und Fluch zu verstehen, sondern als Chance, auf neue Art miteinander in Kontakt zu treten. Ich muss dabei immer an meine gute Freundin Anke Mönning von Garnstories denken, die handgefärbte Wolle verkauft. Das klingt zunächst super oldschool. Aber ihre Vermarktung hat sie komplett über Instagram entwickelt. Und mittlerweile verkauft sie ihre knallig-bunten Produkte bis nach Australien.

Lust auf Information und Inspiration statt „boring as fuck“

Auch Mary Anne Hobbs von der BBC sieht Social Media als Werkzeug, ihr Programm zu (neuen) Hörern zu bringen. Zu Herzen gehen mir ihre Ausführungen, wie sie als Teenager mit den Füßen scharrend am Kiosk auf den „New Musical Express“ gewartet hat. Noch auf der Straße habe sie die Zeitschrift nach ihren Lieblingsmusikern und -autoren durchsucht. Nachts habe sie dann das Heft von der ersten bis zur letzten Seite unter der Bettdecke mit Hilfe einer Taschenlampe durchgelesen.

Dieser Enthusiasmus berührt mich nachhaltig. Denn ich bin zutiefst der Überzeugung, dass diese ultimative Lust auf gut geschriebene Texte, auf spannende Geschichten, auf Information und Inspiration nicht einfach versiegt ist mit Abnahme der popkulturellen Printprodukte. Und wenn ein Gast im Publikum anmerkt, Reviews zu lesen sei „boring as fuck“ in Zeiten permanenter Musikverfügbarkeit, dann müssen sich die Medienmacher eben fragen: Wie mache ich mein Storytelling (wieder) spannend?

Salwa Houmsi: kritische Zwischentöne auf Social-Media-Kanälen

Absolut beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang die jüngste Teilnehmerin der Diskussion, Salwa Houmsi. Die 22-Jährige zählt zu den Gewinnerinnen des International Music Journalism Award, der auf dem Reeperbahn Festival vergeben wird. Sie moderiert unter anderem für Radio Fritz in Berlin mit Spezialisierung auf Deutschrap und legt unter dem DJ-Namen Salwa Benz Hiphop und Artverwandtes auf.

Mit mehr als 16.000 Followern auf Instagram ist Salwa definitiv eine Influencerin, auch wenn der Begriff auf dem Panel kontrovers diskutiert wird. Ihren Einfluss und ihre Rolle hinterfragt Salwa klug und unverkrampft. Zum Beispiel wünscht sie sich, in den schnelllebigen sozialen Medien, in denen viel polarisierend über das Prinzip „hop oder top“ funktioniert, mehr kritische Zwischentöne einbringen zu können.

Große Strategien und Masterpläne werden auf den beiden Panels in der Kürze der Zeit nicht entworfen. Und die Branche wird definitiv noch lange im Umbruch sein. Ich bin wirklich gespannt, welche Wege sich noch öffnen werden, um über Musik zu berichten und diese den Menschen näher zu bringen.

Live-Radio-Show auf dem Reeperbahn Festival

Eine sehr zeitgemäße Methode ist es, analog zum boomenden Live-Geschäft, direkt mitten hinein ins Leben zu gehen mit journalistischen Formaten. Dass diese Rechnung aufgeht, zeigt sich später an diesem Freitag bei „NDR Blue Backstage“. Vor der Alten Liebe Bar direkt am Spielbudenplatz auf St. Pauli hat sich eine Schlange gebildet, um: Radio zu hören. Wobei „hören“ nicht das ausreichende Wort ist. Vielmehr geht es um das Erleben mit allen Sinnen.

NDR Blue Backstage, NDR, Radio, Live, Show, Club, Pop, Festival, Alte Liebe Bar, Hamburg, hosts, Jan Möller, Siri Keil, Reeperbahn Festival, LIFE, Band Die beiden NDR-Moderatoren Siri Keil und Jan Möller empfangen beim Reeperbahn Festival live on air Gäste. Festivalchef Alexander Schulz zum Beispiel erzählt von den Auswirkungen des Sturms auf das Programm an diesem Freitag. Zudem spielen Künstler live im hübsch dekorierten Schaufenster der Bar, etwa die britische Indierockband Life. Siri unterhält sich mit Sänger Mez über die Wut in seinen Lyrics. Und über seine soziale Arbeit mit Jugendlichen.

Die Atmosphäre im Raum ist locker, lebendige Geräusche wie Applaus sind ausdrücklich erwünscht. Schließlich sollen die Hörer, die nicht physisch anwesend sind, sondern an den Empfangsgeräten, ein Gefühl für die Veranstaltung bekommen. Vor Ort wiederum genieße ich sehr, wie sich die Konzentration einer Live-Aufzeichnung auf mich als Besucherin überträgt. Ich bin ganz da und wach und kann mich voll auf Gespräche und Musik fokussieren.

Ich werde ganz gewiss weiter über das Thema Musikjournalismus nachdenken. Und nach diesem Tag auf dem Reeperbahn Festival bin ich mir umso sicherer, dass der Popjournalismus der Zukunft neben Know-how und Handwerk vor allem Charakter, Haltung und Offenheit benötigt. Er braucht neben Information eben auch Identität und Inspiration, zudem Austausch und Komplizenschaft. Ich bleibe optimistisch.

Hier lässt sich nachlesen, wie mein Tag 1 und Tag 2 auf dem Reeperbahn Festival verliefen.

Follow my blog with Bloglovin