„Ich habe verlernt, mich zu verlieben“, singt Charlotte Brandi im Nochtspeicher auf St. Pauli. Oder zumindest glaube ich, dass sie diesen Satz gesungen hat. Denn das ist ja das unfassbar Schöne an Popmusik. Dass sie in jedem und jeder anders nachhallt. Dass sie sich in einem verwandelt und uns verändert. Ich laufe also mit diesem Satz über das Reeperbahn Festival, wo Charlotte Brandi am ersten Abend ein grandioses Konzert zum Schockverlieben gibt. Eine eigensinnige Kunstpoplied- und Indierockshow, die einfach enorm interessant anzuhören und anzusehen ist. „Ich habe verlernt, mich zu verlieben.“ Der Satz geht mit mir in die Nacht. Und ich frage mich: Wie funktioniert das überhaupt mit dem Verlieben? In Menschen und in die Welt, in das Hinausgehen und in die Livemusik, in Momente und Miteinander.
Wenn ich in den vergangen Wochen mit Leuten aus der Clubkultur gesprochen habe, dann droht die Liebe und das Verlieben derzeit verloren zu gehen. Der Spark und Drive, der viele über Jahre und Jahrzehnte befeuert hat, wird zerrieben von drohendem Burn-Out und allzu realen Zukunftsängsten. Publikumsschwund und Fachkräftemangel plus Pandemieerschöpfung, Ukraine-Krieg und globale Konflikte, Energieknappheit und Kostensteigerung. Diese Aspekte sind omnipräsent auf dem Reeperbahn Festival. Bei der Eröffnung im Operettenhaus auf dem Kiez macht Festival-Chef Alexander Schulz vehement auf diese verheerende Gemengelage aufmerksam. Und bereits am Vorabend hat das Clubkombinat Hamburg die Kampagne „Rettet die Clubkultur — the show must go on“ gestartet, um einem „Kollaps in der Veranstaltungswirtschaft“ entgegenzuwirken.
Das Reeperbahn Festival zwischen Krise, Kritik und Popkulturliebe
Mit diesem „heavy cross“ im Herzen stehen bei mir die Zeichen zu Beginn des Festivals nicht unbedingt auf hemmungsloses Verknallen in alles, was da passieren soll. Zumal ich direkt am ersten Tag diverse Menschen treffe, die sich einfach nicht mehr verlieben wollen. Denen das Reeperbahn Festival in seiner 17. Ausgabe zu „corporate“ und zu kommerziell ist. Und die das Booking nicht aufregend genug finden. Doch gerade diese komplexe Atmosphäre zwischen Krise, Kritik und nach wie vor unbedingter Popkulturliebe führt meines Erachtens dazu, dass die Gespräche während des Festivals offener und ehrlicher sind. Die Frage „Wie geht’s?“ führt schneller in die Tiefe. Sowohl in Einzelgesprächen in Clubs, auf der Straße und beim Networking. Als auch auf den Panels der Reeperbahn Festival Konferenz.
Ich hoffe zutiefst, dass die innovative Kraft und konstruktive Stimmung, die da gerade aktiv ist, schneller und stärker wirkt als die zermürbende Wucht der Probleme. Ganz so, wie Kultursenator Carsten Brosda es im Gespräch mit Pianist Igor Levit und Journalistin Aida Baghernejad zum Festival-Auftakt sagt. Er führt aus, dass wir an Orten der Kultur die Welt „anders spielen“ können. Und darin stecke revolutionäres Potenzial. Denn, so Brosda: „Das heißt ja, die Dinge sind veränderbar. Die Dinge sind gestaltbar. Und die Dinge sind verbesserbar. Wir können das anders denken. Und wir können das anders spielen. Und wenn wir das auf dem sicheren Raum der Bühne können, dann können wir das ja vielleicht sogar im echten Leben da draußen.“
Glamour von Pabllo Vittar, Genre-Explosion mit Sharktank
In den vier Tagen und Nächten auf dem Reeperbahn Festival lerne ich also, mich wieder zu verlieben. In das Glitzernde und Kaschemmige, in die inspirierende und auch überfordernde Fülle an Sounds und Zeichen. Und in die Energie, die sich austauscht. Sei sie schüchtern oder impulsiv.
Ich verliebe mich in ein funkelndes Geschöpf wie die Brasilianerin Pabllo Vittar aus der Jury des Anchor Awards, die das Festival mit extravagantem Glamour und optimistischem Spirit auflädt. Und ich verliebe mich in Sharktank aus Österreich, die Indie-Pop und Hip-Hop live dermaßen furios fusionieren, als sollten die Genres bitte jetzt sofort auf der Stelle im- und explodieren. Die Band tobt und spielt in einer Ecke des urigen und immens vollgepackten Drafthouse, einer der Bars am Hans-Albers-Platz, die ich eher unter tourisaufi verbucht hatte. Wieder einen neuen Ort gesehen. Wieder ein wenig die Perspektive verschoben.
Entdeckungen: Nerd Connection aus Korea, Marlon Hammer aus Bochum
Nach der inhäusigen Corona-Zeit sehne ich mich noch mehr nach Impulsen, die aus fernen Ländern kommen. Und so freue ich mich sehr über eine Band wie Nerd Connection aus Südkorea, die ihre klangverliebten Indie-Schwelgereien durch das gleißende Sonnenlicht über den Spielbudenplatz schickt. Oder über den ghanaischen Superstar KiDi, der das Mojo mit Afropop, Funk, Rap und sexpositivem Bounce in eine wogende Party verwandelt.
Das Reeperbahn Festival ist und bleibt ein Festival für Entdeckungen. Und ein Sprungbrett. Im trüben Regen am Samstag erlebe ich den jungen Bochumer Musiker Marlon Hammer mit seiner Band auf der Open-air-Bühne im Festival Village. Gerade 18 geworden. Mit Texten von kluger Unverfrorenheit. Und einem eigensinnig-schroffen und zugleich zarten Sound. Ich hoffe, dass so viel Talent nicht allzu schnell verglüht. Denn das ist ja immer die Sache mit der Passion, das Risiko beim Sich-Verlieben. Dass all die Emotionen und Verwirrungen zu heftig brennen. Oder eben umso schöner strahlen. Also geht es immer wieder um die Frage: Wie lässt sich das gute wilde Leben anfachen und praktizieren? Wohin führt die Reise? Wie entwickelt sich die Popkultur?
Eine trockene, dafür aber nicht minder wichtige Zahl: 55 Prozent der Acts auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival sind weiblich gelesen. Und dennoch ist in Bezug auf Gendergerechtigkeit in der Branche noch viel zu tun, wie eine neue Studie der MaLisa-Stiftung zeigt. „Die Musikbranche ist weiterhin ein Boys Club“, erklärt Elisabeth Furtwängler, Initiatorin der Recherche, beim Reeperbahn Festival. „Aber zu wissen, dass Ungerechtigkeiten existieren, ist eine gute Voraussetzung, um Dinge zu verändern.“
Panel und Preisverleihung loten Zukunft des Musikjournalismus aus
Das Credo lautet also: debattieren, fordern, anschieben, machen. Zum Glück kann ich da auch mitmischen. Die Reeperbahn Festival Konferenz hat mich eingeladen, auf einem Panel zum Thema „Trusted Transmission“ zu diskutieren. Zusammen mit den wunderbaren Kolleg*innen Dalia Ahmed von FM4, Ruben Jonas Schnell von ByteFM und Maik Brüggemeyer vom Rolling Stone Magazin. Es geht um den Status quo von musikjournalistischen Audioprogrammen. Und warum wir diesen vertrauen. Meines Erachtens führen gerade Podcasts dazu, dass viele bisher ungehörte Stimmen und Meinungen einen Raum finden. Super! Aber ich finde, dass auch bei diesem relativ jungen Medium noch reichlich Luft nach oben ist. Die Frage ist ja, welche Formate von Firmen und Sponsoren gepusht werden. Sind es die Podcasts, in denen zwei weiße Cis-Dudes ihre Fachsimpeleien ins Internet verlegen? Oder sind es Reihen und Sendungen, die verstärkt auf Vielfalt setzen?
Eine spannende Bandbreite an Arbeiten hat in diesem Jahr erneut der International Music Journalism Award, kurz IMJA, gekürt. Dankenswerter Weise war ich mit meiner Radiosendung Nachtclub Überpop zum Thema „Klangkörper Frau“ in der Kategorie Audio nominiert. Gewonnen hat die tolle Teamarbeit der öffentlich-rechtlichen Jugendsparte Funk: „Deso — der Rapper, der zum IS ging“ um Journalistin Azadê Peşmen. Herzlichen Glückwunsch! Wirklich begeistert bin ich von dem SWR-Feature „Freddie Mercury und ich – Aufbruch aus einem kommunistischen Land‟ von Renata Nasseri, das ebenfalls nominiert war. Gut 20 Minuten kompakte und eindringlich erzählte Musik- und Migrationsgeschichte aus weiblicher Sicht. Sehr zu empfehlen. Und auch mit den Publikationen der anderen Gewinner*innen werde ich mich definitiv beschäftigen. Gratulation an alle!
Arbeiten in der Musikbranche — warum?
Klar, der IMJA ist eine von gefühlt unzähligen Veranstaltungen zwischen all den Diskussionen und Konzerten, Netzwerk-Events und Receptions auf dem Reeperbahn Festival. Doch ich bin sehr froh, mit welchem Nachdruck Konferenz-Chef Detlef Schwarte seine Wertschätzung für den Musikjournalismus formuliert. Denn auch mir, die ich als Biggy Pop seit nun mehr vier Jahren selbstständig arbeite, stellt sich gerade in der aktuellen Umbruchzeit die Frage, wie ich meine Unternehmung in den kommenden Jahren gestalte. Deshalb gefällt mir auch die Gesprächsreihe am Festival-Samstag äußerst gut. Im Neo House auf dem Heiligengeistfeld befragt Journalist Yannick Niang verschiedene Businessprofis zum Thema „10 Gründe, warum du in der Musikbranche arbeiten solltest“. Ein Format, dass sich eindeutig an den Nachwuchs richtet. Dass für mich als Status-Update aber ebenfalls bestens funktioniert.
Nach vier Tagen und Nächten auf dem Reeperbahn Festival bleibt also die Frage: Warum arbeite ich in der Musikbranche? Warum verliebe ich mich immer wieder in den Job. Und den Pop. Mir kommt immer wieder dieser Song von Thees Uhlmann in den Sinn: „Sich gehen zu lassen, in Liebe und Angst / Das, was man hat, verschenken / Vom Versuch, das mit Würde zu schaffen / Denken: Für immer die Menschen“. Ich habe beim Reeperbahn Festival unglaublich viele Leute wiedergetroffen und kennengelernt. Ich bin umhergestromert und habe die Batterien aufgeladen. Wir haben geredet, geschwiegen, geschrieen. Gemeinsam in der Musik. Daher mein unbedingt hoch emotionaler Appell: Lasst uns immer wieder lernen, uns zu verlieben. Und lasst uns auch Dinge verlernen. Um Platz zu schaffen für Neues.
Audiovisuelle Eindrücke vom Reeperbahn Festival 2022 gibt es in den Highlights auf Instagram