Ein Tag vor Silvester. Der Kopf hängt halb in der Zwischen-den-Jahren-Resterkältung, halb in der Rückschau auf ein bewegtes Jahr 2018. Vor fünf Monaten habe ich mich als Biggy Pop selbstständig gemacht. Und seit fünf Monaten schreibe ich diesen Blog über Popmusik in Hamburg. Dieses ist der 44. Eintrag. Dass diese Zahl zugleich mein Alter ist, ist purer Zufall. Doch da es mir nun einmal aufgefallen ist, möchte ich es nicht unerwähnt lassen. Ich habe keine Lust, mich jünger oder älter zu machen. Warum auch?
Ich bin zutiefst der Überzeugung, dass Popkultur für alle da ist. Dass niemand bestimmte Kriterien erfüllen muss, um am guten wilden Leben teilzuhaben. Denn wenn ich auf 2018 zurückblicke, dann haben sich drei Leitsätze für mich verdichtet, die nun am Ende des Jahres in großer Leuchtschrift dastehen: Sich mit Menschen verbinden. Meine Stimme finden. Offenheit üben.
2018: Orientieren, Dynamik und reden, reden, reden
Die erste Jahreshälfte war geprägt vom Schritt hinaus aus der Festanstellung. Von Durchatmen und Orientieren. Von Seminaren und Formularen. Von Ideen und Aufbau. Und von dem Lernprozess, das Gefühl des Transits und der Unsicherheit als Teil der neuen Freiheit zu verstehen.
In der zweiten Jahreshälfte erhöhte sich die Dynamik: Die eigene Arbeit anbieten. Die Aufregung erster freiberuflicher Aufträge. Sich ausprobieren. Mutig sein. Zwischendurch innehalten und einfach nur erschöpft auf dem Sofa liegen, um all das Neue sacken zu lassen. Dann: „Immer weiter durchbrechen.“ Dinge verwerfen und Prioritäten setzen. Einen Rhythmus finden. Und vor allem: reden, reden, reden.
Ob als Journalistin, Texterin, Dozentin oder DJ – 2018 ist für mich beruflich definitiv das Jahr der Kommunikation. Ich bin sehr dankbar, mich mit so vielen verschiedenen musikpassionierten Menschen austauschen zu können – von der Studentin bis zum alten Pophasen. Ich durfte viele Künstlerinnen und Hintergrundarbeiter, die die hiesige Szene erst so richtig knallschillernd machen, neu oder anders kennenlernen. Kontakte entstanden oder vertieften sich.
Wer hat denn hier die Coolness gepachtet?
Kaffees, Biere und Schnäpse wurden getrunken. Und Themen gewälzt. Etwa über den Wandel des Musikjournalismus. Meiner Ansicht nach ist die emotionale und leidenschaftliche Verbundenheit, die Pop erzeugen kann, ein Schlüssel, wie das Genre in Zukunft bestehen kann. All die Fans da draußen wollen meiner Meinung nach beherzten, detailverliebten, nerdigen, schrulligen, kritischen, hintergründigen Austausch und Input über Musik. Aber nicht von oben herab. Wer hat denn hier die Coolness gepachtet? Niemand. Thank god!
Es geht um Teilhabe. Darum, sich zu verbinden in Musik. Zustände zu beschreiben, zu reflektieren, zu hinterfragen, zu prognostizieren, zu ironisieren und zu überhöhen mit Pop. Auf meinem Blog versuche ich nach wie vor herauszufinden, wie das funktionieren kann. Ich suche meine Stimme. Und ich freue mich zutiefst, wenn Menschen mitlesen und sich womöglich inspiriert fühlen, hinauszugehen, mitzumischen, sich zu verbinden, laut zu sein, leise zu fühlen, quer- und nachzudenken.
Eine verpeilte Geschichte
2018 ist das Jahr, in dem die immense Bedeutung eines respektvollen Miteinanders gesellschaftlich noch einmal besonders heftig spürbar wurde. Und wie sehr ich mir in Sachen Offenheit immer und immer wieder amtlich an die eigene Nase fassen darf, ist mir bei einem kleinen Erlebnis aufgegangen. Es ist keine große tragische Geschichte, eher eine kleine verpeilte, die jedoch nachschwingt.
Für den 29. September stand ich auf der Gästeliste für das Konzert der Berliner Indierocker Von Wegen Lisbeth in der Großen Freiheit. Ich war am Nachmittag bei der antirassistischen Parade am Hafen gewesen. Und nach einem Essensstopp in der Kleinen Pause in der Wohlwillstraße eilte ich mit einer Freundin kurz vor knapp zum Club auf den Kiez. Die freundliche Frau an der Kasse fand mich nicht auf der Liste, ließ uns aber nach kurzer Rücksprache mit dem Veranstalter netter Weise hinein.
Wir schoben uns durch den Raucherraum bis nach vorne. Und als ich gerade noch überlegte, warum da wohl ein Didgeridoo auf der Bühne stand, kam die Band bereits auf die Bühne. Statt schmächtiger Indieboys trat da allerdings ein tätowierter Surfertyp in Tarnlatzhose und mit Zopfduttfrisur ins Rampenlicht. Der Saal: ausverkauft. Die Menge: euphorisiert. Wir: perplex.
Rasches Googeln ergab: Wir waren im falschen Jahr. Von Wegen Lisbeth soll am 29. September 2019 in der Großen Freiheit spielen (we got a date!). Das Konzert war halt nur mit sehr sehr langem Vorlauf angekündigt worden. An diesem Abend trat der australische Songwriter, Sänger und Multiinstrumentalist Xavier Rudd mit seinem Ethnopop auf.
„Who am I to judge?“
Als Journalistin war ich bereits bei vielen Konzerten, die nicht unbedingt meinem individuellen Geschmack entsprechen. Die ich dann danach beurteile, ob der Auftritt dem Genre entsprechend gut ist. Ob etwas überspringt.
Doch so unerwartet und unvorbereitet in eine Situation zu stolpern, hat mit noch einmal auf einer anderen Ebene erwischt: Ich fühlte mich ertappt. Denn kurz hatte ich den Impuls, nicht nur über mich selbst zu lachen, sondern auch über den Künstler. Der sah aus wie ein Abziehbild des ökologisch bewegten Weltenretters. Also wie ein Klischee. Aber das sind viele Indierockkids natürlich auch. Und wie heißt es im Englischen so schön: „Who am I to judge?“
Wildcard für die Popkultur
Das Publikum sang inbrünstig seine teils von Aborigines inspirierten Songs mit. Und sie lauschten aufmerksam Rudds Botschaften von Love, Peace and Understanding. War das nicht genau das, wofür ich kurz zuvor demonstriert hatte? Nun nur eben – aus meiner Sicht – uncooler verpackt?
Leicht beschämt beschloss ich, mich fortan noch mehr aus meinem Dunstkreis hinausbewegen zu wollen. Wie wäre es zum Beispiel, einmal im Monat den Programmteil der „Szene Hamburg“ zu nehmen, mit dem Finger hineinzustechen und sich so seine eigene Wildcard in Sachen Popkultur zu basteln? Wie wäre es, sich insgesamt im Leben noch mehr verwirren und überraschen zu lassen?
Der gute Vorsatz: mehr Durchlässigkeit
Rückblickend bin ich – nicht zuletzt als große Freundin von Zeitreisefilmen und -serien – begeistert davon, dass ich mich so verschoben fühlen durfte. Wann geschieht das denn noch in unserer überinformierten, durchgoogelten Welt? Daher lautet einer meiner Vorsätze für 2019: Die (eigenen) Grenzen noch durchlässiger machen.
Und, ach ja, wer in diesem Blogpost die obligatorischen Bestenlisten vermisst: Für das Internetradio Byte FM habe ich meine Top Ten an Alben und Songs des Jahres notiert. Kaum abgeschickt, fielen mir natürlich sofort weitere Künstlerinnen und Musiker samt ihrer Werke 2018 ein, die ebenfalls grandios sind. Alles kann immer nur Bestandsaufnahme sein. Denn alles ist im Flow, im Groove. In diesem Sinne: Keep on und kommt gut rein ins Neue!