Vier Tage Reeperbahn Festival sind vorüber. Und all die erlebten Konzerte, aber vor allem all die Begegnungen rotieren in mir. Bei der 14. Ausgabe der stetig wachsenden Hamburger Clubsause ging es für mich diesmal vor allem um eines: Kommunikation. Wenn, wie in diesem Jahr, mehr als 50.000 Popfans und darunter 5900 Konferenzteilnehmer zu Konzerten, Kunstprogramm und Diskussionsrunden zusammenkommen, stellt sich ganz automatisch die Frage: Wie tauschen sich all diese Menschen aus?
Der Einstieg in diese gesprächsintensive Welt namens Reeperbahn Festival war für mich ein Termin, der gar nicht auf dem offiziellen Programm stand: das Nett-Working des Labels Euphorie, der Booking-Agentur Koralle Blau, des Clubs Uebel & Gefährlich sowie weiterer blitzgescheiter Musikakteure aus Hamburg. Was kann einer Großveranstaltung eigentlich Besseres passieren, als dass sich die wirklich coolen Kids an die Sache ranhängen? Solche Off-Aktionen adeln meiner Ansicht nach jedes Mainstream-Event.
Reeperbahn Festival: vieles in Bewegung gekommen
Das Nett-Working-Team hatte im Guerilla-Style vor den Kiosk an der Reeperbahn Nr. 5 geladen. Als ich dort am frühen Nachmittag ankam, war der Bürgersteig bereits voller munter plaudernder Leute. Ich brauche immer einen Moment, um mich an solch große Ansammlungen zu gewöhnen. Aber die Gastgeber haben alle Eintreffenden so herzlich willkommen geheißen, dass der Übergang wirklich leicht fiel. Das ist für mich eine enorme Qualität: Kontakt aufbauen. Einander wirklich wahrnehmen. Menschen in Verbindung bringen. Und dann war da noch: Sonne. Ein erstes Alster. Und ein zweites. Offene Gesichter. Und sehr lustige Unterhaltungen.
Für mich ist bei diesem Reeperbahn Festival vieles in Bewegung gekommen. Sowohl persönlich als auch inhaltlich. Den größten Einfluss hatte meiner Ansicht nach die internationale Initiative Keychange, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt: Bis 2022 sollen ebenso viele weibliche, trans- und non-binäre Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen musizieren, singen, reden, ausrasten und sich zeigen wie Männer.
Keychange und die Folgen
Aus verschiedenen Gründen stand ich einer Quotenregelung lange Zeit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Geht es nicht um die Musik an sich, unabhängig von wem sie kommt? Und liefert eine 50/50-Regelung nicht all den Gestrigen noch mehr Argumente, dass eine Frau dann eben nur aufgrund der Statistik und nicht wegen ihrer Qualifikation dort steht, spielt, spricht?
Wie sich das Reeperbahn Festival in den vergangenen Jahren entwickelt hat, ist jedoch ein äußerst gutes Beispiel dafür, dass eine Quote zu Hundert Prozent sinnvoll ist als Übergangslösung hin zu einer ganz selbstverständlichen Gleichberechtigung. Was für ein Segen, wenn sich Pop derart ausdrücklich mit gesellschaftlich wichtigen Prozessen verbindet. Mich persönlich hat es extrem inspiriert, bei der Eröffnungsveranstaltung engagierte und empathische Ladies wie Charlotte Roche, Peaches und Kate Nash zu erleben. Der Tonfall ändert sich. Die Themen ebenso. Auch in all den Gesprächen, die ich im Laufe des Reeperbahn Festivals geführt habe.
Der Festival Award Helga: vehementes Querdenkertum
Noch nie habe ich mich in so kurzer Zeit mit so vielen verschiedenen Menschen geballt und kontrovers über Gleichberechtigung ausgetauscht: Wie überfällig dieser Ausgleich ist. Wie sich Männer in dieser Bewegung positionieren. Und dass „Frauenmusik“ bitte ein für allemal wirklich kein eigenes Genre ist. The times they are a-changin’. Und wie das nun mal so ist bei aufbrechenden Strukturen: Die Kommunikation gestaltet sich in diesem Prozess mitunter ebenfalls durchaus eruptiv. Zu erleben war das unter anderem bei der Verleihung des Festival-Awards Helga am Donnerstag im Imperial Theater.
Ich war in diesem Jahr Teil der Jury für die Kategorie „Inspirierendste Festivalidee“. Gewonnen hat das alínæ lumr, das in der ostdeutschen Provinz mit einem bunt-diversen Programm gegen kulturelle Ödnis und braune Versumpfung ansteuert. Das vehemente Querdenkertum des alínæ lumr-Teams zeigte sich auf der Bühne überdeutlich: Jene, die den Preis entgegennahmen, merkten mit Nachdruck an, dass doch zwei Frauen im nächsten Jahr den Award moderieren könnten. Die beiden Gastgeber Carsten Schumacher und Bernd Begemann, die den Helga auch in diesem Jahr mit gewohnt anarchischer Euphorie angeschoben haben, reagierten erst einmal sichtlich und hörbar verdutzt. Keine angenehme Situation.
Mir erschien das ganze Szenario wie eine Familienfeier, bei der einiges Ungesagte auf den Tisch kommt: Das anfangs gut gelaunte Fest kippt in den Konflikt, geht aber dennoch weiter. Ob Provokation das Mittel der Wahl sein muss, sei dahingestellt. Und vor allem der teils harsche Tonfall hat mich noch nachdenklicher gestimmt, wie Menschen miteinander umgehen. Und inwiefern die Aggressivität so mancher Diskussion in den sozialen Medien auch vor der eigenen Filterblase sowie dem realen Leben nicht halt macht. Aber langfristig betrachtet kann durch das Tohuwabohu bei den Helga Awards ja durchaus eine konstruktive Kraft entstehen. Ich bin gespannt darauf.
Bausa statt Foals: Die Schonfrist ist vorbei
Kommunikation kann immer wieder auch schief laufen. Gerade, wenn so viele unterschiedliche Akteure beteiligt sind. So rief es enorme Verwunderung hervor, dass auf der Warner-Nacht am Freitag nach dem krankheitsbedingten Ausfall der Band Foals als Ersatz der Rapper Bausa auftrat. Dessen teils heftig sexistische sowie homophobe Texte laufen der Botschaft der Keychange-Initiative diametral entgegen. Die Kollegen von Kaput — Magazin für Insolvenz und Pop haben auf Facebook eine Aussage des Reeperbahn Festivals veröffentlicht. Das Festival-Team erklärt: Sie halten es für einen Fehler, dass Bausa in der Warner Music Night auftritt.
Das Statement besagt weiter: „Bausa wurde von Warner Music nach der kurzfristigen Absage der Indie-Band Foals ohne Rücksprache mit uns oder dem Team des Docks als Spielstätte nachträglich in das Line-Up der Warner Music Night genommen. In der vergangenen 14-jährigen engen Zusammenarbeit mit Warner Music wurden wir bislang in die Auswahl aller Künstler*innen einbezogen. Eine Vorgehensweise wie diese hätten wir uns trotz der Kurzfristigkeit auch für diesen Künstler gewünscht.“ Dass sich das Reeperbahn Festival derart ausdrücklich gegenüber einem Majorlabel und wichtigen Partner positioniert, finde ich überraschend — und stark. Die Schonfrist ist definitiv vorbei.
Clubkultur als Basis: „Molotow must stay“
All diese Prozesse können auf dem Reeperbahn Festival jedoch nur in Gang kommen mit all den grandios arbeitenden Clubs als Grundlage. Das Molotow wählte seine ganz eigene Art der Kommunikation: über Buttons und Aufkleber, die das Team eifrig verteilte. Leider ist der Slogan „Molotow must stay“, der während der Diskussion um die Esso-Häuser entstand, auch am Standort Nobistor wieder aktuell. Steigende Mieten bedeuten eine extrem unsichere Zukunft für das weit über Hamburg hinaus bekannte Zuhause von Indie und Rock.
Was tun? Das Molotow selbst empfiehlt zunächst: „Geht mehr auf Konzerte. Kauft Merch und versucht so, eine vielfältige Clubkultur am Leben zu erhalten. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Molotow, sondern für alle Subkultur-Clubs, die aktive Newcomer-Förderung und spannende Programme abseits des Mainstreams auf die Beine stellen.“ Denn im Endeffekt sind mit dem (nach wie vor) vielfältigen Programm in Hamburg jeden Tag Entdeckungen wie auf dem Reeperbahn Festival zu machen.
Welche Band fandest Du am besten — und warum?
Das ist natürlich integraler Bestandteil des Reeperbahn Festivals: All die Gespräche mit Freunden über Musik. Welche Band fandest Du am besten — und warum? Mich haben unter anderem die Niederländer Feng Suave mit ihrem traumwandlerischen Softrock fasziniert: Die Band spielte ihre Instrumente einfach mit einer unglaublich feinsinnigen Chemie. Wie beglückend sich Stimmen ineinander verweben und aneinander reiben können, durfte ich bei Ider im Häkken erleben. Und der Australier Dobby hat mit seinem frischen Old-School-Rap einfach extrem toll mit dem Publikum kommuniziert. Flow auf und vor der Bühne.
Das Reeperbahn Festival ist ein Driften durch musikalische und emotionale Zustände. Dahinschmelzen bei Celeste im Imperial Theater. Weinen bei Anna Ternheim in der Elbphilharmonie. Staunen bei The Hormones im Nochtspeicher. Und Ausrasten zu Rebecca Lou im Indra.
Panels moderieren: „30 Years Of Wacken“
Am Donnerstag habe ich dann zum ersten Mal den Seitenwechsel vollzogen und saß selbst auf der Bühne, um zwei Panels zu moderieren. Und, was soll ich sagen: Es hat unfassbar viel Spaß gemacht. Mit den Festivalgründern Thomas Jensen und Holger Hübner sprach ich im gut gefüllten Schmidtchen über „30 Years Of Wacken“. Mich beeindruckt immer wieder, wenn Menschen mit einer gewissen Punk-Attitüde mit Projekten anfangen und diese dann leidenschaftsgetrieben wachsen. Dieses Machen und Tun, so erzählte Holger, sei nach wie vor das beste Prinzip. Sprich: Planen und Reflektieren gehören natürlich dazu, aber letztlich muss irgendwann das Ausprobieren folgen.
Das Gespräch habe ich nicht alleine geführt, sondern gemeinsam mit Jon Chapple vom britischen Musikbusinessmagazin IQ. Und das ist ein weiterer Effekt des Reeperbahn Festivals und seiner angegliederten Konferenz: Fachleute aus der ganzen Welt kommen zusammen, reden miteinander, arbeiten gemeinsam. Besonders gefreut hat mich, dass Jon beim International Music Journalism Award des Reeperbahn Festivals zum besten Musikbusinessjournalisten gekürt wurde. Herzlichen Glückwunsch!
Session zu Online-Marketing von Live Events
Mein zweites Panel in einer Suite des Onyx Hotels drehte sich um „Concerts, Content & Communication“, also um Strategien in der digitalen Kommunikation und im Online-Marketing von Live Events. In die Runde konnte ich auch diverse Anregungen aus der Music Business Summer School einbringen, die dem Reeperbahn Festival vorgelagert ist. Ich bin nach wie vor begeistert, wie klug das Konferenz-Team das Panel zusammengestellt hat.
Meine Fragen gingen an Festival-Profi András Berta aus Ungarn, PR-Stratege Thomas Bohnet aus München und Marketing-Experte Moritz Bremer von Neuland Concerts. Eine beruhigende Erkenntnis aus der Session kam von András: Trotz all der Datenanalyse im Online-Bereich sei die Kommunikation im Live-Bereich nach wie vor ein People’s Business. Sprich: Reden hilft nach wie vor. Thank god!
Magische Momente mit Peaches, Kate Nash und Alyona Alyona
Und dann gab es beim Reeperbahn Festival noch diese magischen Momente, die das Zwischenmenschliche feiern. Jede und jeder wird da seine ganz eigene Geschichte erzählen können. Für mich war es der Moment, als die Jury beim Anchor Award gemeinsam Bowies „Moonage Daydream“ spielte — und Peaches zusammen mit Kate Nash auf einmal ins Publikum stürmte.
Die beiden suchten sich ausgerechnet unsere Sitzreihe aus, um mitten in der Menge ein Arme wedelndes Happening zu starten. Als Peaches auf mich zukam, fühlte ich mich wie ein fünfjähriges Kind, an dessen Geburtstag gerade eine riesige tolle Torte hereingetragen wird. Als sie dann direkt neben mir zur Party animierte, schwankte meine Mimik munter zwischen OMG OMG OMG und Honigkuchenpferdgrinsen.
Und das Empowerment riss nicht ab: Die ukrainische Rapperin Alyona Alyona gewann den Anchor Award. Eine Persönlichkeit, die im positiven Sinne mehrfach Grenzen überschreitet. Die mit ihren Lyrics nicht auf Nummer sicher geht. Und gerade deshalb zum Austausch anregt. Also: Lasst uns weiter reden. Und natürlich Musik hören.