Miu mit „Modern Retro Soul“: Sängerin und Strippenzieherin

Es gibt diesen einen prägnanten Satz auf dem neuen Album von Miu, der in mir direkt auf Heavy Rotation gegangen ist. Das liegt zum einen daran, dass der Song dazu einfach ungemein cool und beschwingt ins Herz hineinspaziert. Mit tänzelnder Orgel, pointierten Bläsersätzen und Mius lässig schillerndem Gesang.

Zum anderen erfasst dieser Satz aber auch bestens den künstlerischen Kosmos, den die Hamburger Musikerin um sich herum geschaffen hat. „I am working so hard / to make it look easy“, singt Miu auf ihrer dritten Platte „Modern Retro Soul“, die diesen Freitag erscheint. 

Wer bringt heutzutage denn noch ein Doppelalbum heraus?

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alle Fotos von Zauke Photography

Oh ja, was hat diese Frau hart gearbeitet, um etwas wirklich Großes und Poetisches zu erschaffen. Wer bringt heutzutage denn noch ein Doppelalbum heraus? Und das dann auch noch als Independent-Künstlerin ohne Plattenfirma im Rücken? „Sing doch auf Deutsch“. Oder: „Veröffentliche doch lieber nur Singles nacheinander“. Allen Vermarktungstipps zum Trotz hat Miu ihr Ding durchgezogen. Und das mit Hilfe ihrer Fans, ihrer Freunde und ihrer ganz besonderen Energie. 

Ich habe Miu vor fünf Jahren bei einem Interview kennengelernt, das wir in ihrer damaligen Wohnung in Eidelstedt geführt haben. Ihre Katzen streiften ums Klavier. Und Marilyns Konterfei grüßte von der Wand. Damals hat mich Mius Charisma sofort angesteckt. Eine verspielte Ernsthaftigkeit. Augenzwinkernd und zugleich klar im Gespräch. In Musik und Stil wiederum verkörperte Miu für mich immer schon die Symbiose aus alter Seele und frischem Wind, aus old school und Zeitgeist.

Und das ist genau die Bandbreite, die sie auf „Modern Retro Soul“ wagt. Ihr Sound speist sich deutlich hörbar aus einer immensen Liebe für Ikonen des Soul, Jazz und Blues. Sie umarmt aber zugleich aktuelle Einflüsse von Pop bis Indierock.  Ella Fitzgerald trifft auf die Black Keys, Diana Ross auf Alabama Shakes. 

Miu, Sängerin und Songschreiberin, Geschäfts- und Do-It-Yourself-Frau

Da ist zum Beispiel „9 Lives“. Eine dunkel vibrierende Selbstbehauptungshymne, die einen mit sattem Beat und Twist auf die Tanzfläche zieht. Und mindestens neun Leben scheint Miu tatsächlich zu haben. Sie ist nicht nur Sängerin, Songschreiberin und Komponistin. Sie ist zugleich Geschäfts- und Do-It-Yourself-Frau, Labelbetreiberin und Alle-Strippen-Zieherin — etwa, wenn es darum geht, „mal eben“ Drehs für ihre Videos in Paris oder Spanien zu organisieren.

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Zudem ist Miu leidenschaftliche Lobby-Arbeiterin: Mit Ladies.Artists.Friends. holt sie künstlerische Komplizinnen auf die Bühne. Bei RockCity, dem Hamburger Zentrum für Popularmusik, engagiert sie sich für fairere Bedingungen im Musikschaffen. Und bei der Hamburg School of Music gibt sie ihr Know-how als Dozentin weiter. Da ich als Selbstständige selbst ständig viele Bälle parallel in der Luft zu halten habe, inspirieren mich derart zupackende Menschen immer sehr. 

„Fuck You Very Much“, munter-wütender Abgesang auf die Musikbranche

Ihre Festanstellung als Marketing-Expertin in einer Werbeagentur hat Miu längst gekündigt, um sich mit Haut und Haaren ihrer Kunst zu widmen. Sicherheiten derart konsequent loszulassen, bedingt ja immer auch, sich seinen eigenen Ängsten zu stellen. Und dieser Mut, diese Lebensklugheit klingen in vielen ihrer aktuellen Songs an. Etwa in „Moving Out“. Ein Aufbruchssong, der bluesig brodelt. In dem die Gitarren spannungsgeladen verzerren. Und in dem Mius Stimme trotzig strahlt. 

Miu, Modern Retro Soul, Album, Cover, Music, record, Porträt, Singer, Soul, Jazz, HamburgSehr gut gefällt mir ebenfalls „Fuck You Very Much“. Ein munter-wütender Abgesang auf die Musikbranche und all ihre vermeintlichen gut gemeinten Ratschläge: „Nimm doch lieber zehn Kilo ab, dann bist du bestimmt erfolgreicher“. Oder: „Wir können dich nicht bezahlen für dein Konzert, aber dafür bekommst du ja die Aufmerksamkeit.“

Miu konnte es nicht mehr hören und hat lieber ihre Community mobilisiert. Mittels Crowdfunding hat sie mehr als 22.000 Euro für die Produktion von „Modern Retro Soul“ akquiriert. Als Dankeschön warten nun selbst gestrickte Mützen und Wohnzimmerkonzerte auf ihre vielen Sponsoren. 

Musikerinnen wie Amanda Palmer machen es derzeit eindrucksvoll vor, dass sich im Pop jenseits von gängigen Strukturen neue Finanzierungswege erschließen lassen. Palmer lässt sich nach einem Mitgliederprinzip von ihren „Patrons“ langfristig bei Projekten fördern. Das bedeutet im Umkehrschluss vor allem: eine intensive Interaktion mit der eigenen Community.

Neu justieren, dem eigenen Sound nachspüren

Auch Miu tauscht sich auf vielen verschiedenen Ebenen mit ihren Fans aus. Über Social Media und in ihrem eigenen Podcast „Modus Miu“ erzählt sie regelmäßig von ihren Aktivitäten rund um Album und Auftritte, etwa von den Aufnahmen zu „Modern Retro Soul“ im Studio Nord bei Produzent Gregor Henning. Und ihre Community hat auch ein Wörtchen mitzureden: Miu lässt zum Beispiel abstimmen, wie ihr Merchandise aussehen soll.

Musik auf all diesen Ebenen zu erschaffen, zu verbreiten und mit der eigenen Persönlichkeit zu beleben, ist exakt Mius Sache. Dass ist ihr in jeder Begegnung — ob nun online oder offline — deutlich anzumerken. Doch all das zu jonglieren, ist eben auch: „working hard to make it look easy“. In ihrer Minidoku zu „Modern Retro Soul“ (wann auch immer sie die noch gedreht und geschnitten hat) erzählt Miu offen von der Belastung als Berufsmusikerin dieser Tage. Dass sie sich nach ihren beiden ersten Alben erst einmal wieder neu justieren musste. Viel Musik hören. Ihrem eigenen Sound nachspüren. Um dann nach und nach Einflüsse von außen herein zu lassen.

Instrumentelle Bandbreite von Mellotron bis zu Streichern

Ihr Partner, der Musiker und Produzent Magnus Landsberg, hat sich bei „Modern Retro Soul“ ebenso eingebracht wie zahlreiche befreundete Popkünstlerinnen und -künstler, etwa Kristoffer Hünecke von Revolverheld und Ben Schadow von Rhonda, die Soloartisten Jonathan Jeremiah und Emma Longard, Songschreiberin Jim Button und Sängerin Sarajane. 

Miu, Modern Retro Soul, Album, Cover, Music, record, Porträt, Singer, Soul, Jazz, HamburgDass das Album organisch gewachsen ist, ist deutlich zu hören. Sowohl musikalisch mit einer instrumentellen Bandbreite von Mellotron bis zu Streichern, als auch inhaltlich. „Modern Retro Soul“ lotet unsere Existenz aus. Von einem düsteren Drama wie „Holy Grail“ bis zum verheißungsvollen Schmelz von „So Much More“.

„Modern Retro Soul war für mich eine Reise, bei der ich den Sinn wiedergefunden habe, warum ich eigentlich Musik mache“, sagt Miu. Ich bin wirklich gespannt, wohin ihr Weg mit dieser Platte führen wird. Und wie sie all die neuen Nummern mit ihrer Band umsetzen wird. Live habe ich Miu bereits in unterschiedlichsten Locations erlebt — vom lauschigen Gartenfest bis zur Elbphilharmonie.

Für mein Empfinden, hat Miu mit ihrem Doppelalbum auf mehreren Ebenen riesige Sprünge hingelegt. Ihre Stimme ist noch vielfältiger geworden. Erdig, verletzlich, cool, selbstbewusst, aufregend, leuchtend. Die Stücke sind feiner arrangiert, detailverliebter. Sie hat sich stilistisch geöffnet. Und ist doch umso mehr sie selbst. 

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