„Ich sehe es als unseren Beitrag an, auf die Inhalte aufmerksam zu machen, die uns wichtig sind. Dazu gehört unter anderem, das Thema psychische Krankheiten präsenter zu machen. Wir liefern keine Lösungen, aber hoffentlich einen Anstoß‟, sagt Tanja Kührer, Sängerin und Gitarristin der Kölner Indierock-Band Still Talk. Ich freue mich sehr, dass ich mich mit Tanja sowie mit Bassist Lucas Braun für meine neue Artikel-Reihe „Mein Beitrag‟ austauschen konnte. Unter diesem Titel schreibe ich auf meinem Blog über junge Popkünstler*innen und ihre Auseinandersetzung mit sozialen Themen. Und im Gespräch mit Still Talk habe ich einen gemeinschaftlichen Spirit gespürt, der weit über das Bandgefüge hinausgeht. Also weit über die reine Viererbesetzung, die durch Kevin Wößner am Schlagzeug und Michael Röhrig an der Gitarre komplettiert wird. Tanja und Lucas erzählen mir, wie um das neue Label Hithome in Köln sowie um Kevins Studio Nummerdrei eine kreative Familie gewachsen ist.
„In der Nummerdrei proben wir, nehmen auf, kochen und essen gemeinsam, hängen ab, drehen Live-Sessions und Videos. Das ist eine sehr privilegierte Situation für uns‟, erklärt Lucas. Der Ort sei eine „super starke safe zone‟. Eine offene Atmosphäre, die nicht nur produktiv beflügelt, sondern auch Raum bietet, um persönliche Schwierigkeiten anzusprechen und aufzufangen. Diese Sensibilität füreinander gefällt mir bei Still Talk extrem gut. Und dass sie zugleich die Musik nutzen, um Ängste und Wut mit Wucht zu kanalisieren. „Wir machen Ventilmusik‟, sagt Lucas. „Wir schreiben Songs, um unsere eigenen Themen zu bearbeiten. Und wenn für andere etwas Anregendes dabei herausspringt – umso besser.‟ Lyrics und Lautstärke als Befreiungsschlag. Alles muss erst einmal raus aus dem System. Meiner Ansicht nach pusten druck- wie gehaltvolle Songs nicht nur individuell die Seele durch. Auch die Gesellschaft kann derart kulturelle Katalysatoren bestens gebrauchen.
„Let It Happen‟ von Jimmy Eat World inspirierte zum Bandnamen
„Ich habe gemerkt, dass ich mich einfach sehr gut ausdrücken kann, wenn ich schnell, laut und aggressiv spiele und singe“, sagt Tanja, die mit Alternative-, Punk- und Emo-Bands sozialisiert wurde. Eine Zeile aus dem Song „Let It Happen‟ von Jimmy Eat World inspirierte dann auch zum Bandnamen: „Talk, talking a lot / but it’s still talk‟. Still Talk begann zunächst als Solo-Projekt. Tanja hatte in London und Wien Gesang studiert, bevor sie nach Köln zog. Für eine Konzertanfrage aktivierte sie Lucas am Bass und merkte dann nach und nach: „Das ist doch ein Band-Ding‟.
Zu hören ist dieses ausgeruhte Selbstverständnis auch auf der Debüt-EP mit dem sehr schönen Titel „A Short Collection of Songs About How Easily I’m Distracted‟. Einerseits nimmt sich Still Talk die stilistische Offenheit, nicht nur melodisch auf die Zwölf zu rocken. Davon zeugt etwa die Pianoballade „Nothing‟ oder das wavig driftende „Dark‟. Andererseits sind alle Songs von einer kollektiven Energie getragen. Und von einem achtsamen Blick auf die Welt. Besonders eindringlich ist das zu erleben in „60 Years‟ – einem Indie-Kracher, der es auch inhaltlich in sich hat.
„60 Years‟, eine Geschichte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts
Der Song handelt von der zerstörerischen Kraft psychischer Krankheiten. Mit den Lyrics taucht Tanja tief ein in die eigene Familiengeschichte. Um Reibungspunkte mit ihrer Mutter besser zu verstehen, hat sie sich intensiver mit deren Kindheit befasst. Mit einem ländlichen Setting. Wenig Geld. Traditionelles Rollenbild. Der Vater arbeitet hart. Und verzockt das Geld später im Wirtshaus. Die Mutter kümmert sich um Haushalt und Erziehung. In „60 Years‟ erzählt Tanja von diesem alkoholabhängigen Mann. Und von einer Frau, die ihren Frust zuhause an den Kindern ausließ. Eine Geschichte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. „Auch heutzutage finden sich noch solche destruktiven Konstellationen‟, sagt Tanja. Aber mit ihrem Song wollte sie vor allem ein Schlaglicht werfen auf eine Zeit, in der psychische Krankheiten meist überhaupt nicht als solche angesehen wurden.
„60 Years‟ ist ein Beitrag, um Themen wie Sucht und Depression zu enttabuisieren. Aber die Nummer ist auch ein Appell, sich stärker unter den Generationen auszutauschen und somit Konflikte zu klären. „Es ist nicht einfach, solche Gespräch zu führen. Aber wenn die Möglichkeit besteht, sollte man sie auf jeden Fall ergreifen. Durch die Kommunikation wird vieles leichter‟, sagt Tanja. Und Lucas ergänzt: „Ich habe das Gefühl, dass sich in der Gesellschaft gerade stark etwas ändert und offener über psychische Krankheiten gesprochen wird.‟ Die Corona-Krise habe zum Beispiel gezeigt, wie schwierig es ist, Therapieplätze zu bekommen. Und auch bekanntere Popsongs verhandelten zunehmend Themen wie Depression und Missbrauch.
Der Blick auf das Leben als Twenty-Somethings
Andere Songs von Still Talk befassen sich ebenfalls mit Aspekten von Abhängigkeit sowie mit toxischen Beziehungen. Wie sie einen lähmen („Veronica‟). Und wie sie sich überwinden lassen („Dreaming‟). Mit ihrer EP „A Short Collection of Songs About How Easily I’m Distracted“ blickt Still Talk zugleich auf die eigenen Jahre als Twenty-Somethings. „Wir haben zum größten Teil die 30er-Marke gerissen‟, sagt Tanja. „Ich würde um kein Geld der Welt noch einmal 20 sein wollen. Heute fühlt es sich an, als habe sich ein Nebel gelichtet.‟ Lucas stimmt ihr zu. „Bei uns allen war die Zeit geprägt davon, sehr wenig Geld zu haben. Wir hatten die ersten existentiellen Krisen. Und wir haben gelernt, da wieder herauszukommen. Jetzt sind wir besser gerüstet‟, erläutert Lucas. Er betont: „Das alles natürlich vor dem Hintergrund, dass wir als weiße Mitteleuropäer insgesamt privilegiert aufgewachsen sind.‟
Das „distracted‟ im EP-Titel bezieht sich zudem darauf, dass in unserer medialen Welt permanent endlose Alternativen zu existieren scheinen. Und vermeintlich optimale Versionen von allem, vor allem optisch. „In meinen Zwanzigern war das immer wieder Thema: Wie fühle ich mich in meinem Körper? Wie sehe ich aus? Ab 30 fühle ich mich nicht mehr so leicht beeinflussbar und vergleiche weniger‟, sagt Tanja. Still Talk nutzt die visuelle Ebene wiederum stark, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Das Video zu „Veronica‟ etwa zeigt ein grandioses Jugendzimmer-Ambiente, in dem neben Postern von Ricky Martin und Winona Ryder auch politische Statements zu entdecken sind. „Go vegan‟ und „FCK AFD‟ ist da auf Stickern zu lesen. Und der Clip zu „60 Years‟ ist mit Schriftzügen versehen, die über sogenannte Qualzuchten bei Haustieren aufklären.
„Um soziale Veränderung zu bewirken, reicht der reine Song nicht aus‟
„Tierschutz und Tierwohl sind uns sehr wichtig. Wir leben alle vegan‟, erklärt Tanja. Eine Wechselwirkung zwischen Pop und Gesellschaft ist für sie stark an konkretes Handeln gebunden, wie es in Szenen und Subkulturen entsteht. „Künstler*innen können eine kraftvolle Identifikation bieten für eigene Themen oder Lebenslagen. Aber um soziale Veränderung zu bewirken, reicht der reine Song nicht aus. Da gehört auch Aktivismus dazu‟, erläutert die Musikerin, die früher in Österreich viel in der Hardcore- und Straight-Edge-Szene unterwegs war. „Da siehst du dann heftig tätowierte Typen, die vegane Muffins mit zum Konzerten bringen. Das fand ich spannend.‟
Auch Lucas ist der Meinung, dass Musik allein „nicht der große Revolutionstreiber‟ sei. Aber, so erläutert er: „Wir alle sind mit politischer Musik sozialisiert und kommen aus unterschiedlichen Punk-Richtungen. Dementsprechend haben wir alle die Erfahrung gemacht, dass Musik großen Einfluss auf die Charakterbildung haben kann.‟
„Mein Beitrag‟ Teil 1: Dunya aus Hamburg
„Mein Beitrag‟ Teil 2: K.ZIA aus Berlin