„Was ist gut, was ist schlecht? Wodurch definieren sich Normen und Moralvorstellungen? Mit meinen Texten stoße ich immer wieder auf diese Fragen‟, sagt die Sängerin, Songschreiberin, Produzentin und Konzeptkünstlerin Mulay. Mit ihrer Musik, aber auch in Videos, Mode und Performances taucht sie tief unter die Oberfläche. In Abgründe der Psyche. Sie erkundet komplexe Emotionen zwischen Scham und Schuld. Zugleich sucht sie aber auch positive Wege von Selbstliebe bis Solidarität. Ich bin sehr froh, dass ich mit Mulay für die Artikel-Reihe „Mein Beitrag‟ gesprochen habe. In diesem Projekt schreibe ich über junge Popkünstler*innen und welchen Input sie in unsere Gesellschaft hineingeben. Bei Mulay fasziniert mich, dass ihr Beitrag zum sozialen Miteinander subtil und gerade deshalb umso eindringlicher ist. In ihren untergründig brodelnden Grenzgängen zwischen RnB, Electronica und Pop lotet sie aus, welche unterschiedlichen Mächte innerhalb einer Person wirken. Ihr Credo: „Es gibt immer mehrere Perspektiven‟.
„Ich brauche Emotionen, die sich nicht wie aus dem Supermarkt anfühlen‟
Mulay wuchs in München auf, studierte Jazz und Pop in Arnheim, bevor sie schließlich nach Berlin zog. 2021 veröffentlichte sie bei Grönland Records ihre Debüt-EP „Antracyte‟, auf der sie sehr persönliche Erfahrungen verarbeitet hat. Trennung, Betrug, Leidenschaft und Selbstermächtigung. Mit ihren intensiven Seelenforschungen zeigt sie uns, dass das Komplizierte oftmals alles andere als angenehm ist. Aber dass es elementar zu uns gehört. Mulays Musik hilft dabei, das Dunkle anzunehmen. Sie habe sich nie „als Crusader‟ gesehen – im Sinne von „das ist meine Aufgabe, diese Lücke will ich füllen‟. Ihre Kunst und auch die damit einhergehenden Impulse seien organisch gewachsen. „Am wichtigsten ist es mir, mich ehrlich und ungefiltert ausdrücken zu können. Ich brauche Emotionen, die sich nicht wie aus dem Supermarkt anfühlen, sondern real. Auch wenn es sich um Gefühle handelt, die man eigentlich lieber nicht promoten möchte.‟
Das unbedingte Streben nach Authentizität ist bei Mulay keine bloße Behauptung, sondern so etwas wie ein Lebenselixier. Schreibend erschließt sie sich die Welt. „Ich bin ein Mensch, der ständig schreibt‟, sagt sie. Nicht immer wird dieser Output unmittelbar verwertet. Mal entsteht ein Gedicht, mal ein Abschnitt in Prosa. Doch all diese Worte, Schichten und Ebenen bilden letztlich die Grundlage für ihre Songs. Etwa für den Titeltrack „Antracyte‟. In der Nummer erzählt sie vom Fremdgehen. Vom Verrat in einer Beziehung. Mulay erkundet die verschiedenen Facetten dieses Handelns. Den gesellschaftlich negativ bewerteten Akt der Untreue. Aber auch die selbstbestimmte Seite, als Frau die eigene Sexualität auszuleben.
Spiel mit und Befreiung von kulturell tief verankerten Stereotypen
„Wir gehen in so vielen unterschiedlichen Rollen durch diese Welt. Als Partner, aber auch in Beziehung zu sich selbst‟, erläutert Mulay. Schuld und Reue einerseits sowie Empowerment und Freiheit andererseits – in „Antracyte‟ verdichtet sie diese widersprüchliche Gemengelage zu einem spannungsgeladenen Song. Auch in Stücken wie „Phoenix‟ und „Medusa‟ spielt Mulay mit kulturell tief verankerten Stereotypen und befreit sich zugleich von diesen.
Besonders stark finde ich, wie Mulay all die zutiefst menschlichen Paradoxien auch visuell umsetzt. Im Video zu „Antracyte‟ ist sie in einem Kellergewölbe zu sehen. Erst wie in sich gefangen. Dann tanzend. Und zum Schluss verbrennt sie. Gekleidet ist sie dabei in ein knallrotes und extravagant gewölbtes Outfit der Berliner Designerin Naomi Tarazi. „Beim Musikmachen entsteht meistens schon eine optische Idee‟, erklärt Mulay. Bei „Antracyte‟ war es das Bild der Hexenverbrennung. Letztlich veranschaulicht sie mit dieser eindrücklichen Szene eine doppelte Verurteilung. Zum einen den Selbsthass, der auf die eigene Untreue folgt. Zum anderen die gesellschaftliche Verurteilung, die nach wie vor insbesondere Frauen trifft, die ihre Sexualität selbstbewusst und auch mit einer gewissen Aggressivität ausdrücken.
„Es ist ja eigentlich total seltsam, das Innerste mit der Welt zu teilen‟
„Mir ist es wichtig, in dem Video eine Dualität zu zeigen. Einerseits ist die Frau ein Opfer, das verbrannt wird. Andererseits ist sie aber auch kraftvoll, denn sie akzeptiert ihr Schicksal und holt sich so ihre Macht zurück‟, führt Mulay aus. Am Ende entzündet sie sich sogar selbst. Ganz ruhig schaut sie da nach vorne. Ein Blick, der sagt: „Ihr könnt mich nicht verurteilen. Ich nehme meinen Weg mit Stolz an, da ich ihn selbst gewählt habe‟. Für Mulay lassen sich derart tiefgreifende und komplizierte Prozesse beim Schreiben besser verstehen. Und ihre Songs geben ihr zudem die Möglichkeit, mit Abstand auf herausfordernde Lebensphasen zu blicken. „Wenn ich die Stücke live auf der Bühne performe, heißt das nicht, dass ich emotional immer wieder in schmerzhafte Erinnerung zurückgestoßen werde.‟ Vielmehr erkennt Mulay in der künstlerischen Rückschau ihr eigenes Wachstum. Als schaue sie alte Fotos an. Mit dem Wissen, dass sie sich weiterentwickelt hat.
Mulay praktiziert eine Form von Emanzipation, die nicht der simplen Aufmerksamkeitsökonomie von Top oder Flop folgt, sondern sich in schillernden Schattierungen offenbart. In „Incomplete‟, einer Arbeit mit dem Berliner Produzenten LLUCID, erzählt sie davon, sich als Mensch zu verausgaben und zu veräußern. Und in die Lyrics zieht sie erneut verschiedene Ebenen ein. Zum einen verhandelt sie die Suche und Sucht nach körperlicher Bestätigung in einer Beziehung. Zum anderen spielt sie aber auch auf ihr kreatives Schaffen an. „Es ist ja eigentlich ein total seltsamer Drang, als Künstlerin das Innerste mit der Welt zu teilen, auf eine Bühne zu gehen und vor Fremden über dunkelste Zeiten zu singen.‟
Die Wechselwirkung von Musik und Gesellschaft nicht unterschätzen
Die Vielschichtigkeit einer künstlerischen Existenz zeigt sich auch in Mulays Veröffentlichungskonzept. Während sie auf „Antracyte‟ eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt erzählt, wird ihre in diesem Jahr erscheinende zweite EP optimistischere Nuancen zeigen. Als Gegenstück zum Debüt. Von den Grautönen ins Licht sozusagen. „Wenn du einschneidende Erfahrungen gemacht hast, fängt die Arbeit erst richtig an. Dieses große Wort Selbstliebe ist ein lebenslanger Prozess‟, erklärt Mulay, die sich auf ihrem Instagram-Account als „half human half dragon‟ charakterisiert. Es geht um Polarität, immer wieder.
Als Mensch mit japanischen Wurzeln in Deutschland aufzuwachsen, habe sie definitiv geprägt. Ein Gefühl von Außenseitertum führte dazu, genauer hinzuschauen. „Woher komme ich? Wie funktioniert Gesellschaft? Dass ich anders aussehe, hat mich immer wieder dazu angeregt, solche Fragen zu stellen‟, erläutert Mulay. Die Wechselwirkung von Musik und Gesellschaft sollte man ihrer Ansicht nach nicht unterschätzen. Sowohl im Negativen, zum Beispiel für Propaganda, als auch im Positiven, etwa in Hinsicht auf soziale Bewegungen. Allerdings, so merkt sie an, finde der Einfluss von Pop derzeit eher im Mikrokosmos satt. Allein aufgrund der Art und Weise, wie Musik mittlerweile konsumiert wird. Dennoch bleibt sie zuversichtlich und setzt auf eine Art Schmetterlingseffekt. „Wenn Musik einzelne Menschen auffangen kann, zum Beispiel unter dem Aspekt von Mental Health, ist bereits viel gewonnen. Denn ich will hoffen, dass sich das multipliziert.‟
„Mein Beitrag‟ Teil 1: Dunya aus Hamburg
„Mein Beitrag‟ Teil 2: K.ZIA aus Berlin
„Mein Beitrag‟ Teil 3: Still Talk aus Köln