„Endlich mal wieder…“ Diese Formulierung höre und lese ich dieser Tage häufig. Viele erobern sich nach der ersten Corona-Welle kleine Freiheiten zurück. Mit Aktivitäten, die vor vier Monaten noch ganz normal gewesen wären. Einen Drink nehmen. Kultur erleben. Nähe herstellen. Ich für meinen Teil merke, wie elementar wichtig es ist, dass die Wirklichkeit wieder normal wird. Zumindest ein Stück weit. Das eins zu eins. Geräusche. Gerüche. Gesichter in 3D.
Clubluft schnuppern lässt sich zum Beispiel hervorragend im Hinterhof des Molotow — mit Frischluft und auf Abstand, versteht sich. Im Backyard lädt das Team des Clubs in seine Outdoor-Schankwirtschaft. Ohne DJ-Sets. Aber mit sehr viel Lächeln hinter den Masken und spürbarer Freude, wieder Kontakt zum Publikum aufnehmen zu können. Es blutet mir zwar schon das Herz, dass die drei Etagen des Clubs brachliegen. Dass es dort still, leer und dunkel ist. Aber im Hinterhof des Molotow zu sitzen, lässt mich zumindest wieder anknüpfen an dieses Gefühl vom guten wilden Leben.
Prä-Corona-Erinnerungen und Zeitloch im Molotow Backyard
Erinnerungen tauchen auf, wie wir nach einem schweißtreibenden Konzert aus dem Saal nach draußen trudelten, um auszukühlen. Glänzende zerzauste Menschen, die von innen leuchten. Corona-bedingt ist nun alles ruhiger, moderater. Aber es entstehen neue Qualitäten. Der Molotow Backyard erweist sich als Zeitloch ähnlich einer Küche bei Partys. Oops! Schon vier Stunden rum? Wir reden und reden und reden und saugen dieses neue Ausgehleben auf. Und ab und an schauen wir in die Lichterketten. Und in die lange helle Juninacht.
Diese Woche ist mir besonders bewusst geworden, wie sehr ich reale Treffen vermisst habe. Ich bin Journalistin und Texterin geworden, um Menschen zu begegnen. Um mich mit ihnen auszutauschen. Um über Musik, Kultur und Politik zu reden. Und um wahrzunehmen, was zwischen den Zeilen steht. Auch wenn ich die digitalen Möglichkeiten seit Beginn der Corona-Zeit zunehmend zu schätzen weiß: Von Angesicht zu Angesicht funktioniert diese Kontaktaufnahme oft nicht nur besser, sie macht mich auch schlichtweg glücklicher. Ich bekomme Inspiration, Impulse, neuen Schwung. Endlich mal wieder.
Dieses „Endlich mal wieder“-Gefühl
In den vergangenen Tagen hatte ich diverse Besprechungen und Interviews außerhalb der eigenen vier Wände. Und dank des guten Wetters unter freiem Himmel. Bei vielen war dieses „Endlich mal wieder“-Gefühl zu spüren. Verbunden mit einer großen Dankbarkeit. Gesund sein. Die kleinen Dinge schätzen. Eitel Sonnenschein herrscht dennoch nicht. Die Pop- und Kulturbranche ist nach wie vor enorm betroffen von der Corona-Krise. Existenzen sind ebenso bedroht wie die Vielfalt der Musiklandschaft. Aber das Aufbrechen, Hinausgehen und Loslegen macht Hoffnung.
Deshalb habe ich mich extrem gefreut, diese Woche wieder Musik live zu erleben. Einmal selbst produziert. Einmal professionell im Konzert. Mit meinem geliebten Ensemble Octavers verabredeten wir uns im August-Lütgens-Park, um — auf Aerosol-Distanz — zu proben. Ein verwunschenes Stück Grün ist das da hinter dem Haus 3 in Altona. Definitiv sinnlicher als ein Zoom-Videocall. Alle gingen ihrer Dinge nach. Alte Frauen plaudernd beim Wein. Zwei Typen beim Abendbrot. Eine Kung-Fu-Klasse in dem einen Winkel, eine Pilates-Gruppe in dem anderen. Wir stellten uns unter einem der großen Bäume im Kreis, um unsere Folk-, Pop- und Countrysongs zu singen. Begleitet von unserem Sheriff Stefan Waldow an Ukulele und Melodica. Unsere Stimmen verflogen sich häufig im Rauschen der Blätter. Aber wir waren froh, uns endlich mal wieder zu sehen, zu haben, zu hören.
Das erste Konzert seit dem popkulturellen Shutdown
Am Samstag dann mein erstes Konzert seit Mitte März. Vor dem Shutdown hatte ich zuletzt die irre Sause von Deichkind in der Barclaycard Arena gesehen. Das Miniatur-Open-Air im Hinterhof des Klub.K in der Hamburger City ist nun das absolute Gegenteil zu diesem superlativen Prä-Corona-Remmidemmi. Das Betreiberduo Markus Riemann und Anne Gülck wollte es sich nicht nehmen lassen, das zehnte Jubiläum ihres charmanten Clubs zu begehen. Statt kuschelig im Innern am Steckelhörn zu feiern, haben sie nun unter freiem Himmel zwischen hanseatischen Backsteinmauern zur Corona-kompatiblen Show geladen.
Anne ist mit ihrer Agentur Bridge Gigs auf kleine feine Events spezialisiert. In den vergangenen Tagen hat sie bereits Konzerte vor dem Hobenköök im Oberhafenquartier sowie auf der Cap San Diego realisiert. Somit ist sie eine der ersten Veranstalterinnen in Hamburg, die wieder Live-Erlebnisse anbietet. Ihre Expertise für Veranstaltungen mit intimem Charakter macht sich jetzt, während der Pandemie, besonders bezahlt. 50 Leute passen in den Klub.K-Hinterhof. „Wir haben doch jetzt alle einen Jieper auf Livemusik“, sagt eine Besucherin. Stimmt. Der Abend ist ausverkauft — und zwar nicht als spontaner Walk-In, sondern mit Anmeldung und Vorkasse.
David Ost zu Mauerseglern, Kirchenglocken und Gläserklirren
Das kleine Team hat reichlich Arbeit in die Vorbereitungen investiert. Denn der Hof, der sonst Parkplätze beherbergt, hat keine veranstaltungstechnische Infrastruktur. Das heißt: Kabel verlegen. Eine improvisierte Bar errichten. Lichtstrahler installieren. Und mit reichlich Abstand Stühle aufstellen. Da sind die zehn Euro Eintritt wirklich nichts dagegen. Denn es gibt ja auch noch Musik.
Der Singersongwriter David Ost singt seelenerweiternde Songs zur akustischen Gitarre. Die Klänge fliegen die Backsteinmauern empor. Ein paar Mauersegler schreien. Die Glocke der nahen Katharinen-Kirche läutet. Und in der Ecke geht mit lautem Klirren ein Glas zu Bruch. Kleine Gesten. Beherzte Zwischenrufe. Real applaudieren (und nicht als Emoji). Absolut beglückend ist das. Willkommen zuhause.
Das Wort „Zugabe“ nicht in eine Kommentarspalte schreiben
David Ost sagt, er sei nicht so der Typ, der lange Ansagen macht. Und dann etabliert er doch eine Art Running Gag, indem er jeden Song als eine seiner Singles ansagt. „Jetzt kommt meine übernächste Single“. „Meine aktuelle“. „Meine erste Single“. „Und die kommende“. Zunehmendes Lachen seitens des Publikums. Eine Eigendynamik, die so nur live entstehen kann. Dieses Bescheidwissen einer Gemeinschaft, die im Konzert entsteht.
Sehr schön fühlt es sich zudem an, das Wort „Zugabe“ nicht wie beim Online-Streaming in eine Kommentarspalte zu schreiben, sondern es wirklich zu rufen. Und dann beim Pausenbier mit anderen über das Gehörte zu reden. Bis schließlich das große Draußen, die Natur ebenfalls mitmischen möchte. Es beginnt zu gewittern.
Wunschlieder an Wolkenbruch
Eigentlich wollte Klub.K-Betreiber Markus Riemann gemeinsam mit dem Musiker Ofield zahlreiche Wunschlieder der Anwesenden spielen. Stattdessen gibt es zweieinhalb Coversongs in strömendem Regen. Inklusive Oasis’ „Wonderwall“ mit Wolkenbruchchor. Zuhause vor dem Rechner mag es trocken sein. Aber live bedeutet eben auch: anders als geplant.
Ich freue mich jedenfalls schon sehr, noch mehr Musikern, Popkünstlerinnen und Bands wahrhaftig zu lauschen. Das nächste Mal bei den Knust Acoustics, die am 1. Juli auf dem Lattenplatz verspätet in ihre Saison starten. Endlich mal wieder.
Übrigens: Anne und Markus haben die Klub.K-Kommunity gegründet. Für einmalig 50 Euro erhalten Mitglieder viele tolle Goodies — und zugleich reichlich Karmapunkte für ihren Club-Support.