Biggy Pops Jahresrückblick 2023: dying or dancing?

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„Do I imagine myself dying or dancing?“ Diese Frage notiere ich mir Anfang dieses Jahres. Ich warte auf Biopsie-Ergebnisse. Tod oder Tanzen? Letztlich liegt die Antwort dazwischen. Ein seltener bösartiger Tumor, der erfolgreich herausoperiert wird. Zur Sicherheit mache ich im Frühjahr eine Strahlentherapie. 33 Werktage hintereinander radele ich in Hamburg ins Krankenhaus. Ich arbeite unterdessen weiter. Es lenkt mich ab. Es ist gut, aber auch notwendig. Über Kranksein im Zuge von Selbstständigkeit wird immer wieder zu reden sein müssen. Erst recht im Musik- und Kulturbereich. 

Tod oder Tanzen. Letztlich geht es für mich — losgelöst von der unmittelbaren existentiellen Bedrohung — um meine innere Haltung, wie ich der Welt begegne. Bin ich im Drama- und Krisen-Modus oder kann ich mich mit einer gewissen Leichtigkeit ins Leben begeben? Angesichts der persönlichen und globalen Umstände ist der positive Flow reichlich ins Stocken geraten. Im Jahresrückblick: Die Ukraine und Israel. Rechtsruck und Rassismus. Die Erde überhitzt und überschwemmt. Parallel dazu immer wieder die eigenen Energien aktivieren. Heilen. Weitermachen. Sehr viel lesen. Sehr viel Musik hören.

Motto für 2024: mehr tanzen! Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind

Bewegte ich mich die meiste Zeit 2023 in einer Art optimistischen Survival-Mode, überkam mich Ende des Jahres zunehmend eine große Erschöpfung. Von Corona zu Cancer. Drei Jahre Pandemie und dann Krebs. Untersuchungen. Behandlungen. Glück im Unglück. Wieder gesund sein. All diese Anstrengungen und Anspannungen rollten nun zeitverzögert durch Geist und Körper.

Mein Motto für 2024: mehr reisen, mehr tanzen. Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind, um dies zu tun. Das Jahr war popkulturell betrachtet ohnehin schon erneut herausfordernd. Der Sexismus in der Musikbranche kam mit den Enthüllungen um Rammstein aufs Hässlichste zum Vorschein. Musikschaffende können aufgrund gestiegener Kosten und neuer Spotify-Regelungen künftig noch schlechter von ihrer Kunst leben. Und große Konzerte werden dank irrsinniger Ticketpreise zum Luxusgut. Hinzu kommt in Hamburg zum Jahresende ein unglaublicher Aderlass in der Club-Kultur. Das Pal und die Sternbrücken-Clubs machen dicht. Und überraschend ist dem Molotow zu Mitte 2024 der Mietvertrag gekündigt worden. Tod oder Tanzen? Irgendwie beides.

Wir brauchen Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können

Ein Vierteljahrhundert meines Lebens habe ich bisher im Molotow verbracht. Dieser Ort — ob nun die alte Location in den Esso-Häusern oder die neue am Nobistor — ist absolut identitäts- und gemeinschaftsstiftend. Denn wir brauchen reale Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können. In denen wir uns tanzend imaginieren und neu erfinden. Wo Musik an den Gefühlen zieht und sie ausbrechen lässt. Bis der Schmerz und das Schöne, die Euphorie und die Zweifel aller sich zu einem wunderbar wirren Tanz zusammenfinden. Ein kollektives Erlebnis, das uns verbindet. Eine Utopie, die uns befeuert. Und für die es sich unbedingt zu kämpfen lohnt. 

Popkultur hat mich durch dieses Jahr getragen. Denn zum Glück gab es auch viele positive Entwicklungen und Ereignisse. Mehr Austausch über herausfordernde Themen. Mehr Awareness auf Festivals und in Clubs. Und auch wenn Aufzählungen im Jahresrückblick nicht das Spannendste sind, so möchte ich doch von einigen Highlights erzählen. Denn letztlich dienen sie auch der Selbstvergewisserung. Ich bin noch da. Wir sind noch da. Tauschen uns aus. Wir vertrauen uns. Und reiben uns. Wir gehen weiter. 

Popkulturelle Highlights 2023: „Barbie“, K-Dramas, Konzerte

Im Kino zeigte die Dokumentation über Die Sterne äußerst nahbar die Neujustierung einer Band. Und mit dem Referenzfeuerwerk „Barbie“ wurde im Mainstream wochenlang über Formen des Feminismus diskutiert. Dann noch die zu Dua Lipa tanzende Barbie, die mitten hinein in die Choreo fragt: „Do you guys ever think about dying?“ Check. Und sowieso: „I’m just Ken“. Was für ein Spaß! Toxische Männlichkeit revisited. Ich bin zudem verstärkt abgesunken in Serien. In die Hochleistungsküche von „The Bear“. In die gelebte Diversität von „Sex Education“. Und immer wieder in das einnehmende Storytelling von K-Dramas. 

Doch nichts geht über das Live-Erlebnis. Über ganz unterschiedliche Konzerte von unter anderem Robbie Williams, Hauschka, Vicky Leandros, Sigur Ros, Uche Yara, dem Joni Project und Alli Neumann, die ich 2023 erleben durfte. Der Hamburger Kneipenchor feierte ebenso zehntes Jubiläum wie ich mit meinem geliebten Gesangsensemble The Octavers. Im TBA in der Gaußstraße luden wir im Sommer zum Geburtstagskonzert. Eine lauschige Hinterhof-Location. Es leben die kleinen Off-Orte!

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Deer Anna & Biggy Pop, fotografiert von Jörg Tresp.

Jahresrückblick auf mein berufliches popkulturelles 2023

Immer wieder bin ich enorm dankbar, in meiner Arbeit als selbstständige Journalistin, Texterin und Moderatorin so vielen inspirierenden Menschen zu begegnen. Für Albumbios und Pressetexte habe ich mit großartigen Bands und Pop-Artists zusammengearbeitet. Unter anderem mit der deutsch-türkischen Indie-Formation Engin, mit der wunderbar geheimnisvollen Musikerin June Coco, mit der vielschichtigen Künstlerin Dorothee Möller aka Weesby, mit der immer wieder einfallsreichen Band Mischpoke, mit dem feinsinnigen Duo Fjarill oder mit Deer Anna, deren wahrhaftige Songs ganz tief in einem wirken.

Ich liebe es, mich intensiv über die Kunst auszutauschen und die Musik mit Geschichten zu verbinden. Meine Erfahrungen aus dieser texterischen Arbeit bringe ich seit diesem Jahr auch in Beratungen ein, zum Beispiel mit der tollen Cellistin Stefanie Richter aka Sophie & der Sommer. Zudem durfte ich meine Freundin Sascha Just begleiten, die ihre Dokumentation „Ellis“ über den Jazzmusiker Ellis Marsalis bei Filmfestivals wie der Soundtrack Cologne präsentiert hat. 

Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die meinen Horizont erweitern

Ich freue mich zutiefst über all die neu entstandenen und gesund gewachsenen Kooperationen. Über die immer neuen Ideen und den langen Atem. Über die Zusammenarbeit mit der Initiative Musik, mit RockCity und Oll Inklusiv etwa. Und auch über die angeregten Diskussionen bei meiner Gremientätigkeit für die Kulturbehörde Hamburg in der Labelförderung und beim Musikstadtfonds. 

Mein Dank gilt im Jahresrückblick zudem allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrem Input immer wieder meinen Horizont erweitern. Zum Beispiel Caro Schwarz vom Online-Magazin Musicspots, Fabian Schuetze vom Newsletter Low Budget High Spirit und Susanne Hasenjäger vom NDR, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen meine bloggenden Freund*innen Julia Keith von Beautyjagd und Weinspezialist Matthias Neske von Chez Matze. Keine Popkultur im engeren Sinne. Aber wir wollen ja alle hübsch über den eigenen Tellerrand hinausschauen, richtig?

Biggy Pop im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.
Biggy Pop bei „Operation Ton“ im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.

Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen

Es geht darum, wieder und wieder ins Gespräch zu gehen. Für meine NDR-Radiosendung Nachtclub Überpop habe ich mich mit KI befasst, mit der Lage von Newcomer*innen und Clubs. Auf Festivals und Konferenzen habe ich Panels zu Popkultur und Politik, Musikbranche und Songwriting moderiert. Und für das Hamburger Abendblatt habe ich nicht nur das Kulturleben der Stadt erkundet, sondern bin mit dem Thema „Harry Potter“ auch in das Podcast-Game eingestiegen.

Ich bin ein riesiger Fan von Fankultur. Deshalb begeistert mich die anhaltende Faszination für diese magische Geschichte ebenso wie die hypermodernen Kommunikationsformen des K-Pop. „Standing Next To You“ von Jung Kook ist vermutlich mein am meisten gehörter Song des Jahres. Dicht gefolgt von Miley Cyrus, die ich ebenfalls hart fangirle. „I Can Buy Myself Flowers“. Survival-Mode ins Positive gedreht.

Diese Hymne funktioniert auch beim Auflegen auf der Barkasse Hedi allerbestens. Die Parties als DJ auf der Elbe gemeinsam mit dem grandiosen Hedi-Team sind für mich große Kraftquellen. Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen. Und wenn die Leute dicht an dicht mitsingen. Vor allem wenn alle tanzen. Eine Leichtigkeit. Denn: „Nothing matters when we’re dancing“. In diesem Sinne: ein gutes Jahr 2024!

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„Mein Beitrag“ – neue Artikel-Reihe auf Biggy Pop Blog

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Welchen Stellenwert hat Kultur dieser Tage? Systemrelevant oder eher seelenrelevant? Für mich lassen sich die Impulse, die von Kunst im Allgemeinen und von Popkultur im Besonderen ausgehen, nicht einfach kategorisieren. Dafür werden die Sinne durch Sound, Lyrics und Performance viel zu komplex angesprochen. Fest steht für mich aber: Es bestehen starke Wechselwirkungen zwischen Musik und Mensch. Nicht nur auf ganz persönlicher, sondern vor allem auch auf sozialer Ebene. Gerade während der Corona-Krise ist die Bedeutung von Kultur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt stark diskutiert worden. Was macht die Pandemie mit unserem kollektiven Empfinden? Wie sehr gewöhnen wir uns an Home-Entertainment? Brauchen wir gemeinsame Live-Erlebnisse? Und welche Rolle spielt Musik generell in einer Zeit, in der Konzerte gar nicht oder nur äußerst eingeschränkt möglich sind? Diese Fragen haben mich zu einer Artikel-Reihe angeregt, die ich in den kommenden Wochen auf meinem Blog realisieren will.

Was sehen die Musiker*innen als ihren Beitrag zum sozialen Miteinander?

Unter dem Titel „Mein Beitrag“ möchte ich junge Popkünstler*innen und ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen in den Fokus nehmen. Vor allem dem musikalischen Nachwuchs fehlen durch die Pandemie wichtige Monate und mittlerweile Jahre, um die eigene künstlerische Laufbahn im direkten Austausch mit dem Publikum  intensiv und regelmäßig weiterzuentwickeln. Hinzu kommen Debatten, die Livemusik nur noch als Lärm oder Luxus polemisieren. Und gleichzeitig ist da trotz all der Erschöpfung noch Energie, ein Wunsch nach Weitermachen, Rauslassen und Gestalten. Ich sehe (und höre) in den sozialen Medien, in Newslettern und Playlisten, wie viel schöne, schräge, kluge und catchy Musik derzeit gerade von Newcomer*innen veröffentlicht wird. Songs, die uns Sinn und Sinnlichkeit spüren lassen, statt stumpfen Stolz und Vorurteil.

Diese ganze Gemengelage hat mich dazu inspiriert, für meine Artikel-Reihe nun genauer nachzufragen: Welche lokalen bis globalen Themen fließen — bewusst oder subtil — in die eigenen Songs ein? Welche Ideen, Anliegen und Haltungen liegen der Kunst zugrunde? Was sehen die Popkünstler*innen als ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander? Und welches Feedback erhalten sie?

Von textlichem Engagement bis zu künstlerischen Leerstellen

Wichtig ist mir bei meiner Artikel-Reihe, dass der Ansatz ein offener ist. Sprich: Pop in all seinen Spielarten lässt sich nicht simpel funktionalisieren. Im Sinne von: hier der Song, da der (erbauliche) Effekt. Dafür ist der Prozess des Songwritings zu vielschichtig, zu magisch. Manche verfolgen eine klare Agenda, texten zum Beispiel feministisch oder kapitalismuskritisch und loten ihr Verhältnis zu Begriffen wie Heimat, Herkunft und Identität aus. Bei anderen geht es eher darum, seismographisch Stimmungen aufzunehmen, Leerstellen zu benennen und sich durch Rätselhaftigkeit einer direkten Interpretation zu entziehen. Auch das bedeutet für mich: gesellschaftliche Auseinandersetzung. Also dass uns Musik die Unfassbarkeit und Merkwürdigkeit der Welt vor Augen führt. Dass das Innere das Äußere widerspiegelt. Dass das Private politisch ist. Und umgekehrt.

„Mein Beitrag“ — je nach Ausrichtung und Genre definieren Künstler*innen also ganz unterschiedlich, wie sie ihre Umwelt mitprägen. Die Anregungen, die ihre Musik für unser Zusammenleben bietet, sind entsprechend vielfältig:  konstruktiv, verstörend, poetisch, reflektierend, tröstend, sensibilisierend, kontrovers, empowernd.

Artikel-Reihe unterstützt von „Neustart Kultur“

Ich bin sehr gespannt darauf, mit ganz verschiedenen Musiker*innen zu sprechen und herauszufinden, was sie als ihren Beitrag verstehen. Meine Auswahl reicht dabei von Indie bis Hip-Hop, von Post-Punk bis Singer-Songwriter-Sound und weiter zu Electro und Experimentellem. Zudem freue ich mich sehr darüber, dass ich diese Artikel-Reihe unterstützt von einem Stipendienprogramm umsetzen kann — aufgelegt von der Verwertungsgesellschaft VG Wort und realisiert im Rahmen des „Neustart Kultur“-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Gefördert werden da Autor*innen sowie Journalist*innen, die im Kulturbereich tätig sind. Vielen herzlichen Dank für den Support. Denn abgesehen von einigen wenigen Sponsored Posts betreibe ich diesen Blog über Popkultur seit August 2018 als nicht-kommerzielles Projekt. Und ich hoffe sehr, dass ich mit meinen Texten vermitteln kann, wie viele tolle, sprengkräftige, zarte, absurde und beglückende Musik existiert.

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Zwischen Musikszene und Intensivstation: Silvie Torneden im Interview

Silvie Torneden, Intensivstation, Corona, Hamburg

Im September habe ich Silvie Torneden kennengelernt. Für das Abendblatt interviewte ich sie zu ihrer neuen Aufgabe als Geschäftsführerin des Frauenmusikzentrums (FMZ) in Altona. Seit 1987 können Musikerinnen dort proben, netzwerken und sich professionalisieren. Und Silvie bringt die Fähigkeit mit, das künstlerische Leben in ganz unterschiedlichen Facetten zu erkunden: Sie hat Kultur- und Medienmanagement studiert. Sie macht mit ihrer Band Bullshit Boy selbst Musik. Zudem legt sie seit 20 Jahren als DJ Indie und Electro auf. Und sie dreht Filme und Videos, etwa für die Hamburger Rapperin Finna. Zugleich arbeitet Silvie aber auch im Altonaer Krankenhaus als Intensivpflegerin. Ich habe sie als reflektierten und zugleich sehr inspirierten Menschen wahrgenommen. Angesichts der sich zuspitzenden Corona-Lage, die die Branche nun schon seit rund 20 Monaten herausfordert, habe ich mit Silvie über ihr Leben zwischen Musikszene und Intensivstation gesprochen. 

Wie teilt sich Deine Arbeitszeit prozentual auf zwischen Gesundheitswesen, Frauenmusikzentrum und Filmemachen? 

Momentan arbeite ich 40 Prozent im Krankenhaus und circa 50 Prozent im Frauenmusikzentrum. In der restlichen Zeit gehe ich meiner eigenen Kreativität nach, wie zum Beispiel das Filmemachen oder Musizieren, Freund:innen treffen etc. 

Welche Erfahrungen machst Du derzeit in Deinem Beruf auf der Intensivstation? 

Das Arbeiten auf der Intensivstation war vor der Pandemie schon herausfordernd. Jetzt hat sich vieles weiter verschärft. Der zunehmende Arbeitsaufwand, die Bettenengpässe und die personellen Krankheitsausfällen müssen ständig kompensiert werden. Täglich gibt es neue Herausforderungen, die wenig planbar sind. Momentan ist es in meinem Krankenhaus so, dass sich eine Intensivstation überwiegend oder fast ausschließlich um infektiöse Covid-Patienten kümmert. Die andere Intensivstation muss alle anderen Krankheits- und Notfälle übernehmen oder Long-Covid-Patienten zur weiteren Nachbeatmung. Somit muss die Regulierung der Betten teilweise mehrmals täglich neu geplant werden. Immer wieder wird abgewogen, wer verlegt werden kann und wer nicht, um ein Patientenbett wieder neu belegen zu können. Der Arbeitsaufwand und das Tempo sind teilweise enorm. Die Lage hat sich deutlich zugespitzt. Und die Sorge, um das was kommen wird, wächst ebenfalls. 

Silvie Torneden, Frauenmusikzentrum, Altona
Silvie Torneden vor dem Frauenmusikzentrum in Altona, fotografiert von Sarah Höfling (Foto Intensivstation von Stepahnie Manthei).

Wie motiviert Ihr Euch als Team auf der Intensivstation in dieser herausfordernden Zeit? 

Wir versuchen so gut es geht aufeinander aufzupassen. Gegenseitiger Austausch und Unterstützung sind eine große Hilfe. Allerdings ist auch eine zunehmende Demotivation zu spüren. Es fehlt die Perspektive auf Änderung oder ein Ende der pandemischen Zeit. Eine dauerhafte Motivation aufrechtzuerhalten, ist momentan eher schwierig. Es ist schon wichtig, als Team gut zu funktionieren und zusammenzuhalten. Gemeinsames Lachen, trotz harter Zeiten, ist die beste Motivation. 

Hast Du erlebt, dass Kolleginnen und Kollegen im Zuge der Pandemie dauerhaft krank sind, gekündigt beziehungsweise den Job gewechselt haben? Und wie beeinflusst das die Arbeit und Atmosphäre auf der Station? 

Das erlebe ich häufig. Fast täglich werden Kolleg:innen zum Arbeiten gesucht, da jemand krankheitsbedingt ausgefallen ist. Viele wechseln den Job, gehen in Teilzeitarbeit oder zu Zeitarbeitsfirmen, da sie auf Dauer den Stress im Krankenhaus nicht kompensieren wollen oder können. Stellen können zum Teil nicht nachbesetzt werden, da der Fachkräftemangel schon seit Jahren ein bekanntes Problem ist. Jetzt ist es noch viel prekärer geworden. Der Markt ist so gut wie leergefegt und neue Kolleg:innen werden händeringend gesucht. Auch werden vermehrt Zeitarbeitsfirmen benötigt, um die die Lücken halbwegs zu füllen. Meist reicht das aber auch nicht aus, da es immer wieder kurzfristige Krankmeldungen gibt. Entweder wird dann noch jemand gefunden zum Arbeiten oder es muss anderweitig kompensiert werden. Es ist ein ewiges Hamsterrad und die Atmosphäre ist durchaus angespannt. 

Inwiefern ist Musik und Filmemachen für Dich auch ein Ausgleich zu Deiner Arbeit im Gesundheitswesen? 

Das war schon immer ein total wichtiger Ausgleich für mich. Dafür bin ich auch sehr dankbar, dass ich das Ventil für mich habe. Zum einen ermöglicht mir die Kreativität immer wieder neue Einblicke und Möglichkeiten in andere und neue Bereiche. Ich kann mich ausprobieren und Neues entdecken und in andere Welten abtauchen. Zum Anderen erdet mich der Beruf im Gesundheitswesen sehr. Mir wird immer wieder das Existenzielle gespiegelt und wie kurzlebig doch unser Leben sein kann. Deshalb versuche ich, meine Träume und Bedürfnisse so gut es geht zu leben und die alltäglichen Dinge viel mehr wertzuschätzen. Sowohl die Kreativität und Kultur als auch die soziale Arbeit sind für mich sehr wichtig. Gerade wegen dieser Gegensätzlichkeiten halte ich meine Balance und empfinde das, was ich tue, als sinnerfüllend. 

Silvie Torneden, Bullshit Boy, Band, Hamburg
Silvie Torneden mit ihrer Band Bullshit Boy, fotografiert von Christiane Stephan.

Weite Teile der Club- und Veranstaltungsbranche versuchen, schnell und agil auf das dynamische Infektionsgeschehen zu reagieren, zum Beispiel durch die Einführung von 2G+. Wie nimmst Du das Verhalten und die Lage der Szene wahr? 

Ich erlebe, dass im kulturellen Bereich vieles in Kauf genommen wird, um bloß nicht wieder schließen zu müssen. Die Angst vor dem nächsten Lockdown und auch die existenzielle Angst pulsieren täglich mit. Auch auf Seiten des Publikums wird vieles mitgemacht und geduldet. Zwar gibt es auch Anfeindungen, aber die Mehrzahl zeigt sich sehr verständnisvoll und ist extrem dankbar, für alles, was versucht und getan wird. Kultur wird gebraucht, dass steht ausser Frage. 

Wie gestaltet sich derzeit das Leben und Proben im FMZ? 

Wir haben Hygiene- und Lüftungskonzepte, an die sich alle halten. Das funktioniert wirklich sehr gut. Die Bands und Musikerinnen proben jeweils in eigenen Räumen. Danach wird ausgiebig gelüftet. Durch einen digitalen Raumplaner können sich die Musikerinnen von zu Hause für einen Timeslot in den Proberaum eintragen. So kommt es zu keinen größeren Begegnungen im Frauenmusikzentrum. 

Welche Pläne hast Du als neue Geschäftsführerin für die Zukunft? 

Für nächstes Jahr sind einige schöne Workshops geplant zu unterschiedlichen Themen. Auch erweitern wir unsere Mädchenarbeit und wollen unter anderem im Sommer ein Mädchen-FLINTA*-Festival über mehrere Tage mit Workshops und Abschlussveranstaltung umsetzen. Es wird neue Kooperationen geben und einige Konzert-Veranstaltungen. Außerdem wird das Frauenmusikzentrum nächstes Jahr 35 Jahre alt. Das wollen wir natürlich auch gebührend feiern. 

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Die Höchste Eisenbahn im Musikpavillon & Bilanz der Corona-Saison

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Durch die frische Hamburger Nachtluft fliegen rote Luftballons. Real und in Worten. Die wunderbar schlonzige und hochgradig charmante Popgruppe Die Höchste Eisenbahn spielt ein Konzert im Musikpavillon von Planten un Blomen. Projektionen tanzen über die Fassade der retrofuturistischen Bühne und streifen auch die alten Kastanien, die das Publikum umrahmen. Eine Parkphilharmonie. Für Popkultur. Und für magische Momente. Für Merkwürdigkeiten, Reflexion, Melancholie und Humor an Musik. Ein Freiraum, nach dem sich viele sehnen. Erst recht in dieser Corona-Zeit. Doch um diese Magie überhaupt spüren zu können, ist derzeit besonders eines gefragt: Planung. Ich habe mich vor dem Auftritt von Die Höchste Eisenbahn mit Veranstalter Jan Köpke von der Hamburger PR- und Booking-Agentur Popup Records unterhalten. Gemeinsam mit dem Musikunternehmen OHA! Music hat seine Agentur den Musikpavillon im Herzen Hamburgs für Popkonzerte erschlossen und die Open-Air-Reihe „Draussen im Grünen“ initiiert.

Musikerin Anna Depenbusch beschließt das Programm 2020 am 4. Oktober. Wie ist diese erste Saison auf der Bühne in Planten un Blomen unter Pandemie-Bedingungen gelaufen?

Ohne Förderung ein wesentlich dünneres Brett

Draussen im Grünen, Musikpavillon, Planten un Blomen, Popup Records, OHA!„Wir sind total froh, diese tolle Location während der Corona-Zeit bespielen zu können“, erzählt Jan, während das Security-Personal die ersten Gäste — natürlich mit Masken — an einen der 400 Sitzplätze geleitet. Fast 30 Shows haben Popup Records und OHA! Music seit August realisiert. Von Hip-Hop über Kindermusik bis zu Indierock. Etwa ein Drittel der Kosten wurden aus der Open-Air-Förderung der Stadt Hamburg finanziert. Ein Fördertopf, der insgesamt 1,5 Millionen Euro umfasst und die Kulturproduktion unter freiem Himmel in Corona-Zeiten ankurbeln soll. Zahlreiche Veranstalter und Clubs haben daraufhin ihr Outdoor-Programm hochgefahren, etwa das Molotow in seinem Hinterhof oder das Schroedingers im Schanzenpark. 

Jan betont: „Ohne diese Förderung wäre unser Projekt ein wesentlich dünneres Brett geworden. So konnten wir nun mehr Konzerte organisieren, den Bands bessere Deals anbieten und uns auch einen größeren Personalstab leisten.“ 15 Menschen arbeiten bei „Draussen im Grünen“ am Einlass, in der Gastro sowie in der Durchführung. Teile des Teams stammen aus anderen Hamburger Clubs, die noch geschlossen sind. Ein schöner Zusammenhalt, der sich auch in der Atmosphäre auf dem Gelände widerspiegelt. Alles wirkt gut durchdacht und zugleich entspannt. 

Frischer Wind in Planten un Blomen

Ohne Hygiene-Auflagen würden 700 Gäste auf dem Areal Platz finden. Rein rechnerisch sind die jetzigen Konzertabende mit reduzierter Kapazität also nichts, was ungeahnten Reichtum in Krisenzeiten beschert. „Wir kommen hin“, sagt Jan auf die Frage, ob sich „Draussen im Grünen“ denn finanziell lohne. Er hofft allerdings, dass Popup Records und OHA! Music den Musikpavillon langfristiger bespielen dürfen. Also womöglich auch, wenn ein Impfstoff gefunden ist und wieder mehr Menschen im Publikum erlaubt sind. Das hätte auch einen positiven Effekt auf die Nutzung des Parks. „Durch unsere Shows kommen noch einmal ganz andere Leute nach Planten un Blomen. Es weht ein frischerer Wind“, erzählt Jan. 

Artwork, Draussen im Grünen, Designerin, Kati Krüger
Das Artwork zu „Draussen im Grünen“ hat Designerin Kati Krüger gestaltet

Der Leiter des Bezirksamts Mitte, Falko Droßmann, steht „Draussen im Grünen“ offenbar positiv gegenüber: „Laue Sommerabende im Park und tolle Konzerte – das passt zusammen“, erklärte er zum Auftakt der Reihe.

In den vergangenen Jahren waren eher leisetretendere Veranstaltungen im Musikpavillon gestattet. Zum Beispiel die Jazz Open und das Wortpicknick, eine Kombination aus Lesung und Singer-Songwriter-Auftritten. Jan hat eine Vermutung, warum in der jüngeren Vergangenheit diese vermeintlich gepflegteren Formate gewünscht waren. Und die führt in eine staunenswerte Episode der Hamburger Popgeschichte.

Hamburger Popgeschichte: Eskalation im Musikpavillon

„Ende der 80er-Jahre haben die Bollock Brothers im Musikpavillon gespielt. Ich war dort als Teenager. Nach vier Liedern hatte sich die Band zerstritten und ist einfach abgehauen. Es dauerte nicht lange, bis all die anwesenden Punks ausgerastet sind“, erzählt Jan. Und er schildert die unterschiedlichen Eskalationsstufen: Erst die Bühne stürmen. Dann die Instrumente klauen. Und schließlich das restliche Inventar anzünden. Fun Fact: Die Hamburger Band Tocotronic hat dieses musikhistorische Ereignis in ihrem Video zu „Aber hier leben nein danke“ nachgespielt. Wusste ich auch noch nicht. Spannend.

Jan Köpke, Popup Records
Jan Köpke, fotografiert von Andreas Hornoff

„Wirklich irre, dass ich jetzt selbst hier Veranstalter bin“, sagt Jan. Und dann erzählt er noch von sechsstelligen Beträgen, die seiner Firma am Anfang der Corona-Zeit weggebrochen sind. „Die Kurzarbeit war da ein wirklicher Segen.“ Interessant ist, wie sich die Musikbranche aufgrund der Pandemie derzeit umgestaltet. Popup Records zum Beispiel ist nicht nur eine PR- und Booking-Agentur, die in den vergangenen Jahren unter anderem den „Sommer in Altona“ organisiert hat, sondern darüberhinaus ja auch ein Label. 

„Viele Künstlerinnen und Künstler wollen derzeit Singles veröffentlichen, um mit ihrer Musik im Gespräch zu bleiben“, sagt Jan. Sprich: Konservierte Musik wird als Visitenkarten und Einnahmequelle wieder wichtiger, wenn die Chancen geringer sind, sich live zu präsentieren. Umso größer sei die Dankbarkeit der Bands, wenn sie dann doch mal wieder vor Publikum spielen können. Und für magische Momente sorgen. So wie Die Höchste Eisenbahn bei der ersten von zwei ausverkauften Shows bei „Draussen im Grünen“.

Die Höchste Eisenbahn und die „fehlenden Tanzlustigkeiten“

„Hallooo“, sagt Gitarrist, Sänger und Keyboarder Moritz Krämer, der die Silben gerne schluffig dehnt und insgesamt gerne einen sympathischen „Gerade aufgestanden“-Eindruck macht. Wirkt natürlich nur so. Denn in Wahrheit wird da blitzgescheit aufgespielt. Es ist aber diese Mischung aus wirklich eingängigen Popmelodien und dieser gewissen Schlendrian-Attitüde, die mich an der Band immer wieder begeistert.

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Moritz Krämer (l.) und Felix Weigt, fotografiert von Sebastian Madej (so auch das Titelbild)

„Ich hoffe, Ihr habt alle eine dicke Jacke oder eine Decke dabei“, sagt Moritz Krämer dann noch. Winter is coming. Und obwohl es tagsüber sonnig und mild war, sinken die Temperaturen mit Einbruch der Dunkelheit rapide. Passend zur Kälte, die in die Knochen zu kriechen droht, kommt der Song „Pullover“. Gefolgt von Ausführungen der Band zum Thema „fehlende Tanzlustigkeiten“. 

Trockenhumorige Monologe und 99 Luftballons

Warmtanzen wäre tatsächlich schön. Lustig ist es dennoch. Zum Beispiel, wenn Krämer einen trockenhumorigen Quarantänemonolog hält, bei dem nicht ganz klar ist, an wen er sich richtet. Eine fast verflossene Liebe? Sein Unterbewusstsein? Oder an Kompagnon Francesco Wilking (der ebenfalls zwischen Mikro, Gitarre und Keyboard wechselt)? Moritz Krämer spricht seine Abhandlungen über Sprachnachrichten, C&A-Hosen sowie seinen Neid auf Musiker Frank Spilker jedenfalls so grandios verzweifelt ins Off, dass sich das Publikum irgendwo zwischen Mitleid und Amüsement bewegt.

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Francesco Wilking, fotografiert von Sebastian Madej

Der gesamte Abend ist ein höchst unterhaltsames Driften. Untermalt durch die wirklich tollen Lichtprojektionen auf die weißen Wände des Musikpavillons. Und wie war Die Höchste Eisenbahn noch gleich in dieses Medley geraten, das mit Nenas „99 Luftballons“ endet?

Abwechslungsreich fügen sich die Songs ineinander. Die beatlesken Harmonien in „Job“. Das zartbittere Sehnen in „Raus aufs Land“. Und das Blumfeld-Intermezzo in „Woher denn“. Wir sind draußen. Draußen auf Kaution. Draußen im Grünen. Was für ein Glück.

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Herzlichen Dank an Sebastian Madej für die Konzertfotos.

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Moritz Krämer, Max Schröder, Francesco Wilking und Felix Weigt (v.l.) sind Die Höchste Eisenbahn, fotografiert von Sebastian Madej

Reeperbahn Festival 2020, Tag 4 & Fazit – Glück, Sorge und Signale

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Nun ist es also vorbei, das 15. Reeperbahn Festival. Und das erste unter Pandemie-Bedingungen. Mit 140 Talks und Vorträgen, mit Filmen und Kunst, aber vor allem natürlich mit: Konzerten. Die Gemengelage, wie diese außergewöhnliche Veranstaltung denn nun zu bewerten ist, bringt Eric Pfeil, Sänger der Kölner Band Die Realität, besonders gut auf den Punkt. Beim Auftritt im Molotow bedankt er sich zunächst sehr nachdrücklich bei den Organisatoren. Das sei alles beispiellos gut gelaufen. Um dann direkt den Bogen zu schlagen. „Natürlich ist das alles perspektivlos.“ Sprich: Diese vier hoch subventionierten Tage Livemusik in Hamburg können nicht als Präzedenzfall gelten für den normalen Konzertbetrieb in Corona-Zeiten. „Der Winter wird hart“, sagt Eric Pfeil dann noch. Im Anschluss der Song: „Der Sommer ist vorbei.“ Zumindest der trockene Humor hat in Krisenphasen Konjunktur. Pfeils Maske baumelt derweil an seinem Mikroständer. Symbolbild 2020.

Die Realität, Band, Köln, Molotow, bestuhlt, Reeperbahn Festival, Hamburg, St. Pauli, Tag 4, FazitFür mich verdichtet sich in dieser einen Stunde im Molotow am letzten Festivaltag sehr viel. Gefühlt bin ich in diesem Club am Ende der Reeperbahn schon an jeder Ecke ausgerastet, habe getanzt, geschwitzt, getrunken, gelacht, geheult und Musik in jeder Faser gespürt. Dicht an dicht mit Menschen, die Popkultur und Rock’n’Roll ebenso als kollektiv beglückendes Ereignis lieben. Die die Entgrenzung feiern. Die etwas Freies suchen. Nun ist alles kontrollierter. Ich warte in einer Schlange, checke via QR-Code mit meinem Handy ein, desinfiziere meine Hände und nehme auf einem der distanziert angeordneten Stühle vor der Bühne Platz. 

Welche Optionen hat die Musikbranche, um zu überleben?

Mein Herz pendelt während dieses Reeperbahn Festivals permanent zwischen „dass ich das 2020 überhaupt erleben darf“ und „wo ist das gute wilde Leben“. Während ich zu Beginn des Festivals noch verstärkt damit beschäftigt bin, die neuen Pandemie-Abläufe zu erlernen, verschiebt sich meine Stimmung zum Ende hin. In Gedanken und Gesprächen geht es zunehmend darum: Was war das Ganze jetzt? Und: Was wird kommen? Also: Welche Optionen hat die Musikbranche, um in Zeiten von Corona zu überleben? 

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In den vergangenen zwei Jahren war ich sonntags, wenn ich mein Festival-Fazit schrieb, immer erfüllt von diesem unvergleichlichen Gefühl aus Erschöpfung und Euphorie. Jetzt ist es eher ein komplexes Gemisch aus Sorge und Melancholie, Glück, Dankbarkeit und ja, auch Optimismus.

Festival-Organisation in herausfordernden Zeiten

Ein riesengroßes Merci geht raus an das Team des Reeperbahn Festivals und an alle Enthusiasten in den Hamburger Spielstätten. Sie haben das Experiment gewagt, Livemusik erlebbar zu machen in diesen herausfordernden Zeiten. Dabei polarisiert ihr Engagement durchaus. Eine der zentralen Fragen lautet zum Beispiel, ob in Richtung Politik und Gesellschaft ein falsches Signal gesendet wird. Unter dem Motto: Geht doch, läuft doch, ist doch alles prima in der Popkultur. Dazu mehr am Ende dieses Blogposts.

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Diverse Diskussionen drehen sich während des Reeperbahn Festivals um den „Betreuungsschlüssel“ zwischen Security und Gästen. Einigen ist deutlich zu viel Personal anwesend, das checkt und erklärt, ermahnt und einweist. Da die gesamte Veranstaltung ein ultimativer Testballon ist, denke ich mir eher: „Better safe than sorry.“ Zumal alle Arbeitenden auf den Open-Air-Flächen und in den Clubs überaus freundlich sind und sich gerne auch mal auf einen kleinen Schnack einlassen. 

„Die Tasche kenne ich schon“, sagt am vierten Festivaltag einer der Kontrolleure am Einlass zu mir. Das zeugt natürlich einerseits von großer Aufmerksamkeit im Job. Andererseits illustriert es auch sehr anschaulich die Laborsituation dieser Reepandemie-Ausgabe. Das heißt: Gut 8000 Besucherinnen und Besucher an vier Tagen sind eben keine 50.000. Die Corona-Edition des Festival fühlt sich unglaublich lokal an. Und mitunter auch recht leer.

Lokal vor Ort, international im Stream

In den vergangenen Jahren habe ich ausdauernde Konzertgänger, die ich aus der Hamburger Szene kenne, teilweise das gesamte Festival lang nicht gesehen ob des üppigen Angebots. Dieses Mal wundere ich mich fast, wenn ich nicht jeden Tag sämtliche vertrauten Gesichter erspähe. 

Abstand, Punkt, Design, BodenIch habe es sonst immer sehr geliebt, dass die Welt während des Reeperbahn Festivals spürbar zu Gast in Hamburg ist. Verschiedene Sprachen, viele Impulse. Nun ist eher Hamburg zu Gast in Hamburg. Kombiniert mit dem reduzierten Programm (wo war eigentlich der Hip-Hop) hat das eine unglaubliche Entschleunigung zur Folge. Allerdings gehe ich nicht zur Erholung auf ein Festival. Ich möchte, dass es vibriert. Dass ich positiv überfordert bin.

Mir ist ein Satz hängengeblieben von Holger Stein, der sich im Festival-Team darum kümmert, die Gästeströme zu koordinieren. Also er prüft, für welche Konzerte noch Kapazitäten vorhanden sind und welche Shows voll sind. Sein Statement: „Ich mache den Job ja nicht, um eine ruhige Zeit zu haben.“ 

Newcomer Ätna gewinnt Anchor-Award

Eine Ahnung von Internationalität kommt eher in der Streaming-Welt des Reeperbahn Festivals auf. Experten lassen sich für die diesjährige Online-Only-Konferenz eben einfach aus allen Ländern dazuzoomen. Das digital angelegte kostenpflichtige Fachprogramm wird von 1480 Registrierten aus 37 Nationen rund 28.000 Mal angeklickt, teilt das Festivalteam mit. Und wenn drei der Juroren des Newcomer-Awards Anchor aus New York via Bildschirm mit der real in Hamburg anwesenden Moderatorin Hadnet Tesfai sprechen, ist das eine durchaus gelungene Umsetzung.

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Ätna beim Anchor Award 2020 im St. Pauli Theater, fotografiert von Stephan Wallocha

Das Reeperbahn Festival ist und bleibt ein Entdecker-Festival — auch in Zeiten von Corona. Gewonnen hat den renommierten Nachwuchspreis Anchor das hochgradig sympathische Duo Ätna aus Dresden. Und in ihrer Award-Performance tun sie zu ihrem impulsiven Electro-Pop etwas, das selten geworden ist dieser Tage: sie tanzen exzessiv.  

Spielfreude der Bands, Jobs für die Crews

Ich vermisse die durchdrehende Menge. Das Krawall und Remmidemmi zur Livemusik. Die Gäste — alleine oder zu zweit stehend auf Klebepunkten oder sitzend auf Abstand — verhalten sich häufig sehr ruhig und gesittet vor den jeweiligen Bühnen. Wurde die Kulturtechnik des (zumindest leichten) Tanzens verlernt in den vergangenen Isolationsmonaten? Oder fehlt einfach der wohlige Schutz des Gedränges? 

Dennoch funktionieren diese Corona-Konzerte für mich und ich bin insgesamt äußerst positiv überrascht, dass es doch immer wieder berührende Festivalmomente gibt. Denn was für mich wirklich alle äußeren Umstände wettmacht, ist die Spielfreude und Dankbarkeit der Musikerinnen und Musiker, die nach Hamburg gekommen sind (oder sowieso in der Stadt wohnen). „Für diesen Augenblick hat es sich gelohnt, sich monatelang in den Proberaum einzuschließen“, erklärt etwa Fabian Livrée, Sänger der Dortmunder Band Drens, die am vierten Festivaltag auf dem Spielbudenplatz direkt neben der Reeperbahn auftritt. Und ihren rauen wie melodiösen Surfrock in der Nachmittagssonne zu erleben, macht unglaublich viel Spaß. Guter Druck, gute Energie. Und ein guter Sound.

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Extra ausführlich zählt Fabian Livrée die Mitglieder seiner Crew auf. Die Technikschaffenden haben für einige Tage wieder etwas zu tun. Insofern kann das Reeperbahn Festival auch als Signal gelten, dass all die Berufe der Branche weiterhin benötigt werden. Dieses kurze Beschäftigungsintermezzo darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass 2020 schlichtweg eine Katastrophe für das gesamte Popbusiness war und ist.

Signalwirkung Richtung Politik

Vielen Bands auf dem Festival dürfte es wohl so ergangen sein wir Milliarden aus Berlin. Deren Sänger Ben Hartmann ruft von der Festivalbühne auf dem Heiligengeistfeld: „Yeah, heute feiern wir unseren Tourauftakt 2020.“ Applaus und Jubel. „Und dieses Konzert ist zugleich auch unser Tourfinale.“ Bitter.

Reeperbahn Festival, Tag 4, Fazit, SpielbudenplatzVon daher kann von dem diesjährigen Reeperbahn Festival unter Pandemie-Bedingungen nur ein Zeichen ausgehen: Wir haben es versucht. Aber diese Art von Kulturproduktion zu Corona-Zeiten funktioniert nur mit Geld. Sehr viel Geld. Statt der regulären 600.000 Euro Unterstützung von Bund und Land hat das Reeperbahn Festival dieses Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Euro erhalten. Das heißt: Rund drei Viertel der Sause sind subventioniert.

Letztlich bräuchte es also für sämtliche in naher Zukunft stattfindenden Konzerte eine Fehlbedarfsförderung in etwa diesem Verhältnis. Solange, bis die Clubs und Hallen wieder Shows mit voller Kapazität fahren können. Also vermutlich, wenn ein Impfstoff gefunden und verbreitet worden ist. 

Festival-Nachlese online und Vorfreude auf 2021

Livemusik und Kulturproduktion darf weder zum Luxus werden, noch gänzlich verschwinden. Die Gesellschaft braucht Hoch-, Sub- und Popkultur, Avantgarde und Mainstream als Motor und Korrektiv, als Inspiration und Projektionsfläche, für Eskapismus und Diskurs. Natürlich war und ist Corona derzeit das alles prägende Thema. Aber im Zuge der Pandemie dürfen die Inhalte nicht auf der Strecke bleiben.

Ich werde mir im Laufe der kommenden Tage gewiss noch einige Aufzeichnungen vom Reeperbahn Festival anschauen. Von Konzerten und Talks, die ich verpasst habe. Autorin Kübra Gümüşay etwa verhandelte im Resonanzraum  im Rahmen des Keychange-Programms die Macht der Sprache. Und Veranstalter Björn Hansen sprach mit anderen Experten über Nachhaltigkeit in der Eventbranche. Es ist Zeit, auch wieder Themen in den Fokus zu rücken. Sich über Haltungen auszutauschen. Und mit diesem Know-how unsere veränderte Zukunft zu gestalten.

Korea, Spotlight, Reeperbahn Festival, St. Pauli
Das „Korea Spotlight“-Areal auf dem Reeperbahn Festival, fotografiert von Fynn Freund (ebenso das Titelbild)

Mit riesiger Freude habe ich gelesen, dass Südkorea im kommenden Jahr Partnerland des Reeperbahn Festivals sein wird. Da ich mich seit einigen Monaten verstärkt mit K-Pop und koreanischen Dramaserien befasse, macht mir das große Lust auf 2021 (hier lässt sich zum Beispiel meine K-Pop-Sendung für den NDR Info Nachtclub Überpop nachhören). Ich hoffe inständig, dass sich in einem Jahr Reisen und Veranstaltungen wieder angemessen realisieren lassen. Wie sagt Drangsal so schön bei seinem Festivalauftritt Freitagnacht: „See you on the other side“. 

Biggy Pop Reeperbahn Festival-Tagebuch 2020:

Vorschau und Konzept — hyprid durch die Pandemie

Tag 1 — check check check

Tag 2 — die Konferenz im Stream

Tag 3 — musikalische Highlights

Stories vom Festival gibt’s in den Highlights bei Biggy Pop auf Instagram

Corona und die Popkultur:

Auf diesem Blog beschäftige ich mich seit März mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Popkultur. Die bisherigen Beiträge lassen sich hier nachlesen.

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Reeperbahn Festival, Tag 4, Fazit, Spielbudenplatz

Reeperbahn Festival 2020, Tag 1 – check check check

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Nun hat es also begonnen, das erste Reeperbahn Festival unter Pandemie-Bedingungen. Und bei dieser Art von popkulturellem Labor-Event ist mir am ersten Tag noch einmal enorm bewusst geworden, wie nachhaltig Corona unser Verhalten prägt. Unser Leben ist kontrollierter geworden. Das wird vor allem beim Zugang zu den Open-Air-Bühnen und Clubs auf St. Pauli deutlich. Bei jedem Einlass gilt es, mit Hilfe eines QR-Codes einzuchecken. Also die eigenen Kontaktdaten auf einer Webseite zu hinterlegen, um potenzielle Infektionsketten nachvollziehbar zu machen. Beim Verlassen der Spielstätte muss sich jede und jeder aber auch wieder aus dem Areal ausloggen. Sonst klappt es nicht mit dem nächsten Einlass. Check-in. Check-out. Check one two. Check check check. 

Dieses Prozedere führt mitunter zu leicht kafkaesken Momenten. Etwa, wenn ich das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld verlasse (Check-out), um nach fünf Meter das Gelände für die große Festivalbühne zu betreten (Check-in). Kurz wünschte ich, ich hätte mir für das Reeperbahn Festival eine dieser praktischen Anglerwesten mit vielen Taschen besorgt. Denn gefühlt jongliere ich permanent mit Gegenständen. Handy, Maske, Sonnenbrille, Desinfektionsmittel, zudem der Mantel für den kühleren Abend. Ein stetes Hervorkramen und Verstauen. Aber ach. Natürlich ein hundertfünfzigprozentiges Luxusproblem. Denn wie beglückend ist es doch, so etwas wie ein Festival in diesem Jahr überhaupt erleben zu können. 

Vom Homeoffice-Level auf Festival-Modus umschalten

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Die Fritz Bühne im Festival Village mit Corona-Kästchen, fotografiert von Tom Heinke

Die Band Koko eröffnet das Live-Programm des Reeperbahn Festivals am frühen Mittwochnachmittag auf der kleinen Fritz-Bühne im Festival Village. Mit ihrem Mix aus Electro, Hip-Hop und Indie-Rock bieten sie den perfekten Soundtrack, um von Homeoffice-Level langsam auf Festival-Modus umzuschalten. Festival-Modus 2020, versteht sich. Denn, wie heißt es so schön in einem Hit von Stereo Total: „Wir tanzen im Viereck“. In 1,50 Meter Abstand sind Quadrate auf den Asphaltboden aufgesprüht, in denen je zwei Menschen stehen oder sitzen dürfen. Für Square-Dance-Mini-Raves. 

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Akua Naru, fotografiert von Robin Schmiedebach

Doch da ist diese große Dankbarkeit zu spüren, wieder gemeinsam mit anderen Popkultur feiern zu können. Zum Beispiel bei Sängerin und Spoken-Word-Artistin Akua Naru. Sie habe diverse Corona-Tests machen lassen, um endlich in dieses Mikrofon singen zu dürfen, ruft sie von der großen Open-Air-Bühne auf dem Heiligengeistfeld hinab.

Die ankommenden Musikfans werden dort vom Security-Personal an ihre Plätze geführt. Zwei Stühle, Abstand, zwei Stühle, Abstand. Und so weiter. Ein sehr luftiges Sitzen. Bei Akua Narus Fusionsound aus Soul, Jazz und RnB führt das eher zu einer Lounge-Atmosphäre in der Abendsonne als zu euphorischem Groove in der Menge. 

Umsicht und Freundlichkeit vor den Clubs und Bühnen

Insgesamt fühlt sich dieser erste Festivaltag wie ein gemeinsames Herantasten und Lernen an. Die meisten Gäste scheinen extrem darauf bedacht, gut mitzumachen, damit diese durchaus historische Festivalausgabe gelingt. Selbst bei langen Schlangen vor den Clubs am Abend – etwa vor dem Gruenspan bei International Music oder vorm Molotow für die Band Paar – ist die Stimmung meines Erachtens sehr entspannt bis umsichtig.

Und all den Menschen, die auf den Open-Air-Arealen sowie vor und in den Clubs arbeiten, sei ohnehin ein riesiges Lob ausgesprochen für ihre Geduld und Freundlichkeit. Denn sie sind diejenigen, die nun zu koordinieren haben, dass die Locations Corona-bedingt nur zu etwa einem Fünftel gefüllt sein dürfen. Ohne sie ist Popkultur nichts.

Carsten Brosda: „Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen“

Alles in allem fehlt mir der internationale Buzz, der sonst Hamburg in diesen vier Ausnahmetagen im September erfasst. Das Reeperbahn Festival fühlt sich deutlich lokaler an. Und weniger beschwingt, frei, spielerisch. Was für ein Unterschied ist das zum Beispiel zum vergangenen Jahr, wo das Festival für mich mit Guerilla-Networking vor einem Kiosk auf der Reeperbahn begann. Aber als erster Eindruck überwiegt für 2020 die Erkenntnis: Es ist anders, aber es funktioniert. Und auch die Jonglage des Check-in, Check-out habe ich bis zum Ende des ersten Tages halbwegs erlernt. Denn letztlich geht es in diesen merkwürdigen Corona-Tagen nicht nur um das individuelle Musikerleben. 

„Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für unsere Kreativindustrie, für unser Kultur, für die Bildende Kunst, für die kulturelle Infrastruktur, die Clubs, die Plattenfirmen, die Konzertveranstalter, die Backliner, die Verleger und natürlich die Musiker“, erklärt Kultursenator Carsten Brosda bei der Eröffnungsveranstaltung am Mittwochabend, die ich mir am nächsten Morgen im Stream anschaue. Normalerweise tragen all diese Menschen dazu bei, unser Leben zu bereichern. Nun sei es aber unser Job als Gesellschaft, der Musikbranche zu helfen, diese schlimmen Zeiten zu durchzustehen, erläutert Carsten Brosda. 

Kultursenator, Carsten Brosda, Doors Open, Reeperbahn Festival, Hamburg
Kultursenator Carsten Brosda bei „Doors Open“, fotografiert von Fynn Freund

„Das Reeperbahn Festival ist dieses Jahr ein Zeichen des Überlebens und ein Leuchtfeuer der Hoffnung, dass Livekultur zurückkehren wird. Trotz der Auflagen, die das Virus uns auferlegt“, erklärt der Kultursenator in seiner Ansprache weiter. Es gehe auch darum, so Carsten Brosda, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen. Mit Ängsten umzugehen. Weiterzumachen. Und vor allem: offen zu bleiben für Mitmenschlichkeit. Erst recht in Zeiten, in denen Europa in seiner Flüchtlingspolitik so heftig versage. Musik, besonders live, öffnet diese Emotionen und Haltungen seit jeher. Derzeit ist sie daher wichtiger denn je.

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Reeperbahn Festival 2020 — hybrid durch die Pandemie

Heiligengeistfeld, Banner, Reeperbahn Festival, Hamburg

Am morgigen Mittwoch beginnt das Reeperbahn Festival. Ein simpler Satz. Und dennoch hätte ich im Frühjahr nicht gedacht, dass ich ihn auf diesem Blog schreiben würde. Vielmehr erfüllte mich mit dem popkulturellen Shutdown von Konzerten und Festivals eine Zeit lang eine Art tocotronischer „Sag alles ab“-Fatalismus. Nun findet das viertägige Pop-Event statt. Und doch ist in diesem merkwürdigen Corona-Jahr alles anders. Die Sause aus Club-Shows und Konferenz-Programm geht als sogenanntes Hybrid-Festival über die Bühnen. Das heißt: in einem Mix aus gestreamtem Angebot und realem Programm. Wie das wohl wird?

Reeperbahn Festival, LogoNormaler Weise, also ohne weltweite Pandemie, wäre ich Tage vor dem Reeperbahn Festival bereits damit beschäftigt, mir einen Ablaufplan zu erstellen aus Konzerten und Talks, vor allem aber aus beruflichen Meetings. Seien es Eins-zu-eins-Gespräche mit Menschen aus der Branche, zu denen ich sonst nur per Mail in Verbindung stehe. Seien es die vielen Receptions von Platten- und Bookingfirmen, von Lobbyverbänden und Ländervertretungen. Oder seien es all die Drinks, Schnacks und Kennenlerntreffen am Rande. 

Die meisten dieser Networking- und Business-Termine fallen dieses Jahr flach. Und aufgrund des eingeschränkten Reiseverkehrs wird St. Pauli als Austragungsort wesentlich weniger international sein. Das bedauere ich sehr. Aber wer weiß: Womöglich hat diese Reduktion andererseits auch etwas Positives. Eine Konzentration auf das Wesentliche zum Beispiel. Auf die Musik. Ich bin gespannt. 

Hoch subventioniertes „Frühstücksfernsehen“

Der Auftakt zum Reeperbahn Festival gestaltet sich jedenfalls schon einmal anders als in den 14 Jahren zuvor. Statt am ersten Tag meinen Festival-Pass abzuholen, checke ich bereits einen Tag vorher online in die Konferenzplattform ein. In diesem digitalen Raum sind ab Mittwoch früh Panels sowie On-Demand-Präsentationen von Labels und Organisationen zu erleben. Flugs lege ich mir ein Profil an, um im Laufe des Reeperbahn Festivals mit anderen Konferenzgästen in Kontakt treten zu können. Ich bin neugierig, ob das funktioniert. Oder ob die Leute zu bildschirm-müde sind aufgrund all der Zoom- und Skype-Interaktionen in den vergangenen Corona-Monaten.

Screenshot, Reeperbahn Festival, Webseite, Hamburg, Clubs, Konzerte, St. Pauli, Konferenz, MusikbrancheAls eine Art „Frühstücksfernsehen“ bezeichnet Konferenz-Chef Detlef Schwarte das Angebot. Das reale Konzertprogramm rund um den Kiez startet wiederum am frühen Nachmittag. Und zwar stark reduziert und hochgradig gefördert. Gut 9000 statt ansonsten 50.000 Gäste empfängt das Reeperbahn Festival 2020. Und auch die Zahl von rund 160 Programmpunkten für Festivalgänger sowie 100 Talks fürs Fachpublikum ist deutlich niedriger als die Auswahl der Vorjahre. Statt der regulären 600.000 Euro Unterstützung von Bund und Land erhält das Reeperbahn Festival dieses Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Euro. Das heißt: Rund drei Viertel der Sause — also sowohl Konzerte als auch Konferenz — sind subventioniert. 

Aufmerksamkeit für Solo-Selbstständige

„Ökonomisch ist das Reeperbahn Festival ein Kunstprodukt“, sagt Festival-Chef Alexander Schulz im „Mopo“-Interview über die Ausgabe 2020. Natürlich lässt sich das Ganze jetzt als hochgezüchtetes Projekt ohne Anbindung an die realen Nöte der Musikbranche abtun. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Im Gespräch mit Kollegin Frederike Arns erklärt Schulz weiter, dass in dem „Apparat“ der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft 85 Prozent Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer beschäftigt sind. Wenn diese wichtigen Akteurinnen und Akteure auf einem Event wie dem Reeperbahn Festival endlich wieder zu tun haben und ihre Arbeit so zudem mehr Aufmerksamkeit erhält, ist schon viel gewonnen. 

Alexander Schulz, Reeperbahn Festival
Alexander Schulz, fotografiert von Jim Kroft (Titelbild fotografiert von Dario Dumancic)

Von vielen Menschen aus meinem Umfeld weiß ich, dass sie ihr Festivalticket für nächstes Jahr haben umbuchen lassen. Die Aussicht auf weniger Konzerte ohne schönes wogendes wie schwitziges Live-Feeling schreckte dann doch viele ab. Neben Open-Air-Shows, zum Beispiel auf dem Heiligengeistfeld und dem Spielbudenplatz, finden in einigen Clubs bestuhlte Indoor-Gigs statt — mit ausgetüfteltem Hygienekonzept, versteht sich.

Old school vor der Bühne oder new school vorm Rechner?

Also: Wie wird es sich anfühlen, das Reeperbahn Festival 2020 (oder wie Musikenthusiast Nils es nennt: das Reepandemie Festival )? Entscheidungen fällen statt Auskundschaften? Schlange stehen statt Stromern? Abstand statt Ausrasten? Oder statt old school vor der Bühne direkt komplett new school vorm Rechner?

Wie wohl und sicher fühlt sich jede und jeder Einzelne dieser Tage in einem Club? Und im großen Bild betrachtet: Können Lösungsansätze zur Krisenbewältigung entwickelt werden? Welche Impulse wird dieses hybride Get-Together aussenden — in die Musikszene und womöglich auch in die Gesellschaft?

Ich bin jedenfalls optimistisch, dass sich auch dieses Jahr anregende Begegnungen ergeben und inspirierende Konzerte ereignen werden. Nur eben anders. Wir alle lernen derzeit unglaublich viel. Über uns. Über andere. Über virtuelles und reales Leben. Jetzt ist die Zeit, in der die Popkultur zeigen kann, wie innovativ sie ist. Und wie verbindend.

Rückblick auf das vergangene Jahr:

Reeperbahn Festival — Fazit 2019: Lasst uns reden

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Zwei Jahre Biggy Pop Blog — Popkultur in Zeiten von Corona

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Vor zwei Jahren habe ich als Biggy Pop diesen Blog begonnen — über Popkultur in Hamburg und darüber hinaus. „Livemusik ist die Erlaubnis, alles fühlen zu dürfen. Mit anderen“, schrieb ich 2019 in meiner einjährigen Geburtstagsbilanz. Jetzt stehe ich vor der Bäckerei in der Schlange, meine Maske griffbereit und mein Blick fällt auf die nahe Litfaßsäule mit dem Titel „Kultur in Hamburg“. Neben Veranstaltungsplakaten aus dem März und April hängen Corona-Hilfsappelle für die krisengeschüttelte Szene. Das Herz ist im Frühling gestolpert und im Hochsommer gelandet. Wie fühlt es sich also an, dieses Blog-Jubiläum? Und wohin geht die Reise?

Als Journalistin habe ich mich stark damit beschäftigt, wie sich die Krise auf das Popbusiness auswirkt, zum Beispiel in den Corona-Specials der Reihe Nachtclub Überpop auf NDR Info. Oder eben hier auf dem Blog, weshalb ich die entsprechenden Beiträge noch einmal als Corona-Chronik an diesen Post anhänge. Diese Auseinandersetzung hilft mir zum einen ganz persönlich, mental mit der Lage klarzukommen und diese Ausnahmesituation ansatzweise zu begreifen. Vor allem aber hoffe ich, dass ich dazu beitragen kann, auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine Öffentlichkeit herzustellen für die Popkultur. 

Die verbindende und innovative Kraft der Musikszene

Wir müssen immer wieder reden über die Ängste und Hoffnungen der Musikerinnen, Musiker und DJs sowie all jener, die Clubs betreiben und in der Branche arbeiten. Ich möchte aber unbedingt auch von der innovativen und verbindenden Kraft erzählen, die die Musikszene gerade jetzt entfaltet. Wir werden noch länger mit dem Virus leben müssen. Und Geld wird weiterhin nötig sein. Aber damit Menschen nach wie vor spenden und damit vor allem die Politik bis ins Detail die psychische, soziale und auch wirtschaftliche Bedeutung der Popkultur erkennt, bedarf es: Kommunikation. 

Wie wir miteinander reden, hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Aber jenseits von Verschwörungsideologen nicht unbedingt zum Schlechteren. Wir hören nicht nur der Wissenschaft ausführlicher zu, sondern auch einander. Das erlebe ich bereits im Privaten. Beim Pandemie-gerechten Ausgehen rede ich da stundenlang mit lieben Menschen, die ich aus dem Musikleben kenne. Und mit denen ich sonst oft nur einige Sätze gewechselt habe. Da dann das Konzert begann. Da es zum nächsten Laden weiterging. Oder da ein Song startete, zu dem ich unbedingt auf die Tanzfläche musste. Ich vermisse diese Dynamik. Das Live-Erleben. Den nächtlichen Sog. Die Chance, sich zu verlieren. Um sich anders zu finden. Aber mir gefällt auch diese neue Intensität. 

Den Musikerlebnisspeicher füllen

Welche anderen Seiten an uns lassen wir nun zu? Was lernen wir an anderen kennen? Mir kommt der neue Song samt Video der Hamburger Musikerin Antje Schomaker in den Sinn: „Verschwendete Zeit“. Im retro-modernen Sound und Look irgendwo zwischen The Weeknd und „Stranger Things“ singt sie da von Erneuerung. Die Haare abschneiden, das alte Ich hinter sich lassen und aufbrechen, auch wenn die Zukunft unsicher erscheint. 

Biggy Pop, Blog, Musik, Popkultur, Hamburg, Gitarre, GeburtstagViele Popfans, denen ich derzeit begegne, scheinen all die kleinen feinen Open-Air-Optionen dieses Corona-Sommers aufzusaugen. Akustisches auf Abstand. Leichtes Tanzen im Sitzen. Anflüge von Ausgehen. Den Musikerlebnisspeicher füllen, bevor der ungewisse Herbst anrückt. Bevor es desinfiziert und auf Distanz in den Clubs weitergehen soll. Oder eben nicht. Falls die zweite Welle kommt. Und wir dann wieder „supalonely“ zuhause tanzen. Vielfalt, Subkultur, Brodeln, Schwung, Inspiration und all die zweiten Heimaten in dieser Stadt — was wird daraus? Ich mache mir Sorgen. Und zugleich will, möchte und muss ich hoffen. Auf Solidarität. Auf die Popkultur.

Veröffentlichungen aus Hamburg — Lieder, die da sind

Optimistisch stimmt mich, wie viel Musik allein in Hamburg seit dem Shutdown herausgekommen ist beziehungsweise bald veröffentlicht wird. Catharina Boutari aka Puder pendelt auf ihrem Album „Tomorrowland mit Freunden“ in traumwandlerischer Intensität zwischen Pop und Jazz. Die Punksupergruppe Trixsi slackert sich auf ihrer Platte „Frau Gott“ mit Haltung durch die Widrigkeiten des künstlerischen Daseins. Und die Band Jenobi sendet mit „Hundred Times“ einen wunderbar poppig-verschachtelten Vorboten ihres Albums „Patterns“, das am 18. September bei Grand Hotel erscheinen wird.

Nur drei Beispiele. Lieder, die da sind. Die uns niemand mehr nehmen kann. Die in die Welt reisen, während wir — weitestgehend — zuhause bleiben. Während wir im benachbarten Bundesland an den See fahren, statt in ferne Länder zu fliegen.

Virtuelle popkulturelle Reisen

Nachdem ich 2018 und 2019 verstärkt meine Selbständigkeit als Musikjournalistin und Texterin angeschoben hatte, sollte 2020 das Jahr werden, in dem ich wieder mehr reise. Zwei Wochen im Mai in meiner Schatzstadt New York sollten den Auftakt machen. Zu gerne hätte ich weitere Städte bereist, um wie im März vergangenen Jahres in Brüssel in die Popszene einzutauchen und darüber zu bloggen. Stattdessen stille ich mein Fern- und Fremdweh nun wie viele online. Unter anderem fing ich an, mich mit koreanischer Popkultur zu beschäftigen — inspiriert von den Berichten über die politische Power der K-Pop-Fans.

Vor allem koreanische Dramaserien haben es mir derzeit angetan. Zum einen fasziniert mich, dass sich die Genres darin viel stärker vermischen als hierzulande. Sprich: K-Pop-Songs dienen als Soundtrack, berühmte Sängerinnen und Sänger spielen in den Serien mit, das Unterhaltungsbusiness als solches ist häufig Thema der Handlung und moderne Technologien werden selbstverständlicher in die Geschichte eingebunden. Vor allem aber spricht mich an, wie langsam und poetisch das Storytelling funktioniert. So ein wenig Eskapismus tut äußerst gut angesichts eines ausgefallenen Festivalsommers und insgesamt weniger Möglichkeiten, seine Energien in Live-Kultur zu kanalisieren. 

Natürlich freue ich mich aber sehr darauf, wieder verstärkt über reale Events zu schreiben. Wie diese sich bis zu meinem dritten Blog-Jubiläum gestalten werden, darauf bin ich sehr gespannt.

Biggy Pops Corona-Chronik:

Deichkind in Hamburg: viral real – 8. März 2020

Corona: Wie du die Musikszene jetzt unterstützen kannst – 13. März 2020

Hört die Signale: Lob an das Akustische in Zeiten von Corona – 21. März 2020

Frau Hedi multiplizieren: Zeigt Eure Erinnerungen und bastelt die Barkasse – 7. April 2020

Introducing The Kecks: „Who gives a shit what is between your legs?“ – 29. April 2020

Ich vermisse das gute wilde Leben: ein Zwischenstand – 23. Mai 2020

Musikszene Hamburg: die Sache mit dem Streaming – 12. Juni 2020

Krach+Getöse: viel Neues beim Hamburger Newcomer-Preis – 18. Juni 2020

Endlich mal wieder: Livemusik erleben, Menschen begegnen – 28. Juni 2020

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Endlich mal wieder: Livemusik erleben, Menschen begegnen

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„Endlich mal wieder…“ Diese Formulierung höre und lese ich dieser Tage häufig. Viele erobern sich nach der ersten Corona-Welle kleine Freiheiten zurück. Mit Aktivitäten, die vor vier Monaten noch ganz normal gewesen wären. Einen Drink nehmen. Kultur erleben. Nähe herstellen. Ich für meinen Teil merke, wie elementar wichtig es ist, dass die Wirklichkeit wieder normal wird. Zumindest ein Stück weit. Das eins zu eins. Geräusche. Gerüche. Gesichter in 3D. 

Clubluft schnuppern lässt sich zum Beispiel hervorragend im Hinterhof des Molotow — mit Frischluft und auf Abstand, versteht sich. Im Backyard lädt das Team des Clubs in seine Outdoor-Schankwirtschaft. Ohne DJ-Sets. Aber mit sehr viel Lächeln hinter den Masken und spürbarer Freude, wieder Kontakt zum Publikum aufnehmen zu können. Es blutet mir zwar schon das Herz, dass die drei Etagen des Clubs brachliegen. Dass es dort still, leer und dunkel ist. Aber im Hinterhof des Molotow zu sitzen, lässt mich zumindest wieder anknüpfen an dieses Gefühl vom guten wilden Leben. 

Prä-Corona-Erinnerungen und Zeitloch im Molotow Backyard

Molotow, Schankwirtschaft, Corona, outdoor, Hinterhof, Drinks, BarErinnerungen tauchen auf, wie wir nach einem schweißtreibenden Konzert aus dem Saal nach draußen trudelten, um auszukühlen. Glänzende zerzauste Menschen, die von innen leuchten. Corona-bedingt ist nun alles ruhiger, moderater. Aber es entstehen neue Qualitäten. Der Molotow Backyard erweist sich als Zeitloch ähnlich einer Küche bei Partys. Oops! Schon vier Stunden rum? Wir reden und reden und reden und saugen dieses neue Ausgehleben auf. Und ab und an schauen wir in die Lichterketten. Und in die lange helle Juninacht. 

Diese Woche ist mir besonders bewusst geworden, wie sehr ich reale Treffen vermisst habe. Ich bin Journalistin und Texterin geworden, um Menschen zu begegnen. Um mich mit ihnen auszutauschen. Um über Musik, Kultur und Politik zu reden. Und um wahrzunehmen, was zwischen den Zeilen steht. Auch wenn ich die digitalen Möglichkeiten seit Beginn der Corona-Zeit zunehmend zu schätzen weiß: Von Angesicht zu Angesicht funktioniert diese Kontaktaufnahme oft nicht nur besser, sie macht mich auch schlichtweg glücklicher. Ich bekomme Inspiration, Impulse, neuen Schwung. Endlich mal wieder.

Dieses „Endlich mal wieder“-Gefühl

In den vergangenen Tagen hatte ich diverse Besprechungen und Interviews außerhalb der eigenen vier Wände. Und dank des guten Wetters unter freiem Himmel. Bei vielen war dieses „Endlich mal wieder“-Gefühl zu spüren. Verbunden mit einer großen Dankbarkeit. Gesund sein. Die kleinen Dinge schätzen. Eitel Sonnenschein herrscht dennoch nicht. Die Pop- und Kulturbranche ist nach wie vor enorm betroffen von der Corona-Krise. Existenzen sind ebenso bedroht wie die Vielfalt der Musiklandschaft. Aber das Aufbrechen, Hinausgehen und Loslegen macht Hoffnung.

Octavers, Ensemble, Probe, August-Lütgens-Park, Altona, Gesang, CoronaDeshalb habe ich mich extrem gefreut, diese Woche wieder Musik live zu erleben. Einmal selbst produziert. Einmal professionell im Konzert. Mit meinem geliebten Ensemble Octavers verabredeten wir uns im August-Lütgens-Park, um — auf Aerosol-Distanz — zu proben. Ein verwunschenes Stück Grün ist das da hinter dem Haus 3 in Altona. Definitiv sinnlicher als ein Zoom-Videocall. Alle gingen ihrer Dinge nach. Alte Frauen plaudernd beim Wein. Zwei Typen beim Abendbrot. Eine Kung-Fu-Klasse in dem einen Winkel, eine Pilates-Gruppe in dem anderen. Wir stellten uns unter einem der großen Bäume im Kreis, um unsere Folk-, Pop- und Countrysongs zu singen. Begleitet von unserem Sheriff Stefan Waldow an Ukulele und Melodica. Unsere Stimmen verflogen sich häufig im Rauschen der Blätter. Aber wir waren froh, uns endlich mal wieder zu sehen, zu haben, zu hören.

Das erste Konzert seit dem popkulturellen Shutdown

Am Samstag dann mein erstes Konzert seit Mitte März. Vor dem Shutdown hatte ich zuletzt die irre Sause von Deichkind in der Barclaycard Arena gesehen. Das Miniatur-Open-Air im Hinterhof des Klub.K in der Hamburger City ist nun das absolute Gegenteil zu diesem superlativen Prä-Corona-Remmidemmi. Das Betreiberduo Markus Riemann und Anne Gülck wollte es sich nicht nehmen lassen, das zehnte Jubiläum ihres charmanten Clubs zu begehen. Statt kuschelig im Innern am Steckelhörn zu feiern, haben sie nun unter freiem Himmel zwischen hanseatischen Backsteinmauern zur Corona-kompatiblen Show geladen. 

Endlich mal wieder, Klub.K, Konzert, Livemusik, Corona, Hinterhof, Hamburg, Markus Riemann, Anne Gülck, Bridge GigsAnne ist mit ihrer Agentur Bridge Gigs auf kleine feine Events spezialisiert. In den vergangenen Tagen hat sie bereits Konzerte vor dem Hobenköök im Oberhafenquartier sowie auf der Cap San Diego realisiert. Somit ist sie eine der ersten Veranstalterinnen in Hamburg, die wieder Live-Erlebnisse anbietet. Ihre Expertise für Veranstaltungen mit intimem Charakter macht sich jetzt, während der Pandemie, besonders bezahlt. 50 Leute passen in den Klub.K-Hinterhof. „Wir haben doch jetzt alle einen Jieper auf Livemusik“, sagt eine Besucherin. Stimmt. Der Abend ist ausverkauft — und zwar nicht als spontaner Walk-In, sondern mit Anmeldung und Vorkasse. 

David Ost zu Mauerseglern, Kirchenglocken und Gläserklirren

Das kleine Team hat reichlich Arbeit in die Vorbereitungen investiert. Denn der Hof, der sonst Parkplätze beherbergt, hat keine veranstaltungstechnische Infrastruktur. Das heißt: Kabel verlegen. Eine improvisierte Bar errichten. Lichtstrahler installieren. Und mit reichlich Abstand Stühle aufstellen. Da sind die zehn Euro Eintritt wirklich nichts dagegen. Denn es gibt ja auch noch Musik.

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Der Singersongwriter David Ost singt seelenerweiternde Songs zur akustischen Gitarre.  Die Klänge fliegen die Backsteinmauern empor. Ein paar Mauersegler schreien. Die Glocke der nahen Katharinen-Kirche läutet. Und in der Ecke geht mit lautem Klirren ein Glas zu Bruch. Kleine Gesten. Beherzte Zwischenrufe. Real applaudieren (und nicht als Emoji).  Absolut beglückend ist das. Willkommen zuhause. 

Das Wort „Zugabe“ nicht in eine Kommentarspalte schreiben

David Ost sagt, er sei nicht so der Typ, der lange Ansagen macht. Und dann etabliert er doch eine Art Running Gag, indem er jeden Song als eine seiner Singles ansagt. „Jetzt kommt meine übernächste Single“. „Meine aktuelle“. „Meine erste Single“. „Und die kommende“. Zunehmendes Lachen seitens des Publikums. Eine Eigendynamik, die so nur live entstehen kann. Dieses Bescheidwissen einer Gemeinschaft, die im Konzert entsteht.

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Sehr schön fühlt es sich zudem an, das Wort „Zugabe“ nicht wie beim Online-Streaming in eine Kommentarspalte zu schreiben, sondern es wirklich zu rufen. Und dann beim Pausenbier mit anderen über das Gehörte zu reden. Bis schließlich das große Draußen, die Natur ebenfalls mitmischen möchte. Es beginnt zu gewittern.

Wunschlieder an Wolkenbruch

Eigentlich wollte Klub.K-Betreiber Markus Riemann gemeinsam mit dem Musiker Ofield zahlreiche Wunschlieder der Anwesenden spielen. Stattdessen gibt es zweieinhalb Coversongs in strömendem Regen. Inklusive Oasis’ „Wonderwall“ mit Wolkenbruchchor. Zuhause vor dem Rechner mag es trocken sein. Aber live bedeutet eben auch: anders als geplant. 

Ich freue mich jedenfalls schon sehr, noch mehr Musikern, Popkünstlerinnen und Bands wahrhaftig zu lauschen. Das nächste Mal bei den Knust Acoustics, die am 1. Juli auf dem Lattenplatz verspätet in ihre Saison starten. Endlich mal wieder. 

Übrigens: Anne und Markus haben die Klub.K-Kommunity gegründet. Für einmalig 50 Euro erhalten Mitglieder viele tolle Goodies — und zugleich reichlich Karmapunkte für ihren Club-Support.

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Ich vermisse das gute wilde Leben – ein Zwischenstand

St. Pauli, Hamburg, Band, Musik, Rock 'n' Roll, Davidstraße, Bars

Wie lässt sich das Vakuum füllen, das durch den Ausfall des guten wilden Lebens entsteht? Es gab die Schockstarre im März. Es gab Versuche, sich zu orientieren. Und es gab einen April, der wie ein Fingerschnippen verging zwischen Corona-News, Arbeiten und Adaption. Jetzt, im Mai, habe ich das Gefühl, ein Plateau erreicht zu haben. Einen Zwischenstand. Ich habe mich gewöhnt an reduziertere Tage. Es geschieht weniger. Zumindest äußerlich. Der Input, die Inspiration und Irritationen, die Konzerte und Nachtleben in sich bergen, sind etwas Dahinfließendem gewichen. Etwas Ruhigem und Innerlichem.

Statt auszugehen lese ich stundenlang. Romane sind zu meinem Surrogat geworden für das, was gerade nicht ist. Ich verschlinge Geschichten, die mit Musik zu tun haben. L.A. in den den 70er („Daisy Jones & The Six“). Hamburg in den 90ern („Harte Jungs“). New York in den Nuller-Jahren („How to kill a rock star“). Chemnitz in den 2010er-Jahren („Superbusen“). Mit all diesen Büchern ziehe ich durch Kaschemmen und Clubs. Ich diskutiere mit ihren Figuren an imaginierten Tresen die Songzeilen von fiktiven Bands. Ich betrinke mich zwischen den Zeilen und nüchtere im nächsten Kapitel wieder aus. 

Zustände, die uns zusammenhalten

Dieser erfundene Rock ’n’ Roll lenkt mich ab von realer Melancholie. Und die Freude an der popkulturellen Dichtung lässt mich kurz das Entsetzen über absurde Verschwörungserzählungen vergessen. Wort für Wort wird mir beim Lesen zudem klar, was ich in dieser neuen Wirklichkeit vermisse. 

Ich vermisse es, an einen Ort zu kommen und nicht genau zu wissen, was passiert. Sich auf ein Abenteuer einzulassen. Sich neu erfinden zu können. Ich liebe es, am Anfang des Abends in einen Club zu gehen. Und der Saal riecht noch nach den Aufregungen der vergangenen Nacht. Oder Stunden später in eine Bar zu stolpern. Und alles schlägt einem entgegen: Songs und Stimmen und Rauch und Überschwang. Ich merk was auf der Haut und das macht Sinn. Schnaps in den Fugen des Tresens. Schweiß in der Luft. Zustände, die uns zusammenhalten.

Ich vermisse die ganze himmelhochjauchzende Eigendynamik

Ich vermisse es, mich in eine Ecke zu schieben und mir all die Gesichter anzuschauen. Dicht an dicht. Wie sie sich durch die Lautstärke anschreien. Sich gerade die Welt erklären. Oder ihr Leid klagen. Oder ihre Euphorie teilen. Ich mag es, wie Gespräche ins Absurde abgleiten. Und dann unterbrochen werden, da der DJ dieses eine Lied auflegt, das keine Unterhaltung duldet.

Ich vermisse die Blicke und die Konfusion und die Körpersprache und die ganze himmelhochjauchzende Eigendynamik. Berühren und sich berühren lassen. Wie alle Menschen in der Nacht feine Fäden spinnen und diese über Tanzflächen, Tresen und Treppen ziehen, durch Straßen und Hinterhöfe, bis ein wunderbar chaotisches, alles verbindendes Knäuel entsteht. 

Die kulturellen Katalysatoren abhanden

Ich vermisse es, auf der Tanzfläche zu stehen. Von Licht und Dunkelheit geschluckt zu werden. Und dann setzt ein zigfach gehörtes Stück ein. „Red Eyes“ von The War On Drugs zum Beispiel. Da ist dieser treibende, aber noch verhaltene Beat. Und dann nach fast zwei Minuten explodiert die Musik und eine Moment lang ist da dieses Glück, absolut präsent zu sein und sich doch selbst vergessen zu können. 

Die kulturellen Katalysatoren sind uns derzeit abhanden gekommen. Ich vermisse es, einen Musiker auf der Bühne zu sehen, der wie ein gefallener Engel singt. Seine Verletzlichkeit zu spüren und meine eigene zu erkennen. Ich möchte wieder einer Band zuhören, deren Chemie beweist, dass mehrere Leute gemeinsam viel mehr sind als die Summe der einzelnen Teile. Ich will von einem Sound durchdrungen werden, dessen Wucht und Schönheit auf etwas Größeres verweist. Energie, Hoffnung, Freiheit. 

Wie alles weitergeht

Immer wieder wird in den vergangenen Wochen betont, dass Pop und Kultur ebenfalls systemrelevant sind. Ich merke jedenfalls, dass sie relevant für mein System sind. Ich  bin unsicher, aber gespannt und auch optimistisch, wie das alles weitergeht. Bis dahin ist es wichtig, zu vermissen. Denn mit diesem Gefühl lässt sich anknüpfen an die Zukunft.

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Frau Hedi multiplizieren: Zeigt Eure Party-Erinnerungen und bastelt die Barkasse

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Diesen Donnerstag hätte ich als DJ Biggy Pop meine Saison auf der Hedi begonnen. Frau Hedi, genauer gesagt. Jener Barkasse, auf der sich zu rock ’n‘ rolligen Klängen über die Elbe schippern lässt. Schwimmender Club. Wogende Kaschemme. Nussschale der Herzen. 

Ich liebe es, zum Fluss herunterzuradeln. Meine Musik im Rucksack. An den Landungsbrücken 10 steige ich die schmale Treppe hinab. Die Hedi liegt leicht schaukelnd an der Innenkante. Die famose Crew wuchtet gerade Bierkisten, Flaschen und Eis an Deck. Ahoi und Hallo, Umarmungen und Handschläge. Ein kleines feines Nachhausekommen, ein Nachdraußengehen nach dem Winter, der zwischen Wänden verbracht wurde. Zwischen den eigenen. Aber auch zwischen denen von Musikclubs, Konzerthallen und Bars. Das gute wilde Leben. Eine Art von Verbinden. 

Hedi ist eine menschenfreundliche, aber auch querdenkende Gastgeberin

Nach einem kleinen Soundcheck hätte dann der Einlass begonnen. Ich mag es sehr, wenn sich das Boot füllt. Den Leute steht diese Erwartung einer guten Zeit ins Gesicht geschrieben. Diese Vorfreude und Offenheit. Ich spiele gerne ein wenig Ankommensmusik, während die Hedi auf die Elbe hinausrollt. Am Dock 10 vorbei. Hin zu den Ecken, Winkeln und Schleusen im Hamburger Hafen. Positive Sounds sollen es sein, zu denen sich ein erstes Getränk bestellen lässt. „Wann strahlst du?“ von Erobique & Jacques Palminger ist zum Beispiel ein guter Song, um auf die spezielle Atmosphäre der Hedi einzustimmen. Denn die Hedi ist eine äußerst menschenfreundliche, aber auch querdenkende Gastgeberin. Ballermann ist ihre Sache nicht. Dafür das Schöne, Schräge, das alle Umarmende. 

DJ, Biggy Pop, Frau Hedi, boat, cruise, Hamburg, Harbour, Club, PartyIch schaue mir immer gerne an, welche Menschen an Bord sind. Was könnte ihr Herz erfreuen. Was bringt sie womöglich zum Tanzen. Spiele ich mehr Soul oder mehr Indierock oder mehr  Hip-Hop oder mehr Pop? Am liebsten ohnehin von allem das Gute. Zu Beginn einer Tour hängen viele erst einmal im Außen. Im großen Oh und Ah. Die Kräne und die Köhlbrandbrücke, die Schiffe und der Sonnenuntergang. Stunde um Stunde und Schnaps um Schnaps richtet sich die Aufmerksamkeit dann langsam nach Innen. 

Der Corona-Konjunktiv

Aus all den sehnsuchtsvollen Seeleuten wird nach und nach bestenfalls eine große schaukelnde Partycrew. Alle tanzen dann Walzer zu Peter Sarstedt oder klopfen sich mitsingend auf die Brust bei Queen. Sie liegen sich in den Armen bei Britney Spears oder schütteln ihr Haar zu Peaches. Die Enge des Raums. Das Auf und Ab. Der Blick auf die Lichter der Stadt. All das ist dann verdichtetes Glück. 

Dieses Jahr ist alles anders. Dieses Jahr ist alles ein großes Eigentlich. Hätte, würde, könnte. Der Corona-Konjunktiv. Doch um den Hedi-Spirit aufrechtzuerhalten, habe ich mir eine Aktion überlegt. Zur Freude aller, die das gemeinsame Feiern auf der Elbe vermissen. Und auch, um mir den ausgefallenen Auflege-Abend ein wenig zu versüßen.

Aktion diesen Donnerstag: die Hedi-Multiplikation

Lasst uns gemeinsam mit Frau Hedi durch das Netz schippern. Postet diesen Donnerstag (9.4.) ab 20 Uhr Eure Hedi-Erinnerungen auf Euren sozialen Plattformen. Auf Facebook, Instagram, von mir aus auch auf Twitter und was ihr sonst noch so nutzt. Eure Fotos und Filme aus den vergangenen Hedi-Jahren werden so am Donnerstag zum kollektiven Party-Törn. Und falls Ihr gerade kein Archivmaterial zur Hand habt: Erzählt einfach eine kleine Hedi-Anekdote.

Frau Hedi, Hedi, Barkasse, Boot, boat, cruise, Party, DJ, Biggy Pop, DIY, Badewanne, Gitarrenmann, Rettungsring, Discokugeln, Party, Club, Szene, Musik, Music, PopOder, tadaa: Bastelt Eure eigene Hedi! Ich habe zum Beispiel eine Tupperschüssel zu Barkasse umgebaut und in meiner Badewanne vom Stapel gelassen. Nutzt Tassen, Töpfe und Krimskrams. Baut die Hedi-Kloschlange mit Plüschtieren nach. Fabriziert ein DJ-Pult aus Keksen. Verkleidet Euch als Hedi-Kapitän. Die Kreativität ist so weit wie ein Fluss. Am besten noch: Lasst — wenn vorhanden — Eure Kinder die Hedi malen oder bauen. Die können das im Zweifelsfall ohnehin viel besser und bunter.

Neumodisch hieße diese Aktion wohl: Challenge. Irgendwie scheint alles eine Challenge zu sein dieser Tage: Fit bleiben, Abstand halten, Karaoke singen, die Nerven bewahren, an die Wand starren. Die Hedi ist aber keine Herausforderung. Die Hedi ist Freiwilligkeit, Freude, Laufenlassen. Deshalb soll das Ganze hier nicht Challenge heißen, sondern: Frau Hedi multiplizieren. Denn Frau Hedi multiplizieren heißt: Freude vervielfältigen. Also: Wenn Ihr ein Stichwort oder einen sogenannten Hashtag verwenden mögt, dann diesen: #frauhedimultiplizieren.

Die Musikszene unterstützen

Das Ganze ist natürlich ein hübscher Versuch. Teilt diesen Beitrag gerne und sagt es allen weiter. Mal sehen, ob jemand mitmacht.  Aber ich freue mich jetzt schon auf jeden einzelnen Beitrag — als Überbrückung, bis wir uns alle in der Realität wiedersehen. Mit Bier in der Hand und Seegang im Herzen.

Diese Aktion hat aber auch einen ernsten Hintergrund: Viele Hamburger Musikclubs, darunter auch Frau Hedi, sowie zahlreiche DJs, Musikerinnen und Musiker, Bands, Technikerinnen, Booker, Veranstalterinnen und andere Akteure aus der Popbranche sind vom Corona-Shutdown in ihrer Existenz bedroht. Lasst uns zeigen, dass dieses freiheitliche Leben in Clubs und Bars, auf Konzerten und Festivals nicht wie selbstverständlich aus unserem Leben verschwunden ist. Und wenn Ihr ein paar Euro auf Eurem Konto übrig haben solltet, dann spendet gerne, zum Beispiel hier: 

Hedi-Soli-Ticket
S.O.S. — Save Our Sounds: Spendenaktion der Clubstiftung
Support your local musician — Spendenaktion RockCity Hamburg

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Hört die Signale: Lob an das Akustische in Zeiten von Corona

Holzfigur, Gitarre, Mann, Radio, Haus

Am Freitag lag ich um 8.45 Uhr noch im Bett und schaltete das Radio an. Europaweit spielten Radiostationen „You’ll Never Walk Alone“ von Gerry & The Pacemakers. Ein Zeichen des Zusammenhalts während der Corona-Krise. Wie die meisten war ich in dieser Woche damit beschäftigt, mich irgendwie an das neue eingeschränkte Leben anzupassen. Ein Schwanken zwischen Angst, Unsicherheit, Genervtsein, Pragmatismus und Optimismus. Als ich dann diesen Song auf Deutschlandfunk Kultur hörte, stieg tatsächlich ein Gefühl der Verbundenheit auf. Allein zuhause, zusammen in der Musik. Und ich musste darüber nachdenken, wie wichtig in Zeiten wie diesen das Akustische ist. 

Miu Friends Stay home screenshotMit #staythefuckhome gehen alle unterschiedlich um. Dennoch lässt sich in diesen aufreibenden wie merkwürdigen Tagen eine Besinnung auf Wesentliches ausmachen. Wer sich in häusliche Isolation begeben hat, freut sich über hörbare Signale, um irgendwann nicht bloß nach dem potenziellen Pfeifen in der eigenen Lunge zu horchen. Sei es nun beim Lauschen von Platten, Playlists oder Podcasts, beim Radiohören oder Telefonieren. 

Akustische Trostpflaster für den Verzicht auf das gute wilde Leben

Musikerinnen und Musikern sowie DJs kommt während des viel zitierten Social Distancing eine besondere Rolle zu. Einerseits sind sie vom Shutdown der Kultur in der analogen Welt besonders hart getroffen. Andererseits sind es genau all die grandiosen Popkünstler, die uns jetzt akustische Nahrung liefern. Sie streamen, singen und senden. Sie können nicht anders. Zum Glück. 

Tonbandgerät Band daheim ScreenshotDas akustische Online-Angebot wächst und wächst. Hörbare Trostpflaster für den Verzicht auf das gute wilde Leben. Aus Hamburg verschickt hinaus in die Welt und hinein in die Häuser. Der Musiker Tom Klose lässt seine „Quarantunes“ aus dem heimischen Studio ertönen und Soulsängerin Miu erschafft mit Freunden mal eben den funky Ohrwurm „Stay home“. Das Team von Michelle Records hält seine legendären Schaufenster-Konzerte auch ohne Publikum am Leben und Tonbandgerät spielt uns zu viert im Splitscreen eine umgedichtete Version ihres Songs „Ich komm jetzt heim“. Das Uebel & Gefährlich präsentiert im „Survivalmode-Livestream“ tolle Electro-DJs und das leere Molotow lädt zur Depri Disko. 

#coronaoke: Lasst uns albern und absurd sein, glamourös und wahrhaftig

Apropos Molotow: Eigentlich wollte ich am heutigen Samstag mit einer Freundin im Krug auf St. Pauli essen gehen und danach den Rock ’n’ Roll-Club der Herzen am Nobistor besuchen. Hoch oben in der Skybar sollte die Karaoke Trash Night mit Nik Neandertal und VJ Wasted steigen. Stattdessen schaue ich mir im Netz nun die Menschen an, die unter dem Hashtag #coronaoke die Songs anderer singen. Befeuert wird dieser akustische (okay, und auch visuelle) Trend von berühmten Charismatikern wie Robbie Williams. Motiviert von hunderten Herzen seiner Fans interpretiert er da in bestem Partymodus etwa „Staying Alive“ von den Bee Gees. 

Singen hilft, und zwar nicht nur bühnen- und kamera-erprobten Popstars. Lieber Klang in jeder Faser statt Panik im Kopf. Da ich derzeit auf die Proben mit meinem geliebten Country-Ensemble Octavers verzichten muss, habe ich zuhause auf dem Laptop einfach ein paar der unzähligen Karaoke-Videos angeschmissen. Singalong alone. Warum nicht. Lasst uns säuseln, schreien und schmettern. Lasst uns albern und absurd sein, traurig und pathetisch, glamourös und wahrhaftig, schön und schräg. Lasst uns einen vielstimmigen Chor bilden in dieser Stadt. Selbstzensur ist verboten. Lasst es raus.

21 Uhr: You’ll never klatsch alone

Zum Einstieg für das heimische Karaoke böte sich zum Beispiel „Islands In The Stream“ an, um sich vor dem soeben gestorbenen Kenny Rogers zu verneigen. Die Country-Ikone hatte den Song zusammen mit Dolly Parton eingesungen. Somit lässt sich das Ganze sogar mit verstellten Stimmen intonieren, falls ihr alleine zuhause seid. 

Und um 21 Uhr stellen wir uns dann kollektiv auf die Balkone und hängen uns aus den Fenstern für das wohl schönste und wichtigste akustische Signal während dieser Pandemie. Das Klatschen für all jene, die den Laden am Laufen halten. Für das gesamte medizinische Personal. Aber auch für die Menschen, die in Supermärkten oder für die Müllabfuhr arbeiten. So einfach ist dieses Geräusch zu erzeugen. Und so stark hallt es durch die Straßen. In meiner Nachbarschaft spielte jemand dazu Trompete. Vielleicht singen wir bald alle zusammen abends „You’ll Never Walk Alone“. Ich wäre dabei.

Die Hamburger Musikszene lässt sich durch Spenden unterstützen:

#coronaclubrettung des Clubkombinats
#musicsupporthh von RockCity

Zum Nachhören:

Nachtclub Überpop auf NDR Info zum Thema Karaoke mit den Gästen Nik Neandertal und Patrick Siegfried Zimmer, moderiert von Andreas Moll und yours Birgit Reuther aka Biggy Pop

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