Subkultur, Studios, Songcomics — drei Hamburger Musikbücher

Für mich ist dieser zweite Lockdown, in Kombination mit der winterlichen Dunkelheit, eine Phase verstärkten Rückzugs. Ich liebe es, mir Geschichten erzählen zu lassen oder mir tagträumend selbst welche auszudenken. Habe ich im Corona-Frühling vor allem Romane gelesen, die im Musikkontext spielen, reist der Geist nun in entferntere Gefilde. Soeben habe ich mit „Pachinko“ einen Roman der koreanisch-amerikanischen Autorin Min Jin Lee beendet, den ich sehr empfehlen kann. Sie schreibt äußerst empathisch über Buchcover, Pachinko, Min Jin Leekoreanische Einwanderer der ersten, zweiten und dritten Generation im Japan des 20. Jahrhunderts. Es geht um Entwurzelung und das Gefühl einer innerlich zerrissenen Identität, um Liebe und Loyalität, um Aufstiegsstreben und Moral. Parallel zu solch längeren Lektüren begleiten mich in den vergangenen Wochen und Monaten drei Musikbücher, die aus Hamburg stammen beziehungsweise mit der Stadt assoziiert sind. Und die ich immer wieder zur Hand nehme: „Hamburg Calling“ über die hiesige Punkszene Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre. „Soundlotsen“ über Hamburger Musikstudios. Und der Band „Sie wollen uns erzählen“, der Tocotronic-Songs in Comicform zeigt. Alle drei Bücher möchte ich hier gerne vorstellen.  

„Sie wollen uns erzählen — zehn Tocotronic-Songcomics“

Zeichnerinnen und Zeichner haben in dem Buch „Sie wollen uns erzählen“ zehn Lieder von Tocotronic als Comicstrips illustriert. Das fasziniert mich direkt auf mehreren Ebenen. Die Band begleitet mich seit Mitte der 1990er-Jahre und ist für mich mit ihrer Musik definitiv lebensprägend, wie ich auf meiner Webseite unter der Rubrik „Jukebox“ bereits geschildert habe. War Tocotronic mit ihrem Sound und ihrer Haltung doch ein Grund, warum ich in den 90ern an die Elbe zog.

So betrachte ich nun also die Bilder in diesem Comicband und lese die Songzitate, die in die Panels integriert sind. Und sofort läuft in meinem Kopf dazu die passende Musik. Das sind schöne Momente mich sich selbst. Zu merken, was für ein Schatz an Liedern da in einem ruht. Und wie sie sich abrufen lassen, selbst wenn kein Abspielgerät in der Nähe ist. Eine innere Jukebox. Akkorde, die in einem aufsteigen. Der Beat, der genau an der richtigen Stelle eines Verses einsetzt. Weil zuvor hundertfach gehört und gefühlt. 

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Jim Avignons Interpretation des Toco-Hits „Digital ist besser“

Zudem freut es mich sehr zu erleben, was für starke Assoziationen die Stücke bei anderen auslösen. Jede und jeder mit eigenem Stil, mit individuellem Strich. Sie wollen uns erzählen. Und die Geschichten entwickeln ein Eigenleben. Jim Avignon etwa macht aus der frühen Tocotronic-Nummer „Digital ist besser“ eine expressionistische Hass-Liebe-Story zwischen Mensch und Maschine.

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Zwei Panels aus dem Comicstrip von Tine Fetz zum Tocotronic-Song „Der schönste Tag in meinem Leben“

Tine Fetz verdichtet „Der schönste Tag in meinem Leben“ zu einer schwarz-weißen Ode auf die melancholische Schlenderei. Sie wirft in ihren Zeichnungen die Frage auf, welche Ereignisse uns wirklich beeinflussen. Geburt und Tod, Reisen und Errungenschaften. Oder sind es die Augenblicke, in denen wir alleine an einer Bushalte sitzen. Wie sich die Zeit zerdehnt, während das Herz nicht weiß wohin mit sich, davon erzählt Julia Bernhard. Sie hat den Song „Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“ mit wunderbar kantigen wie hoch poetischen Bildern umgesetzt. Ein Versinken in Verliebtsein. 

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Julia Bernhard illustrierte den Song „Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“

Erläuterungen von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow ergänzen die Comicstrips. Und eine von Schlagzeuger Arne Zank gezeichnete Band-Geschichte schließt dieses wunderschöne Buch ab. Herausgegeben wurde „Sie wollen uns erzählen“ von dem Journalisten Michael Büsselberg im Ventil Verlag. 

„Hamburg Calling — Punk, Underground und Avantgarde 1977-1985“ 

Als der Punk in Deutschland einschlug, war ich noch im einstelligen Alter unterwegs. Insofern bin ich immer äußerst dankbar für historische Musikbücher, die einem das Lebensgefühl einer Ära nahebringen können. „Hamburg Calling — Punk, Underground und Avantgarde 1977-1985“ ist solch ein Werk. Der Hamburger Journalist Alf Burchardt hat sich gemeinsam mit dem Fotografen Bernd Jonkmanns auf Spurensuche begeben.

In Interviews mit markanten Figuren der Szene führen sie mitten hinein in eine popkulturelle Phase voller Ausprobieren und Scheitern, voller Pogo und Diskussionen. Eingebettet in bewegte Zeiten zwischen sozialer Enge, Aufbruch und Radikalisierung. Die RAF-Suizide prägten das Land ebenso wie Hausbesetzungen in der Hafenstraße und die US-Präsidentschaft von Ronald Reagan. Von England aus kam der Soundtrack zu diesem gesellschaftlichen Spannungsfeld in die Hafenstadt Hamburg.

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Szene aus der Markthalle in den frühen Jahren des Hamburger Punk, abgedruckt im Buch „Hamburg Calling“

Alf Burchardt unterhält sich etwa mit Alfred Hilsberg, den man heute wohl als den Influencer der Hamburger Musikwelt schlechthin bezeichnen würde. Mit einem unglaublichen Gespür für Außergewöhnliches schrieb Hilsberg nicht nur als Journalist über aufstrebende Bands. Er veranstaltete auch Festivals wie „In die Zukunft‟ im Jahr 1979. Er gründete mit Zickzack ein legendäres Label und veröffentlichte Sampler wie „Geräusche für die Achtziger‟, verlegt bei Robert Nitz vom Hamburger Plattenladen Unterm Durchschnitt.

Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen wiederum attestiert der damaligen Szene etwas „Mackermäßiges“. Frauenquote: mau. Immerhin kommen mit Anja Huwe und Mona Mur auch zwei passionierte Punk-Protagonistinnen zu Wort. 

Interessant ist, wie das Buch die Entwicklung des hiesigen Punk darstellt. Vom harten Prügelsound zu etwas Raffinierterem. Von Big Balls & The Great White Idiot zu Palais Schaumburg als Wegbereiter der Neuen Deutschen Welle. Ein gutes Beispiel für die Kommerzialisierung des Undergrounds. Die Verwertungszyklen werden immer kürzer. Und ich habe mich nach der Lektüre gefragt, wo sich heute noch derartige Freiräume gerade für junge Menschen befinden. Wo findet Abgrenzung und Entgrenzung statt? Bei versteckten Raves? In Winkeln des Internets? In Codes und Zeichen, die die Erwachsenen (hoffentlich) nicht mehr verstehen?

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Hamburger Subkultur, fotografiert von Ilse Ruppert, dokumentiert im Buch „Hamburg Calling“

Toll finde ich an „Hamburg Calling“, dass die Interviews kurz und knackig sind. Wie ein guter Punksong. Wumms und gut. Angerührt haben mich die vielen Fotos, die von der Grafikerin Sabine Schwabroh, der Fotografin Ilse Ruppert sowie von Amateuren stammen. Zu sehen sind junge, unretuschierte, rohe, verschwitzte, pickelige Gesichter, die so gar nichts mit der heutigen Instagram-Ästhetik zu tun haben. 

Der Band ist im Junius Verlag erschienen, wo Bernd Jonkmanns im vergangenen Jahr bereits das Buch „Hamburg Vinyl“ realisiert hat. Für die NDR-Reihe Nachtclub Überpop habe ich mit Alf Burchardt gesprochen. Und es gibt diverse Songs aus dieser Zeit zu hören. Zudem empfehle ich von Herzen den Podcast 60+ der gemeinnützigen Initiative Oll Inklusiv. In Folge 6 bringt Gastgeberin Mitra Kassai „Deutschlands ersten Punk“ Jäki Eldorado ins Gespräch mit einem Freigeist jüngeren Alters, nämlich mit Lars Lewerenz vom Label Audiolith.    

„Soundlotsen — eine Tour durch Hamburger Musikstudios“ 

Bereits im Frühjahr brachte mir Alexander Gramlich dankenswerter Weise ein Exemplar der „Soundlotsen“ vorbei. Meine Liebe zu Musikstudios habe ich ja bereits mehrfach geschildert, unter anderem nach einem Besuch von Clouds Hill Recordings in Rothenburgsort. Und so war und bin ich schwer begeistert von diesem Buch, das in Bild und Wort durch diese Orte und zu ihren Protagonisten führt. Für mich ist „Soundlotsen“ Inspiration und Nachschlagewerk gleichermaßen.

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Linda Gerdes, zuhause bei Clouds Hill Recordings, fotografiert für das Buch „Soundlotsen“

Das Kapitel über die Boogie Park Studios in Ottensen etwa las ich zur Vorbereitung, als ich dort Newcomerin Zoe Wees für das Abendblatt traf. Und das Interview mit Recording und Mixing Engineer Linda Gerdes — eine der wenigen Frauen im Produktionsgeschäft — inspirierte mich dazu, sie in meine Sendung Nachtclub Überpop einzuladen. 

Die Bandbreite der popkulturellen Produktionsorte, die „Soundlotsen“ präsentiert, ist phänomenal. Von retro bis high-end. Von der Subkultur bis zum Staraufgebot. So erinnert sich etwas Franz Plasa daran, wie Mariah Carey einst seine H.O.M.E. Studios in der Bogenstraße buchte: „Am großen Aufnahmetag warteten ab 17 Uhr alle auf den Star. Um 23 Uhr bekam ich schließlich einen Anruf, Mariah sei im Flugzeug eingeschlafen — und niemand traut sich, sie zu wecken.“ Es geht aber in dem Buch weniger um anstrengende, wenngleich auch amüsante Allüren. Vielmehr steht die Kunst im Mittelpunkt, wie sie sich an dieser Schnittstelle von Technik, Sound und Mensch verdichtet.

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Auch Hans-Jürgen Steffen von den Hamburger Gaga Studios wird im Buch „Soundlotsen“ porträtiert

Und auch der Wandel der Produktionsbedingungen ist Thema in „Soundlotsen“, wie etwa Frank Spilker von seinem Die Sterne Studio in Altona erzählt: „Ich amüsiere mich immer, wenn ich meinen Gesang aus den 90ern höre, weil ich eigentlich ständig erkältet war. Das Studio war damals gebucht und du hattest keine Zeit auf eine freie Nase zu warten. Heute ist alles mobil und du kannst zu jeder Zeit und an jedem Ort aufnehmen.“ Sein Fazit: „Konzept geht vor Gerätepark“. Letztlich geht es auch darum, diese künstlerischen Keimzellen als urbane Freiräume zu erhalten. So zeigt das Beispiel des Hafenklang-Studios, wie da ein Gebäude als schöner schroffer Brocken inmitten der polierten Immobilienperlenkette am Flussufer liegt.  

Realisiert haben dieses selbstverlegte Buch der Fotograf Thomas Duffé, die Autoren Sascha Krüger und Thomas Soltau, der Grafiker Florian Zeh und Alexander Gramlich als Ideengeber und Interviewkoordinator. Alexander ist ein äußerst umtriebiger Musikenthusiast, der unter anderem den Mailorderversand Copasetic betreibt. Einer der vielen Kulturschaffenden im Hintergrund, die die Hamburger Szene lebendig halten. 

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