Reeperbahn Festival 2021 Fazit — von der Schlange in die Zukunft

„Ich habe verschiedene Möglichkeiten, auf Umbruchzeiten zu reagieren“, erklärt Transformationsforscherin Maja Göpel auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival. Und dass die Gesellschaftswissenschaftlerin zu dieser sehr besonderen 16. Ausgabe eingeladen wurde, ist äußerst passend. Denn Maja Göpel thematisiert Wut und Unsicherheit, aber auch Optimismus angesichts all der Veränderungen, die derzeit geschehen. Sie stellt sicher geglaubte Garantien und Gesetzmäßigkeiten in Frage. Und ihr zukunftsoffener Ansatz, die Verhältnisse jetzt gemeinsam gestalten zu müssen, lässt sich auf ganz unterschiedliche Ebenen übertragen. Auf globale Herausforderungen wie eine nachhaltige Klimapolitik, für die am Freitag allein in Hamburg 80.000 Menschen auf die Straße gingen. Aber auch auf kleinere Kontexte wie das Reeperbahn Festival, das von Mittwoch bis Samstag auf und um St. Pauli über diverse Bühnen ging. Für Livekonzerte von gut 250 Acts aus 27 Ländern wurden mehr als 20.000 Tickets verkauft. Hinzu kamen rund 2000 Delegierte aus der Musikbranche, die ebenfalls die Konferenz des Reeperbahn Festivals besuchten. 

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Maja Göpel bei der Eröffnung des Reeperbahn Festivals 2021 – fotografiert von Niklas Heinecke.

Ist es sinnvoll, eine Veranstaltung wie das Reeperbahn Festival im zweiten Corona-Jahr so anzugehen, als gelten die Strukturen der Vor-Pandemie-Zeit letztlich noch immer? Also: Rein in den Club, Konzert erleben, auf zum nächsten Club. Hier und da hineingucken. Entdeckungen machen. Sich treiben lassen. Dieses alt hergebrachte Modell stieß aufgrund der Hygiene-Maßgaben in den Spielstätten schnell enorm an seine Grenzen. Wenn die Clubs nur mit 40 bis 60 Prozent Kapazität bespielt werden dürfen, ist vor allem bei kleinen Läden wie Häkken, Molotow oder Indra sehr bald Einlassstopp angesagt. 2021 wird wohl als das „Jahr der Schlange“ in die Geschichte des Reeperbahn Festivals eingehen. Das zeichnete sich bereits zum Auftakt am Mittwoch ab. 

Geduldsproben im Sturm- und Regenkanal

Vor dem Festival Village auf dem Heiligengeistfeld kringelte sich eine Schnecke an Menschen hin zum 3G-Desk. Diese Container waren quasi die Corona-Vorstufe vor der eigentlichen Ausgabe der Festivalbändchen. Gegen Test, Impf- oder Genesenennachweis erhielt jede und jeder ein zweites Extraband, um die Veranstaltung sicherer besuchen zu können. Die Sonne schien freundlich herab. Und so wurde das Warten fröhlich in Kauf genommen angesichts erster bekannter Gesichter, die beim Anstehen auftauchten. Und angesichts der Vorfreude auf viel kommende Livemusik. 

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Anstehen für Musik: Schlange vorm Nochtspeicher – fotografiert von Lidija Delovska.

Die Musikfans waren eindeutig hungrig und hoch motiviert, sich endlich wieder mit möglichst vielen Konzerten vollzupumpen. Den Popspeicher aufladen. Den Sound spüren. Zumal im vergangenen Jahr nur eine noch wesentlich reduziertere Variante des Festivals realisiert worden war. Allerdings wurde die Geduld selbst der gelassensten Personen auf eine harte Probe gestellt. Schließlich betrug das Verhältnis von Schlangestehen und Musikgenuss an manchen Festival-Abenden in etwa 80 zu 20 Prozent. Einige gaben sogar ganz auf. Denn als am Donnerstag das Wetter kippte, war es zunehmend schwer, das Ganze als munteren Ausnahmezustand zu interpretieren. Eine Dreiviertelstunde stand ich zum Beispiel vor dem Mojo Club an. Dort hatten findige Architekten eigens einen Sturm- und Regenkanal gebaut, um die Kleidung der Anwesenden zu testen. Ironiemodus off. 

Endlich wieder ein Indoor-Konzert im Stehen

Belohnt wurde ich im Anschluss allerdings mit meinem ersten Steh-Indoor-Konzert seit 18 Monaten. Die Hip-Hop-Formation Glauque aus dem belgischen Namur präsentierte eine eindringliche Show, die den ganzen Körper in Schwingung versetzte. Geschmeidiger französischer Rap-Flow traf da auf einen komplexen Band-Sound, der akzentuierte Beats mit avantgardistischen Eskapaden verknüpfte. Das Publikum stand auf Abstand in Reihen. Und dennoch fühlte es sich beim umjubelten Ende des Auftritts endlich ansatzweise wieder so an, als entstehe da ein kollektiver Organismus im Groove. Etwas, das größer und dynamischer ist als das Individuum. Jenes Gefühl, dass sich auf dem Sofa via Stream (noch) nicht herstellen lässt. Und ich musste zudem natürlich sehr an meinen Aufenthalt in Brüssel denken, wo ich 2019 einen Monat in die Musikszene eintauchen konnte. Weitere solcher Pop-Blog-Residenzen hatte ich für 2020 und 2021 geplant. Es sollte anders kommen. Aber: Die Zukunft steht nach wie vor und erneut weit offen. 

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Musik, Kunst, Verweilen: Blick aufs Festival Village auf dem Heiligengeistfeld – fotografiert von Christian Hedel.

Wie flexibel sind wir? Wie viel Frust lässt sich hinnehmen? Welche Alternativen lassen sich ausloten? Und wohin möchte ich meine Energie lenken? Diese Fragen funktionieren für mich im Großen wie im Kleinen. Da ich keine Lust auf weiteres langes Schlangestehen hatte, wurde das Reeperbahn Festival für mich hauptsächlich zum Open-Air-Event. Auf der Ausweich-Location Draußen im Grünen in Planten un Blomen sah ich zum Beispiel ein äußerst launiges Konzert von Scott Matthew und seiner Band. Der australische Singer-Songwriter entzückte uns vor allem mit seinen leicht verpeilten Rotwein-Ansagen sowie seinen Cover-Versionen. Mitsingen zur fein arrangierten Folk-Variante von Whitney Houstons „I Wanna Dance With Somebody“? Warum nicht. Strahlt die mit bunten Blumen bepflanzte Parkbühne doch ohnehin leichten Fernsehgarten-Charme aus. 

Das Wagnis eines Festivals in Corona-Zeiten

Solch beglückende Eindrücke am Rande des Festivals täuschten aber nicht darüber hinweg, dass das Geschehen eigentlich auf der gut zwei Kilometer entfernten Reeperbahn stattfinden sollte. Und am Spielbudenplatz stand das Docks wie der pinke Elefant im Raum. Ebenso wie die Große Freiheit 36 hatte der Club an seiner Aussenfassade ein Forum für Verschwörungserzählungen geboten. Zahlreiche Veranstaltende aus der Musikbranche hatten daraufhin gemeinsam erklärt, die Zusammenarbeit vorerst aufzukündigen. Eine gute und richtige Entscheidung. Corona hat uns auch konsequenter darin gemacht, mit wem wir Zeit verbringen und welches Verhalten wir dulden wollen. Mit allen Folgen. Wenn zwei Spielstätten fehlen, die vor Corona jeweils mehr als 1000 Menschen aufnehmen konnten, reißt das schlichtweg eine große Lücke in die Festival-Planung. 

App Reeperbahn Festival
Nachricht aus der App des Reeperbahn Festivals.

Hätten weitere Spielstätten direkt auf St. Pauli gefunden werden können? Wurden insgesamt zu viele Tickets verkauft? Hätte die Kommunikation besser gesteuert werden können? Zu Recht beschwerten sich die Besucher*innen in den sozialen Netzwerken über mangelnde Ansagen in der Festival-App und vor den Spielstätten selbst. Mit den organisatorischen Problemen wird sich das Reeperbahn Festival gewiss in den kommenden Wochen und Monaten beschäftigen. Zugleich sei aber ein riesengroßes Lob ausgesprochen, dass sich das Team in der höchst dynamischen Corona-Lage zwischen 2- und 3G-Verordnungen überhaupt auf das Wagnis eines viertägigen Veranstaltung eingelassen hat. Und die erlebten Überlastungen schieben womöglich auch weitere Fragen und Prozesse an.

Dieser gewisse Buzz in Hamburg

Wie lassen sich generell neue Räume für Pop- und Subkultur erschließen? Inwiefern lässt sich Clubkultur während und nach Corona neu denken? Wie viel Wachstum für eine Veranstaltung wie das Reeperbahn Festival ist künftig sinnvoll? Ein Zurück zur alten Normalität jedenfalls wird und kann es nicht geben. Diesen Standpunkt machte Kultursenator Carsten Brosda während des Reeperbahn Festivals gleich mehrfach deutlich. Etwa beim „Soundcheck Hamburg“, dem Empfang der Interessengemeinschaft Hamburger Musikwirtschaft im Grünen Jäger. Oder bei der Reception des Verbands RockCity Hamburg vor dessen Büro zwischen Schanze und Karoviertel. 

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Schnaps und gute Worte gab’s bei RockCity.

Überhaupt: das sogenannte Netzwerken. Ich habe es beim diesjährigen Reeperbahn Festival enorm genossen, so vielen Menschen leibhaftig zu begegnen. Entweder bei Branchenveranstaltungen und Länderempfängen tagsüber, bei Konzerten oder einfach so auf der Straße. Es war wieder dieser gewisse Buzz zu spüren. Dieses gemeinschaftliche Energie. Ich habe mit Leuten gesprochen, die ich bisher nur vom Telefon oder Zoom-Call kannte. Oder die ich wirklich lange nicht im echten Leben gesehen hatte. Was mich zudem richtig glücklich gemacht hat: Menschen kennenlernen. Einfach so. Im Flow. Weil man einander vorgestellt wurde. Oder weil man schlichtweg nebeneinander stand. Wer bist Du? Was machst Du? Was bewegt Dich? Wunderbar.

Nettes Netzwerken: Musikbranche meets Minigolf

Eine meiner liebsten Off-Zusammenkünfte des Festivals fand dieses Jahr ebenfalls wieder statt: Das Nett-Working des Hamburger Labels Euphorie und der Veranstaltungsagentur Koralle Blau. Diesmal wurde, wie es sich für richtige Business-Anbahnungen gehört, Golf gespielt. Nun gut: Minigolf. Im Nieselregen. Mit einem Schläger für ein fünfköpfiges Team. Ohne Caddy. Dafür mit reichlich Flaschenbier und noch mehr guter Laune. Meine Crew „So heiß wie ein Vulkan“ hat weder eine Flasche Crémant noch das schöne GiGaGolf-Copyshop-Shirt gewonnen. Aber das Herz — und auch das Adressbuch — war danach wieder etwas voller. Was auch daran liegt, dass die Gastgeber es stets verstehen, die Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Wer ankommt, wir in einem Team bunt zusammengewürftelt. Ganz simpel und doch so effektiv.

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Pressekonferenz der Initiative Keychange im East Hotel auf St. Pauli – fotografiert von Lidija Delovska.

Wie wollen wir miteinander leben? Im Konferenzteil des Reeperbahn Festivals wurde diese Frage aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Vom Austausch über Mental Health bis zu politischen Panels, mit Diskussionen über Fördermodelle bis hin zur Debatte über Kunstfreiheit. Ich selbst habe am Donnerstag eine Pressekonferenz von Keychange moderiert. Die Initiative hat gemeinsam mit der MaLisa Stiftung eine Studie zum Thema „Geschlechtervielfalt in der Musikbranche“ vorgestellt. Und was soll ich sagen? Es ist noch reichlich Luft nach oben. Viele gefühlte Wahrheiten vom Gender-Pay-Gap bis zu Old-Boys-Clubs wurden aufs Ernüchterndste bestätigt. Zum Beispiel: 96 Prozent der Frauen, aber nur 65 Prozent der Männer im Popbusiness haben schon einmal geschlechtsspezifische Erfahrungen gemacht. Dabei wurden 78 Prozent der Frauen mit unangemessenen Witze oder Kommentaren konfrontiert. 

Keychange-Studie: Die jüngere Generation fordert Diversität ein

Elisabeth Furtwängler, auch bekannt als Musikerin Kerfor, berichtete auf dem Panel von der Arbeit der MaLisa-Stiftung, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter Maria gegründet hat. Ein Fokus liegt dabei auf der Wirkmacht von audiovisuellen Angeboten. Also von jener Realität, mit der vor allem die jüngere Generation sehr selbstverständlich aufwächst. Gleichzeitig, so ergab die Studie, legen gerade die 16- bis 29-Jährigen verstärkt Wert auf Diversität bei Musikangeboten. Ein Ergebnis, das als Mahnung an Unternehmen der Branche gelten darf, nicht in traditionellen Monokulturen zu verharren. Reeperbahn-Festival-Geschäftsführer Alexander Schulz sieht dabei nicht nur die Veranstaltenden in der Pflicht, sondern auch die Verantwortlichen für Radioprogramme und Playlisten. 

Merle Bremer, Projektleiterin bei Keychange, erläuterte wiederum die Bedeutung der Quote, um eine langfristige Geschlechtergerechtigkeit auf den Weg zu bringen. Mit ihrer Pledge strebt die Initiative an, dass mindestens 50 Prozent weibliche und non-binäre Artists auf und hinter der Bühne sowie in der Musikbranche insgesamt aktiv sind. Das Reeperbahn Festival treibt dieses Anliegen maßgeblich voran. Und so habe ich auch dieses Jahr starke Künstlerinnen erlebt. Etwa das isländische Hip-Hop-Kollektiv Daughters Of Reykjavik, das Rap, Tanz, Fashion, Freude und Attitüde aufs Unterhaltsamste vereint. 

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Jada mit Band im Indra beim Reeperbahn Festival.

Glück in Musik — große Popmomente im kleinen Indra

Auch die dänische Sängerin Jada sorgte im kleinen Indra für große Popmomente. Mit Band und drei Background-Sängerinnen lieferte sie eine Show ab, die irgendwo zwischen Destiny’s Child und Indie-Rock changierte. Ich war sofort schockverliebt in ihre Stimme. Und in das Selbstverständnis, mit dem Jada stolz ihren schönen dicken Körper im engen Latexoutfit präsentierte. In ihrer Heimat Dänemark gilt Jada bereits als Sensation, hierzulande will sie erst noch entdeckt werden. 

Volker Bertelmann, Hauschka, Pianist, Talk, Schmidtchen, Hamburg
Volker Bertelmann alias Hauschka beim Talk im Schmidtchen.

Aber wie genau lässt sich Erfolg überhaupt messen? Und was bedeutet Anerkennung für einen einzelnen Künstler? Am Freitag sprach Pianist Volker Bertelmann alias Hauschka äußerst inspirierend darüber, inwiefern Karriere, Auszeichnungen und persönliches Glück überhaupt zusammenhängen. 2017 war er gemeinsam mit Komponist Dustin O’Halloran für einen Oscar nominiert. Für den Soundtrack zum Filmdrama „Lion — der lange Weg nach Hause“. Sich nicht auf Zurückweisungen fokussieren, sondern auf das eigene Schaffen. Auf das Machen. Auf die Kunst. Das ist eine seiner Erkenntnisse. Zudem: Nicht zwingend allen gefallen wollen. Das Ego nicht zu sehr ans Ruder lassen. Sich professionelle Unterstützung holen und austauschen. Mich beeindruckt diese Art von selbstbewusster Demut. Gepaart mit einem Vertrauen darauf, dass sich positive Fügungen ergeben werden. Die Dinge sind im Fluss. Mit Steinen und Stromschnellen, aber auch mit Energie und Schönheit. Und mit Musik sowieso.

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Yard Act, Band, Post punk, Leeds, Anchor Award, Hamburg
Herzlichen Glückwunsch: Die Post-Punk-Band Yard Act aus Leeds gewinnt den Anchor Award 2021 – fotografiert von Mirko Hannemann.