Nun ist es also vorbei, das 15. Reeperbahn Festival. Und das erste unter Pandemie-Bedingungen. Mit 140 Talks und Vorträgen, mit Filmen und Kunst, aber vor allem natürlich mit: Konzerten. Die Gemengelage, wie diese außergewöhnliche Veranstaltung denn nun zu bewerten ist, bringt Eric Pfeil, Sänger der Kölner Band Die Realität, besonders gut auf den Punkt. Beim Auftritt im Molotow bedankt er sich zunächst sehr nachdrücklich bei den Organisatoren. Das sei alles beispiellos gut gelaufen. Um dann direkt den Bogen zu schlagen. „Natürlich ist das alles perspektivlos.“ Sprich: Diese vier hoch subventionierten Tage Livemusik in Hamburg können nicht als Präzedenzfall gelten für den normalen Konzertbetrieb in Corona-Zeiten. „Der Winter wird hart“, sagt Eric Pfeil dann noch. Im Anschluss der Song: „Der Sommer ist vorbei.“ Zumindest der trockene Humor hat in Krisenphasen Konjunktur. Pfeils Maske baumelt derweil an seinem Mikroständer. Symbolbild 2020.
Für mich verdichtet sich in dieser einen Stunde im Molotow am letzten Festivaltag sehr viel. Gefühlt bin ich in diesem Club am Ende der Reeperbahn schon an jeder Ecke ausgerastet, habe getanzt, geschwitzt, getrunken, gelacht, geheult und Musik in jeder Faser gespürt. Dicht an dicht mit Menschen, die Popkultur und Rock’n’Roll ebenso als kollektiv beglückendes Ereignis lieben. Die die Entgrenzung feiern. Die etwas Freies suchen. Nun ist alles kontrollierter. Ich warte in einer Schlange, checke via QR-Code mit meinem Handy ein, desinfiziere meine Hände und nehme auf einem der distanziert angeordneten Stühle vor der Bühne Platz.
Welche Optionen hat die Musikbranche, um zu überleben?
Mein Herz pendelt während dieses Reeperbahn Festivals permanent zwischen „dass ich das 2020 überhaupt erleben darf“ und „wo ist das gute wilde Leben“. Während ich zu Beginn des Festivals noch verstärkt damit beschäftigt bin, die neuen Pandemie-Abläufe zu erlernen, verschiebt sich meine Stimmung zum Ende hin. In Gedanken und Gesprächen geht es zunehmend darum: Was war das Ganze jetzt? Und: Was wird kommen? Also: Welche Optionen hat die Musikbranche, um in Zeiten von Corona zu überleben?
In den vergangenen zwei Jahren war ich sonntags, wenn ich mein Festival-Fazit schrieb, immer erfüllt von diesem unvergleichlichen Gefühl aus Erschöpfung und Euphorie. Jetzt ist es eher ein komplexes Gemisch aus Sorge und Melancholie, Glück, Dankbarkeit und ja, auch Optimismus.
Festival-Organisation in herausfordernden Zeiten
Ein riesengroßes Merci geht raus an das Team des Reeperbahn Festivals und an alle Enthusiasten in den Hamburger Spielstätten. Sie haben das Experiment gewagt, Livemusik erlebbar zu machen in diesen herausfordernden Zeiten. Dabei polarisiert ihr Engagement durchaus. Eine der zentralen Fragen lautet zum Beispiel, ob in Richtung Politik und Gesellschaft ein falsches Signal gesendet wird. Unter dem Motto: Geht doch, läuft doch, ist doch alles prima in der Popkultur. Dazu mehr am Ende dieses Blogposts.
Diverse Diskussionen drehen sich während des Reeperbahn Festivals um den „Betreuungsschlüssel“ zwischen Security und Gästen. Einigen ist deutlich zu viel Personal anwesend, das checkt und erklärt, ermahnt und einweist. Da die gesamte Veranstaltung ein ultimativer Testballon ist, denke ich mir eher: „Better safe than sorry.“ Zumal alle Arbeitenden auf den Open-Air-Flächen und in den Clubs überaus freundlich sind und sich gerne auch mal auf einen kleinen Schnack einlassen.
„Die Tasche kenne ich schon“, sagt am vierten Festivaltag einer der Kontrolleure am Einlass zu mir. Das zeugt natürlich einerseits von großer Aufmerksamkeit im Job. Andererseits illustriert es auch sehr anschaulich die Laborsituation dieser Reepandemie-Ausgabe. Das heißt: Gut 8000 Besucherinnen und Besucher an vier Tagen sind eben keine 50.000. Die Corona-Edition des Festival fühlt sich unglaublich lokal an. Und mitunter auch recht leer.
Lokal vor Ort, international im Stream
In den vergangenen Jahren habe ich ausdauernde Konzertgänger, die ich aus der Hamburger Szene kenne, teilweise das gesamte Festival lang nicht gesehen ob des üppigen Angebots. Dieses Mal wundere ich mich fast, wenn ich nicht jeden Tag sämtliche vertrauten Gesichter erspähe.
Ich habe es sonst immer sehr geliebt, dass die Welt während des Reeperbahn Festivals spürbar zu Gast in Hamburg ist. Verschiedene Sprachen, viele Impulse. Nun ist eher Hamburg zu Gast in Hamburg. Kombiniert mit dem reduzierten Programm (wo war eigentlich der Hip-Hop) hat das eine unglaubliche Entschleunigung zur Folge. Allerdings gehe ich nicht zur Erholung auf ein Festival. Ich möchte, dass es vibriert. Dass ich positiv überfordert bin.
Mir ist ein Satz hängengeblieben von Holger Stein, der sich im Festival-Team darum kümmert, die Gästeströme zu koordinieren. Also er prüft, für welche Konzerte noch Kapazitäten vorhanden sind und welche Shows voll sind. Sein Statement: „Ich mache den Job ja nicht, um eine ruhige Zeit zu haben.“
Newcomer Ätna gewinnt Anchor-Award
Eine Ahnung von Internationalität kommt eher in der Streaming-Welt des Reeperbahn Festivals auf. Experten lassen sich für die diesjährige Online-Only-Konferenz eben einfach aus allen Ländern dazuzoomen. Das digital angelegte kostenpflichtige Fachprogramm wird von 1480 Registrierten aus 37 Nationen rund 28.000 Mal angeklickt, teilt das Festivalteam mit. Und wenn drei der Juroren des Newcomer-Awards Anchor aus New York via Bildschirm mit der real in Hamburg anwesenden Moderatorin Hadnet Tesfai sprechen, ist das eine durchaus gelungene Umsetzung.
Das Reeperbahn Festival ist und bleibt ein Entdecker-Festival — auch in Zeiten von Corona. Gewonnen hat den renommierten Nachwuchspreis Anchor das hochgradig sympathische Duo Ätna aus Dresden. Und in ihrer Award-Performance tun sie zu ihrem impulsiven Electro-Pop etwas, das selten geworden ist dieser Tage: sie tanzen exzessiv.
Spielfreude der Bands, Jobs für die Crews
Ich vermisse die durchdrehende Menge. Das Krawall und Remmidemmi zur Livemusik. Die Gäste — alleine oder zu zweit stehend auf Klebepunkten oder sitzend auf Abstand — verhalten sich häufig sehr ruhig und gesittet vor den jeweiligen Bühnen. Wurde die Kulturtechnik des (zumindest leichten) Tanzens verlernt in den vergangenen Isolationsmonaten? Oder fehlt einfach der wohlige Schutz des Gedränges?
Dennoch funktionieren diese Corona-Konzerte für mich und ich bin insgesamt äußerst positiv überrascht, dass es doch immer wieder berührende Festivalmomente gibt. Denn was für mich wirklich alle äußeren Umstände wettmacht, ist die Spielfreude und Dankbarkeit der Musikerinnen und Musiker, die nach Hamburg gekommen sind (oder sowieso in der Stadt wohnen). „Für diesen Augenblick hat es sich gelohnt, sich monatelang in den Proberaum einzuschließen“, erklärt etwa Fabian Livrée, Sänger der Dortmunder Band Drens, die am vierten Festivaltag auf dem Spielbudenplatz direkt neben der Reeperbahn auftritt. Und ihren rauen wie melodiösen Surfrock in der Nachmittagssonne zu erleben, macht unglaublich viel Spaß. Guter Druck, gute Energie. Und ein guter Sound.
Extra ausführlich zählt Fabian Livrée die Mitglieder seiner Crew auf. Die Technikschaffenden haben für einige Tage wieder etwas zu tun. Insofern kann das Reeperbahn Festival auch als Signal gelten, dass all die Berufe der Branche weiterhin benötigt werden. Dieses kurze Beschäftigungsintermezzo darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass 2020 schlichtweg eine Katastrophe für das gesamte Popbusiness war und ist.
Signalwirkung Richtung Politik
Vielen Bands auf dem Festival dürfte es wohl so ergangen sein wir Milliarden aus Berlin. Deren Sänger Ben Hartmann ruft von der Festivalbühne auf dem Heiligengeistfeld: „Yeah, heute feiern wir unseren Tourauftakt 2020.“ Applaus und Jubel. „Und dieses Konzert ist zugleich auch unser Tourfinale.“ Bitter.
Von daher kann von dem diesjährigen Reeperbahn Festival unter Pandemie-Bedingungen nur ein Zeichen ausgehen: Wir haben es versucht. Aber diese Art von Kulturproduktion zu Corona-Zeiten funktioniert nur mit Geld. Sehr viel Geld. Statt der regulären 600.000 Euro Unterstützung von Bund und Land hat das Reeperbahn Festival dieses Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Euro erhalten. Das heißt: Rund drei Viertel der Sause sind subventioniert.
Letztlich bräuchte es also für sämtliche in naher Zukunft stattfindenden Konzerte eine Fehlbedarfsförderung in etwa diesem Verhältnis. Solange, bis die Clubs und Hallen wieder Shows mit voller Kapazität fahren können. Also vermutlich, wenn ein Impfstoff gefunden und verbreitet worden ist.
Festival-Nachlese online und Vorfreude auf 2021
Livemusik und Kulturproduktion darf weder zum Luxus werden, noch gänzlich verschwinden. Die Gesellschaft braucht Hoch-, Sub- und Popkultur, Avantgarde und Mainstream als Motor und Korrektiv, als Inspiration und Projektionsfläche, für Eskapismus und Diskurs. Natürlich war und ist Corona derzeit das alles prägende Thema. Aber im Zuge der Pandemie dürfen die Inhalte nicht auf der Strecke bleiben.
Ich werde mir im Laufe der kommenden Tage gewiss noch einige Aufzeichnungen vom Reeperbahn Festival anschauen. Von Konzerten und Talks, die ich verpasst habe. Autorin Kübra Gümüşay etwa verhandelte im Resonanzraum im Rahmen des Keychange-Programms die Macht der Sprache. Und Veranstalter Björn Hansen sprach mit anderen Experten über Nachhaltigkeit in der Eventbranche. Es ist Zeit, auch wieder Themen in den Fokus zu rücken. Sich über Haltungen auszutauschen. Und mit diesem Know-how unsere veränderte Zukunft zu gestalten.
Mit riesiger Freude habe ich gelesen, dass Südkorea im kommenden Jahr Partnerland des Reeperbahn Festivals sein wird. Da ich mich seit einigen Monaten verstärkt mit K-Pop und koreanischen Dramaserien befasse, macht mir das große Lust auf 2021 (hier lässt sich zum Beispiel meine K-Pop-Sendung für den NDR Info Nachtclub Überpop nachhören). Ich hoffe inständig, dass sich in einem Jahr Reisen und Veranstaltungen wieder angemessen realisieren lassen. Wie sagt Drangsal so schön bei seinem Festivalauftritt Freitagnacht: „See you on the other side“.
Biggy Pop Reeperbahn Festival-Tagebuch 2020:
Vorschau und Konzept — hyprid durch die Pandemie
Tag 2 — die Konferenz im Stream
Tag 3 — musikalische Highlights
Stories vom Festival gibt’s in den Highlights bei Biggy Pop auf Instagram
Corona und die Popkultur:
Auf diesem Blog beschäftige ich mich seit März mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Popkultur. Die bisherigen Beiträge lassen sich hier nachlesen.