„Mein Beitrag‟ mit Mia Morgan: Widersprüche groß denken

„Ich schreibe meine Songs in erster Linie für mich selber‟, sagt Mia Morgan ganz eindeutig. Also dass sie genau die Musik macht, die sie selbst gerne hören möchte. Wo ist da also der gesellschaftliche Beitrag zu finden, den ich in meinem aktuellen Blogprojekt erkunde? An vielen Stellen, möchte ich meinen. Mia Morgan zeigt den unbedingten Willen, die eigene künstlerische Persönlichkeit in all ihrer Ambivalenz zu entfalten. Überhöht und wahrhaftig zu erleben auf ihrem Debütalbum „Fleisch‟ sowie in ihrer Social-Media-Präsenz. Mit all ihren Brüchen und ihrer Vielschichtigkeit sitzt Mia Morgan nicht zwischen den Stühlen, sondern ist auf den Barrikaden. Und zwar in dem Sinn, dass sie Szenen und Milieus nicht brav bedienen mag. Das Grelle irritiert das distinguierte Indiepublikum. Das Abgründige verstört den Mainstream. Sie absorbiert popkulturelle Referenzen von den 80ern bis zur Meme-Ästhetik, um sie in ihr ganz eigenes Mia-Morgan-Universum umzuwandeln. Und letztlich ist ihre radikale Selbstfindung äußerst sozial motiviert. 

Feminismus und Schönheits-OPs, Mental Health und Glamour, Drastik und Spaß – Mia Morgan spielt mit vermeintlichen Gegensätzen, löst sie auf oder verstärkt sie. Wie es ihr gefällt. Und damit macht sie überdeutlich, was eigentlich klar sein sollte, aber in so mancher beflissenen Diskussion gerne mal ausgeblendet wird: Es gibt nicht den einen richtigen Weg, um gesellschaftlich relevante Inhalte zu transportieren. Insofern war ich sehr gespannt, mich mit Mia Morgan für mein Blogprojekt „Mein Beitrag‟ auszutauschen. In dieser Artikelreihe spreche ich darüber, welche Impulse junge Popkünstler*innen mit ihrer Musik, Persönlichkeit und Performance in die Gesellschaft hineingeben. Mia Morgan trägt keine Agenda vor sich her. Aber sie singt schonungslos, poetisch, amüsant und anregend, wie unsere komplexe Gegenwart an uns zieht und uns pusht. On- und offline. Sehnsüchte und Scheitern. All die Gleichzeitigkeiten. Das Dunkle, Peinliche und Wurschtelige, das kollidiert mit Ideen von Perfektion, mit hehren Zielen. Sei es im Privaten oder im Sozialen. 

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Mia Morgan, fotografiert von Max Sand (alle anderen Bilder ebenso).

Auseinanderklaffen von klarem Ideal und komplizierter Menschlichkeit

„In mir und in vielen anderen Personen gibt es einfach widersprüchliche Gefühle. Dass man einen Blick auf die Welt hat, der sich nicht eindeutig einordnen lässt. Den Political-Correctness-Diskurs und den Versuch, faire Sprache für alle zu entwickeln und Leute für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen, finde ich einerseits super gut‟, erklärt Mia Morgan. „Aber andererseits vergessen manche auch, dass sich die Dinge nicht immer eindeutig benennen lassen bei Themen, die nicht politisch sind, sondern emotional.‟ Ein gutes Beispiel für das Auseinanderklaffen von klarem Ideal und komplizierter Menschlichkeit ist ihr Song „Schönere Frauen‟. Zu kühlen Beats besingt Mia Morgan das Streben nach gutem Aussehen. „Des einen Kokain ist für mich Fleisch in Symmetrie.‟ Schönheit als Währung und Obsession. Natürlich lassen sich Beauty-Standards kritisieren. Ein gutes Anliegen. Aber wie sieht es im Innern aus? Findet es da nicht doch fortwährend statt, das Vergleichen mit anderen? 

„Es geht nicht nur darum, dass man andere Leute bewundert, sondern dass man selber diese Oberflächlichkeit verinnerlicht hat. Dass man das Gegenüber nach dem Aussehen negativ beurteilt und sich selbst für zu schön für andere hält. Dieses Gefühl kann gleichzeitig existieren mit der eigenen Unsicherheit‟, sagt Mia Morgan, die eine sehr offene Gesprächspartnerin ist. Sie erzählt ebenso von ihrer Magersucht als Mädchen und ihrer Borderline-Diagnose wie darüber, dass sie sich Hyaluronsäure in die Lippen hat spritzen lassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Mia Morgan über Körperlichkeit und auch sexuelle Vorlieben singt, erscheint mir ehrlicher und auch schonungsloser als so manches artig aufgeklebte Diversitätslabel.

Mia Morgan als Animé-Charakter, der sich blutig am Patriarchat rächt

Mia Morgan, Sängerin, Album, Fleisch, Blogprojekt, Mein Beitrag, Pop, Musik„Immer wieder sehe ich Männer oder nicht-binäre Leute / auf den Straßen, in der Stadt und in der Bahn / und ich will auf ihre Schöße, will sie fressen, wenn wir küssen / vielleicht können sie mir geben, was du mir nicht geben kannst‟, proklamiert Mia Morgan in „Schönere Frauen‟. „Für mich war das kein groß ausgearbeitetes Ziel, dass der Song inklusiv wird. Ich bin queer. Und wenn ich jemanden auf der Straße gut finde, weiß ich ja auch nicht, ob das auch ein Typ ist, nur weil ich die Person als männlich lese.‟

Wie sie selbst als Frau ihre Umwelt erlebt, hat sie zu dem Song „Segen‟ inspiriert. Zum stark von Synthesizern getriebenen Sound kanalisiert sie Traumata, Unmut und Wut. Und Mia Morgan ermächtigt sich in all ihren Facetten. „Wie ich mich definiere, meinen Körper inszeniere / Und mich online präsentiere / Kleide und artikuliere / Selber sexualisiere / Über alle Maßen liebe / Mich radikal selbst akzeptiere / Das könn’n sie nicht zensieren‟, heißt es in „Segen‟. In dem Video inszeniert sie sich als Animé-Charakter. Eine Superheldin, die sich blutig am Patriarchat rächt. „Ich erlaube mir, wütend zu sein in dieser Fantasiewelt, in der überspitzten Darstellung. Es ist okay, rauszugehen und laut zu sein.‟ 

Der Song „Teenager‟: sich ungut verschoben und deplatziert fühlen

Mia Morgan, Sängerin, Album, Fleisch, Blogprojekt, Mein Beitrag, Pop, MusikMir gefällt die Attitüde sehr gut, mit der Mia Morgan ihre Kunst und sich selbst groß denkt. Vergleichbar mit Popkünstlerinnen im anglo-amerikanischen Raum, wo weibliche Mega-Acts selbstverständlicher scheinen als hierzulande. „In Deutschland ist die Musikbranche nach wie vor sehr männerdominiert. Die Bands, die nach einer Pandemie direkt eine Tour ausverkaufen können, das sind Typen. Manche davon sind meine besten Freunde und manche davon finde ich extrem unsympathisch. Aber das ändert nichts daran, dass die gewollt werden.‟ Mia Morgan sieht sich in einem Zwiespalt. Einerseits: „Ich bleibe besonnen und mache mein Ding.‟ Andererseits: „Irgendwas läuft hier schief, wenn die 300. Band mit vier Typen ähnlich klingende Musik macht und damit hoch chartet‟. 

Immer wieder verhandelt und überhöht Mia Morgan das Wechselspiel von Innen und Außen, von Selbst- und Fremdwahrnehmung und all den Nuancen dazwischen. Sich ungut verschoben und deplatziert zu fühlen, verdichtet sie aufs Schönste in dem Song „Teenager‟. Inklusive Kajagoogoo-Verweis und Pogo-Pop-Part. In dem Video bewegt sie sich als grotesker Clown auf einer Vernissage schwarz gekleideter Bescheidwisser. Die eigene Eigenartigkeit zu umarmen und zu feiern, ist ein Prozess, der Zeit braucht. Seit ihrem 13. Lebensjahr ist sie in Therapie, erzählt Mia Morgan, die in Kassel aufwuchs. „Wenn ich etwas Gutes aus der ganzen Sache ziehen kann, dann das ich mich selber sehr gut kenne. Ich weiß genau, was ich für eine Person bin. Es hat aber lange gedauert, mir zuzugestehen, dass diese Person, die ich bin, sehr vielseitig sein kann. Dass ich Interessen haben kann, die sich widersprechen. Um das vollkommen zu zelebrieren, musste ich erst 25 werden.‟

„Das Ganze so stark auf Popstar trimmen wie möglich‟

Möchte sie als Popkünstlerin auch Vorbild sein, vor allem für Mädchen? „Ich würde es mir wünschen. Ich kann mir nicht den Schuh anziehen, eine verantwortungsvolle Vorbildfunktion zu erfüllen. Einfach, weil ich kein perfekter Mensch bin. Und weil ich auch Eigenschaften und Angewohnheiten habe, die man sich vielleicht nicht von mir abgucken sollte‟, sagt die Sängerin. Dass ihr Lipgloss satt glänzt, heißt noch lange nicht, dass für sie alles zuckrig Bling und Glitzer ist. Seit Monaten findet sie keine Wohnung, lebt aus Kartons, jobbt nebenbei, erzählt Mia Morgan. „Und gleichzeitig ich versuche trotzdem das Ganze so stark auf Popstar zu trimmen wie möglich.‟ Sie ist stolz darauf, den unbequemen Weg zu gehen. „Vielleicht kann das anderen, insbesondere Mädchen, Mut machen, an dem festzuhalten, was sie wirklich machen wollen. Also sich nicht in etwas zu fügen, was auf den ersten Blick praktischer erscheint.‟ 

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Ich finde es äußerst ansprechend, wie Mia Morgan auf ihrem Album verstärkt weibliche Narrative erschafft. Und dabei immer wieder Erwartungen unterwandert. Der Titelsong „Fleisch‟ etwa handelt weder von sexuellen Begierden, noch von Essverhalten, wie sich vermuten ließe. In dem Stück seziert Mia Morgan eine toxische Mädchenfreundschaft. Ein Ungleichgewicht in solch einer jungen Beziehung. Mit Zeilen wie „allerbeste Freundin / frisst Du dich schön an mir satt‟ entwirft sie pointierte Bilder für eine zerstörerische Symbiose. Die viel zitierte Teenage-Angst ist in diesem Popsong eben kein Jungsthema wie etwa in vielen klassischen Coming-of-age-Filmen. 

Pop in Deutschland habe nicht den Anspruch, Reibung zu erzeugen

Und wie sieht sie generell die Verbindung zwischen Musik und Gesellschaft? „Ich wünschte, dass es in Deutschland eine krassere Wechselwirkung geben würde. Die ganzen großen Leute, die Radio-Pop machen, trauen sich nicht, den Mund aufzumachen und über etwas anderes zu singen als irgendwelche Dates und durchzechten Nächte‟, erklärt Mia Morgen. Die Songs müssten ja nicht einmal politisch sein. Aber vielleicht ein bisschen persönlicher. „Ein bisschen weniger wie ein Horoskop in der ‚Bild der Frau‘.‟ Pop in Deutschland habe nicht den Anspruch, groß zu sein und Reibung zu erzeugen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie Mia Morgan ihre Marke im hiesigen Mainstream setzen wird.

Die bisherigen Teile von „Mein Beitrag‟:

Dunya aus Hamburg

K.ZIA aus Brüssel / Berlin

Still Talk aus Köln

Mulay aus München / Berlin

Mino Riot aus Saarbrücken

Anoki aus Schweinfurt / Berlin

Rauchen aus Hamburg

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