Es ist mal wieder Zeit für eine Ausgabe von „Biggy Pop — Take Five“. Diesmal geht es um neue, neu zusammengewürfelte und noch unbekanntere Bands aus Hamburg, die mir in der jüngeren Vergangenheit aufgefallen sind. Und denen ich ein größeres Publikum wünsche. Da ihre Musik eine besondere Energie vermittelt. Eine Haltung. Etwas Interessantes. Allen gemein ist ein ausgeprägter Sinn für gemeinsames Musizieren und die inspirierende Verbundenheit in einer Szene. Ein kollektiver Spirit, der Eigensinn keineswegs ausschließt. Das gefällt mir sehr gut. Die Bandbreite reicht dabei von Rock bis Pop. Im Einzelnen wird die Rede sein von Dunya, Roller Derby, Pony Royale sowie Klebe. Und von Onemillionsteps, die gar nicht „neu“ sind, aber dennoch jetzt erst an ihrem Debütalbum arbeiten. Ein ewig schwelender Geheimtipp sozusagen, den es neu zu entdecken gilt.
Dunya: Dunkelheit, Intensität und Wärme
Die Band Dunya habe ich diesen Sommer live im Molotow Backyard auf St. Pauli gesehen. Das Quintett war als Vorband für die Garage-Rock-Herren Hawel / McPhail gebucht, mit denen sie sich die Plattenfirma La Pochette Surprise teilen. Und wie bei anderen Konzerten dieses enorm umtriebigen Hamburger Labels erlebten wir auch diesmal eine äußerst positive Überraschung. Dunya umweht ein sehr heutiger Retro-Charme. Mit ruhiger Kraft entfesselt die Band einen psychedelischen Sound, der mitunter durchzogen ist von orientalischen Melodielinien. Verzerrte Gitarren werden ins Orchestrale überführt, fallen aber auch wieder zurück in die Reduktion, wo spannungsgeladene Details dann umso mehr schillern dürfen. Eine atmosphärische Dichte, die getragen und beflügelt wird von Banu Sengüls starkem elegischen Gesang. Da liegt so viel Dunkelheit, Intensität und Wärme in ihrer Stimme, dass wir alle schockverliebt sind.
Die Sängerin und Gitarristin singt auf Englisch und Türkisch, woher auch der Bandname stammt (auf Deutsch: Welt). Und sie erzählt unter anderem von der Verbundenheit des Menschen mit der Natur. In dem Song „Toprak“ plädiert Dunya dafür, die kleinen Wunder der Erde wertzuschätzen. Den Gesang der Vögel. Den Geschmack von Himbeeren. Eine Schönheit, die stets auch das Vergängliche in sich birgt. Denn wir sind ja alle nur zu Gast auf diesem Planeten. Zu finden ist die Nummer auf der selbstbetitelten Debüt-EP, die Dunya im Frühjahr diesen Jahres veröffentlicht hat. Ich freue mich schon darauf, mehr von dieser Band zu hören.
Roller Derby: geschmeidiger Drive
Vor einigen Wochen schrieb mich Philine Meyer an, um mir ihre Band Roller Derby vorzustellen. Mir gefällt dieser direkte Angang und Austausch sehr gut. Warum nicht ohne Umwege die Verbindung herstellen? Seit Oktober 2020 hat das Trio sechs Singles veröffentlicht. Es sind dunkle somnambule Sphären, die Gitarrist Manuel Romero Soria, Basist Max Nielsen und Philine Meyer an Keyboards und Gesang erschaffen. Mal breitet sich der Sound wie in Zeitlupe aus, etwa bei der Nummer „Underwater“. Ein Song wie „Can’t See You“ wiederum entfaltet einen geschmeidigen Drive, der sich durchaus zum Soundtrack für das namensgebende Rollschuhfahren eignet. Zu dem energischen Kontaktsport Roller Derby hat die Band keinen unmittelbaren Bezug, erzählt mir Philine per Mail. Vielmehr kontrastiert das Raue des Rollschuhsports die Leichtfüßigkeit der Musik. Ein schönes Spannungsfeld, das sich da eröffnet. Mit ihrem hoch melodischen Dream Pop bedient Roller Derby einen gewissen nostalgischen Wohlfühlfaktor. Und auch ihre handgedruckten T-Shirts verbinden zeitgenössische Illustrationen mit Retro-Look.
Ästhetisch erfreut zudem das Video zur aktuellen Single „Something True“, das der brasilianische Filmemacher Gustavo Tissot gedreht hat. Detailverliebt inszeniert er da Schauspielerin Viniele Lopes, die sich zartbitteren Tagträumen hingibt. Ein schattig dahinziehender Song über Liebe und Wahrhaftigkeit, in dem Philines Gesang — auf Englisch und Französisch — besonders eindringlich und abgründig strahlt. Mit ihrem letztlich wunderbar zeitlos klingenden Indiepop war Roller Derby in den vergangenen Monaten für Molotow und Hebebühne, beim Hamburger Kultursommer und beim Südwärts Festival in Wilhelmsburg gebucht. Mittlerweile arbeitet die Band mit dem Konzertveranstalter Karsten Jahnke zusammen. Und im kommenden Jahr geht es zum großen Showcasefestival SX/SW in die USA. Ich bin sehr gespannt, was da noch passieren wird.
Pony Royale: brüchiger Indie-Pop
Dass sich eine Band neu formiert, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie jung ist. Denn Aufbruch ist in jedem Alter möglich. Und die Liebe zur Musik erlischt ja nicht zwangsläufig jenseits der 40. Mitunter kommt zwischendurch einfach sehr viel Leben dazwischen. Broterwerb, Familie, sich orientieren und ernähren. Mit Pony Royale hat sich nun ein Trio zusammengefunden, dass sich zu zwei Drittel aus der einstigen Band Camping zusammensetzt. Eine Gruppe, die Mitte der 90er-Jahre im Windschatten der sogenannten Hamburger Schule segelte. Ihr Album „Gas und Freizeit Shop“ aus dem Jahr 1996 habe ich immer wieder sehr gerne gehört. Ein Song wie „Sommerhaus“ lotete in seiner spröden Eingängigkeit alternative romantische Lebensentwürfe aus. Und die Nummer „Du hast einen guten Haarschnitt“ fing perfekt den damaligen Zeitgeist ein. Irgendwo zwischen Sehnsucht, Tristesse und Distinktion.
Auf dieser schönen Platte spielte das Schlagzeug noch die wunderbare Sandra Zettpunkt. Später übernahm dann Tilmann Zuper die Drums. Und mit diesem hat Camping-Sänger und Songschreiber Thomas Mydlach nun Pony Royale gegründet. „Mehr als 20 Jahre und sieben Kinder später“, wie es in der Bandbio heißt. Komplettiert wird die Band von Roland Strehl am Bass, der auch schon lange in der Hamburger Szene unterwegs ist und in den Nuller-Jahren mit der Formation Zuhause feinen Gitarrenpop produziert hat. Von Pony Royale sind erst vier Songs als Demo-Versionen auf Bandcamp zu hören. Aber diese Rough-Mixe zeigen bereits, dass all das bereits gelebte Leben stark ins Songwriting einfließt. In brüchigen wie treibenden Indiepop-Songs singt Thomas Mydlach mit zärtlicher Lakonie von Trauer, Abschied und Älterwerden. Mit einer Nummer wie „Für eine bessere Welt“ zeigt Pony Royale aber auch politisch ganz klare Kante gegen Rechts. Am 10. Dezember spielt die Band ein allererstes Konzert in der Astra Stube. Ein erster Schritt nach draußen — aufregend.
klebe: entschleunigte Spannung
Auch die Hamburger Musikerin Liza Ohm ist keineswegs eine Unbekannte in der Hamburger Szene. Mit ihrem Projekt klebe hat sie sich jedoch noch einmal äußerst facettenreich gewandelt. Hin zu einem vielschichtigen Popsound, der mit seinen tiefsinnigen Texten transparent und berührend die Seele durchzieht. Noch gibt es nur wenige Songs von klebe zu hören. Doch diese Nummern nehmen so komplex und seismographisch Schwingungen und Stimmungen auf, dass ich sehr zuversichtlich bin: Da folgen ganz gewiss noch weitere tolle Lieder. In „Es ist Frühling“ erzählt Liza aus der Sicht der Angehörigen von Menschen, die an Depressionen erkrankt sind. Sehr klug transportiert sie Hoffnung und Erschöpfung gleichermaßen. Die Nummer richtet sich letztlich auch gegen eine Schönwettereuphorie im Sinne von „Ach, kann doch nicht so schlimm sein‟. Lizas schwebende Stimme ist dabei eingebettet in einen komplexen Kosmos aus Chören und Keyboardklängen, die eine entschleunigte Spannung entfalten.
In dem Song „Spazieren gehen“ wiederum thematisiert sie die Einsamkeit im Lockdown. „Seid Montag lächelt niemand mehr / im öffentlichen Nahverkehr‟, singt Liza alias klebe. Eine Künstlerin, die für ihre ruhigen Beobachtungen pointierte Bilder findet. Da überrascht es nicht, dass klebe dieses Jahr auch den Nachwuchs-Preis Krach + Getöse des Vereins RockCity Hamburg gewonnen hat. „Independent, edgy, lässig und dabei immer deep“, urteilte die Jury. klebe hat diesen Sommer zahlreiche Konzerte gespielt, etwa beim Dockville Festival. Bei der sechsten Ausgabe des Knust Guesthouse im August 2021 hat sie ihre Musik erstmals mit Band präsentiert und dafür eine regelrechte Hamburger Supergroup zusammengestellt: Dorothee Möller von The Girl & The Ghost, Tim Jaacks und Adam Basedow, der die Songs von klebe auch produziert. Am 26. November veröffentlicht klebe eine weitere Single. Und zudem wird sie bald neue Songs aufnehmen. Vorfreude!
Onemillionsteps: rau groovende Energie
Die Berliner Firma Listen Collective, die Label, Musikverlag und PR-Agentur vereint, hat ein sehr schönes Portfolio feinsinniger Künstlerinnen und Künstler vorzuweisen. Etwa Sängerin und Multiinstrumentalistin CATT, die ich zu ihrem Album „Why, Why“ für das Hamburger Abendblatt interviewt habe. Oder Maria Basel aus Wuppertal und Elena Steri aus Nürnberg, die wir dieses Jahr beim Knust Guesthouse begrüßen durften. Vor einigen Wochen stellte mir Listen Collective nun den Song „When You’re Gone“ der Hamburger Formation Onemillionsteps vor. Auch wenn die Band bereits einige Jahre in wechselnden Besetzungen zusammen spielt, steht nun erst das Debütalbum an. Das liegt unter anderem daran, dass Nora Oertel (Gitarre, Gesang), Jonas Teichmann (Bass) und Max Schneider (Schlagzeug), die das aktuelle Trio ausmachen, in diverse andere popmusikalische und kreative Projekte eingebunden sind.
Nach einigen ruhigeren Jahren hat die Band nun 2021 verstärkt Singles als Vorboten für den Erstling veröffentlicht. Und der Wandel vom Folk- zum dynamischeren Indiepop ist deutlich zu hören. Zum Beispiel in „When You’re Gone“. Das Stück ist ein Abgesang auf toxische Beziehungen. Ein entschiedenes Stopp-Schild im Song-Format. Der Song erinnert mich in seiner rauen und doch groovenden Energie an „Heavy Cross“ von Gossip. Toll! Die im Oktober erschienene Nummer „Space Divinity“ wiederum schraubt sich immer wieder wie ein Spirale hoch, um sich dann in dunklen Sphären zu entladen. „Dieser Song ist beides: Dein Freund in einer existentiellen Krise und dein Drill-Instructor auf dem Dancefloor“, schreibt die Band auf ihrer Facebook-Seite. Immer wieder schön, wie vielseitig Musik doch funktioniert.