Musikalischer Rückblick — mit Biggy Pop durch das Jahr 2022

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Silvester halte ich gerne ganz klassisch Rückschau auf das zu Ende gehende Jahr. Ich blättere durch meinen Kalender und schaue, wer und was mich inspiriert und bewegt hat. Nach dem auf vielen Ebenen äußerst herausfordernden Jahr 2022 habe ich erst recht das Bedürfnis, mich ein wenig zu sortieren und auch nach Lichtblicken zu suchen. Für diesen Blogpost möchte ich ein popkulturelles Thema pro Monat vorstellen, das mich besonders begeistert oder zum Nachdenken angeregt hat. Mit dem ich mich beruflich als Journalistin, Texterin und Moderatorin beschäftigt habe. Oder das mich schlichtweg aus Leidenschaft angesprungen hat. Häufig sind die Grenzen da ohnehin fließend. 

Januar: sich der Welt öffnen mit Mischpoke

Im Laufe der Corona-Zeit habe ich die Beziehungen in meinem Leben noch einmal intensiver schätzen gelernt. Seien es kurze „Zufallszwischenmenschlichkeiten“, wie die Autorin Katja Kullmann es nennt (mehr dazu im Dezember 2022). Seien es langjährige liebevolle Freundschaften. Oder seien es neue Begegnungen. Im Januar habe ich die Band Mischpoke kennengelernt, die mich für einen Pressetext zu ihrem fünften Album „Heymland“ gebucht hat.

Heimat – was ist das? Ort oder Gefühl? Fragen wie diese verhandelt Mischpoke in einer Mischung aus Klezmer, Jazz, Tango, Weltmusik und Klassik. Fünf starke Künstlerpersönlichkeiten, die sich dem Weltgeschehen öffnen. Nach der Albumveröffentlichung hat Mischpoke das Programm „displaced“ entwickelt — gemeinsam mit der iranischen Autorin Maryam Goudarzi, die über Geflüchtete in Hamburg geschrieben hat. Auch an diesem Projekt haben wir zusammen gearbeitet. Was für ein Geschenk: Wenn neue Verbindungslinien entstehen. Wenn sich neue Räume des Austauschs eröffnen. Wenn es klickt. 

Februar: Popkultur im Zeichen des Krieges mit Neonschwarz

In diesem Jahr habe ich Pressetexte und Bios für ganz unterschiedliche Künstler*innen, Bands und Institutionen geschrieben. Besonders markant war für mich die Veröffentlichung des Neonschwarz-Albums „Morgengrauen‟ am 25. Februar – einen Tag, nachdem der Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hatte. Ich habe zum Release einen Talk mit der Band im Gängeviertel moderiert. Als Stream noch unter Corona-Bedingungen. Für mich steht dieser Abend sinnbildlich für eines der prägenden Themen 2022: Kulturproduktion im Zeichen komplexer Krisenlagen. Der Song „Flugmodus“ auf der Platte handelt wiederum von der digitalen Reizüberflutung unserer Tage. Und wie wir uns da herausziehen können. Ich finde, Marie Curry rappt und singt in dem Track besonders grandios. 

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Im Talk mit Neonschwarz im Gängeviertel, fotografiert von Timo Neuscheler.

März: Auflegen im „Winter Wonderland“ auf der Barkasse Frau Hedi

Nach zweieinhalb Jahren habe ich am 31. März 2022 abends das erste Mal endlich wieder auf der Hedi aufgelegt. Permission to dance nach pandemie-bedingter Pause. Allerdings unter besonderen Bedingungen. Noch bevor ich am Morgen meine Vorhänge zur Seite gezogen hatte, ereilten mich auf dem Handy Nachrichten wie: „Und, heute auf dem Eisbrecher unterwegs?“ Hamburg lag auf einmal unter Schnee. Mit weiterem Nachschub von oben.

Also zusätzlich ein paar saisonale Hits eingepackt. Und mit „Winter Wonderland“ und „Sleigh Ride“ starteten wir auf der Barkasse der Herzen zum party-induzierten Schippern über die Elbe. Und endlich konnte ich all das spielen, was sich so angesammelt hat. Mein Eindruck: Diejenigen, die sich durch die Kälte zum Hafen aufgemacht hatten, wollten es dann aber auch so richtig wissen. Was für eine famose ausgelassene Sause. Und wie wunderschön, mit der tollen Hedi-Crew wieder auf den Planken zu schwanken. Danke an Kapitän Rainer, an Nono, Susanne und Johannes!

April: Serien-Ereignis des Jahres mit „Pachinko“

Im Laufe der vergangenen drei Jahre habe ich ein große Passion für koreanische Kultur entwickelt. Angefangen mit K-Dramas, also Serien, die mich im Lockdown in neue Erzählwelten geführt haben. Langsamer und poetischer, aber auch over the top und absolut up to date. Wie sich die Liebe zum Detail, zu Gesten und Nuancen mit einem ultimativen Trend- und oftmals auch Technikbewusstsein verbindet, fasziniert mich sehr. Und begeistert bin ich auch, wie selbstverständlich Popmusik in das Storytelling integriert wird. 

Über K-Pop landete ich schließlich auch bei der entsprechenden Literatur, wobei es mir der Roman „Pachinko“ der amerikanisch-koreanischen Autorin Min Jin Lee besonders angetan hat. Sie erzählt äußerst kunstvoll von Lebenslinien, die sich von Korea über Japan bis in die USA erstrecken. Und als ich erfuhr, dass das Buch als Serie verfilmt wurde, fieberte ich dem Release natürlich sehr entgegen. Zumal einer meiner Lieblingsschauspieler, Lee Min-ho, die Rolle des Hansu übernahm. Allein die siebte Episode, in der sich Hansu durch die Wirren des Kantō-Erdbebens von 1923 bewegt, gehört für mich zu den großen und wahrhaftigen Serien-Ereignissen des Jahres. Und über den sehr schönen Vorspann zu „Pachinko“ habe ich den famosen Song „Let’s Live For Today“ von The Grass Roots aus dem Jahr 1967 neu für mich entdeckt. 

Mai: auf den Spuren von „Hamilton“ in New York

Als große New-York-Liebhaberin habe ich den Hype um das Musical „Hamilton“ seit 2015 verfolgt. Divers besetzter Cast in einer Hip-Hop-Show über einen der US-Gründerväter. Die Obamas als Megafans. Karten zu utopischen Preisen. Umso euphorischer war ich, dass ich im Mai auf Pressereise in meine Schatzstadt gehen konnte. Die Stage Entertainment führte uns zu den Ursprüngen des Broadway-Erfolgs. Als Vorbereitung auf die deutschsprachige Premiere im Hamburger Operettenhaus im Oktober 2022. 

Allein wieder in die Skyline von Manhattan einzutauchen, hat mich schon enorm glücklich gemacht. Highlight der Reise war jedoch der Interview-Nachmittag im Drama Book Shop. Nach den unzähligen Zoom-Calls der Corona-Zeit endlich wieder vor Ort Interviews führen. Und dann unter anderem auch noch mit Lin Manuel Miranda, dem Schöpfer von „Hamilton“. Ein entspannter und absoluter eloquenter Typ. Unter einer voluminösen Bücherinstallation erzählte er davon, wie er einst im Weißen Haus die ersten Verse von „Hamilton“ vorstellte. Definitiv eine Motivation, groß zu träumen. „I am not throwing away my shot“.

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Im Gespräch mit Lin Manuel Miranda im Drama Book Shop in New York (credit: Stage Entertainment)

Juni: Fan-Energie bei Harry Styles im Hamburger Stadion

Für mich ist Harry Styles einfach der Popstar des Jahres 2022. Omnipräsent, androgyn, freundlich, mit Haltung. Zu „As It Was‟ habe ich im Frühjahr auf meiner ersten richtigen Privatparty seit Corona endlich wieder ausgelassen getanzt. Und fürs Abendblatt habe ich über sein Stadionkonzert in Hamburg geschrieben (siehe Titelfoto). Umgeben von den wunderbaren Kolleginnen Susanne Hasenjäger vom NDR und Katja Schwemmers von der Mopo. Die warme Energie, die die vielen jungen Fans da hergestellt haben, hat mich sehr berührt. Und wie sie bei „As It Was‟ aus voller Seele mitgesungen haben: „Answer the phone / „Harry, you’re no good alone / Why are you sittin‘ at home on the floor? / What kind of pills are you on?‟ Das Thema Mental Health in so einem populären Song anzupacken — mega.

Juli: Clubkultur im Kleinen mit Anoki, Hazlett und Masha The Rich Man

Konzerte in und vor Musikclubs hatten es im Jahr 2022 über weite Strecken nicht leicht. Ein Publikum, das in den Ausläufern der Pandemie noch zurückhaltend ist. Der Krieg und seine Folgen. Fachkräftemangel, Kostensteigerung und Energiekrise (siehe dazu auch meinen Blogpost zur Applaus-Verleihung der Initiative Musik). Doch wie bereichernd gerade die Nähe solcher Konzerte sein kann!

Stellvertretend für die vielen kleinen bis mittelgroßen Shows möchte ich an dieser Stelle die Knust Acoustics auf dem Lattenplatz nennen. Den Berliner Sänger, Rapper und Musiker Anoki hatte ich im April in meiner Blogreihe „Mein Beitrag“ vorgestellt. Und daher habe ich mich außerordentlich gefreut, diesen charismatischen Menschen persönlich kennenzulernen und live zu erleben. Wie er mit seiner Band im Flow war. Wie er sich ins Publikum stellte und zum Mitsingen animierte. „Is ok, is ok, is ok“. Mit dabei waren an diesem Sommerabend auch der Singersongwriter Hazlett, der seine ganze Freundlichkeit in seine Songs goss. Und Masha The Rich Man, die auch einen Folksong aus ihrer ukrainischen Heimat anstimmte. Fühlte sich an wie ein Zuhause.

August: zukunftsweisendes Festival-Erlebnis bei der Pop-Kultur Berlin

Das erste Mal habe ich dieses Jahr das Pop-Kultur Festival in Berlin besucht und darüber hier auf dem Blog geschrieben. Ich war sehr beeindruckt, wie viele tolle Ansätze das Team realisiert hat in Bezug auf Diversität, Inklusion und Ausloten von zeitgenössischer sowie zukunftsweisender Popmusik. Äußerst inspirierend fand ich die Performance der Musikerin Güner Künier, in der sie sich mit den Traditionen ihrer türkischen Familie und ihren eigenen Freiheitsbedürfnissen auseinandersetzt. Im Dezember 2022 ist ihr Debütalbum „Aşk‟ erschienen. Unbedingt auschecken!

September: Reeperbahn Festival zwischen Krisen und Popkulturliebe

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Talk zum Thema „Trusted Transmission“, fotografiert von Samira Joy Frauwallner.

Der September steht stets im Zeichen des Reeperbahn Festivals. In 2022 pendelte die Atmosphäre für mich heftig zwischen Krisenszenarien und Popkulturliebe. Diese Gemengelage führte meines Erachtens dazu, dass die Gespräche während des Festivals offener und ehrlicher waren. Die Frage „Wie geht’s?“ reichte schneller in die Tiefe. Sowohl in Einzelgesprächen in Clubs, auf der Straße und beim Networking. Als auch auf den Panels der Reeperbahn Festival Konferenz. Ich war eingeladen, zum Thema „Trusted Transmission“ zu diskutieren. Zusammen mit den wunderbaren Kolleg*innen Dalia Ahmed von FM4, Ruben Jonas Schnell von ByteFM und Maik Brüggemeyer vom Rolling Stone Magazin. Es ging um den Status quo von musikjournalistischen Audioprogrammen. Und warum wir diesen vertrauen. Meines Erachtens führen gerade Podcasts dazu, dass viele bisher ungehörte Stimmen und Meinungen einen Raum finden. Super! 

Aber ich finde, dass auch bei diesem relativ jungen Medium noch reichlich Luft nach oben ist. Die Frage ist ja, welche Formate von Firmen und Sponsoren gepusht werden. Sind es die Podcasts, in denen zwei weiße Cis-Dudes ihre Fachsimpeleien ins Internet verlegen? Oder sind es Reihen und Sendungen, die verstärkt auf Vielfalt setzen? Als energische Fürsprecherin für mehr Gendergerechtigkeit habe ich dieses Jahr die Musikerin Charlotte Brandi erlebt. Sowohl künstlerisch bei ihrem tollen Festival-Auftritt im Nochtspeicher. Als auch verbal auf den Panels der Konferenz Operation Ton (siehe November). Im Februar 2023 erscheint ihr Album „An den Alptraum“. Gute Aussichten auf Krawall und Schönheit.

Oktober: Ausgeherlebnisse der Generation 60+ im sanierten Teehaus

Seit 2018 engagiere ich mich ehrenamtlich für die gemeinnützige Initiative Oll Inklusiv. Gegründet von der fabelhaften Mitra Kassai, um Menschen 60+ mit innovativen Kultur- und Freizeitangeboten eine beschwingte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Von Anfang an gehört es zum Konzept, moderne Räume der Stadt zu erschließen. Vor allem Musikclubs, die nachmittags für Konzerte, Lesungen, Tanz und vor allem Klönschnack genutzt werden. Und seit Herbst diesen Jahres hat Oll Inklusiv ein wirklich wunderbares neues Zuhause: das sanierte Teehaus bei der Rollschuhbahn in Planten un Blomen. Mit den Glasfronten fühlt es sich so an, als sitze man unmittelbar im Grünen. 

Anfang Oktober2022  war ich das erste Mal an diesem magischen Ort. Bei der Reihe „Erzähl doch mal“ berichteten die Ollen, wie wir sie liebevoll nennen, von ihren früheren Ausgeherlebnissen. In Begleitung von Mutti in den Star-Club (da noch nicht volljährig). Mit der Beat-Band die Szene in Langenhorn aufgemischt. Den Verzehrzwang mit einem Trinkgeld an die Kellner umgangen. Ich hätte noch ewig zuhören können bei all diesen Anekdoten. Wie jung alle im Herzen sind!

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Mitra Kassai mit den Senioren & Senioritas im Teehaus in Planten un Blomen

November: Workshop zum Bandbio-Schreiben bei Operation Ton

Äußerst gehaltvoll war für mich in diesem Jahr die zweitägige Musikkonferenz Operation Ton, organisiert von dem wie immer top aufgestellten Team von RockCity. Am Samstag gab ich einen Workshop zum Thema Bandbio schreiben. Frei nach Dolly Partons Motto: „Find out, who you are, and do it on purpose“. Meine Lieblingsbeschäftigungen Popkultur und Texten praktisch zu vermitteln, hat einfach unfassbar Spaß gemacht. Mit den geschätzten Kolleg*innen Caro Schwarz vom Blog Musicspots und Sascha Krüger habe ich im Anschluss dann noch 1:1-Beratungen zur eigenen Band- bzw. Artistbio gegeben. Der aufrichtige Austausch, der da jeweils zustande kam, war wirklich sehr bereichernd. Ein Angebot, das ich 2023 definitiv ausbauen möchte.

Dezember: NDR Nachtclub Überpop mit Autorin Katja Kullmann 

Im Verbund mit den Kolleg*innen Siri Keil, Henning Cordes und Andreas Moll sowie Redakteurin Angela Gobelin moderiere ich weiterhin die Sendung „Nachtclub Überpop“ auf NDR Blue. Im Dezember nun wurde mein Gespräch mit der Autorin Katja Kullmann ausgestrahlt. Ihr Buch „Die Singuläre Frau“ gehört für mich zu den Lese-Highlights des Jahres. Beschreibt sie doch ausgeruht, amüsant und klug, wie sich das weibliche Sololeben als Daseinsform immer selbstverständlicher durchsetzt. Auf meiner Leseliste für 2023 steht übrigens das Pendant „Allein“ von Daniel Schreiber ganz oben. 

Ich hatte Katja Kullmann zum Interview in ihrer Wahlheimat Berlin getroffen und sie als äußerst zugewandte Gesprächspartnerin erlebt. Das Tolle: Sie hatte Songs über freiheitsliebende und alleinlebende Frauen durch die Jahrzehnte hinweg ausgewählt. Los ging’s mit dem hervorragenden „Für die große Liebe hab ich keine Zeit“ von Trude Berliner. Zum Abschluss gab’s Hip-Hop und Grime von Lady Leshurr. Und auch alles dazwischen lässt sich online nachhören. 

Nachdem ich 2019 mit reichlich Imposter Syndrome beim NDR eingestiegen bin, habe ich nun das Gefühl, mich langsam hineingefuchst zu haben in die Materie. Eine sehr schöne Bestätigung war diesbezüglich auch die Nominierung für den International Music Journalism Award des Reeperbahn Festivals in der Kategorie Audio. Konkret ging es um meine Radiosendung aus dem März 2022 zum Thema „Klangkörper Frau“ mit der Kulturanthropologin Catharina Rüß. Vielen lieben Dank dafür! 

Konfetti, gute Musik und alles Liebe für 2023!

Von Herzen wünsche ich Euch nun ein tiefes Durchatmen nach 2022 und ein gesundes sowie inspirierendes 2023 mit Glück, Erfolg, Offenheit und Liebe — Eure Biggy Pop.

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Neonschwarz: Album „Clash“ – Hiphop, Haltung, Hooray

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Ich mag es sehr, wenn Menschen mit- und sich einmischen. Nicht teflonartig durch die Welt gleiten, sondern Verbindungen herstellen. Die Hamburger Hiphopper Neonschwarz sind, was das angeht, so etwas wie die Supereinmischer und Megaverbindungshersteller. Marie Curry, Johnny Mauser, Captain Gips und DJ Spion Y machen musikalisch, textlich und auch im realen Leben ganz weit auf.

Neonschwarz, Band, Album, Clash, Release, Record, Label, Audiolith, Hiphop, Marie Curry, Johnny Mauser, Spion Y, Captain Gips, Cafe Buena Vista, Hamburg, Diebsteich Zum Release ihres dritten Albums „Clash“ spielt Neonschwarz nicht nur diesen Freitag im Hamburger Gängeviertel. Einen Abend zuvor lädt die Band zudem zur Listening-Session mit Bier und Bingo-Spiel ins hoch charmante kubanische Café Buena Vista am S-Bahnhof Diebsteich. Von Zeckenkids bis zur Seniorin hocken alle vor und in dem gemütlichen Flachbau an den Schienen. Und Betreiber Osmar gibt große Portionen an Essen und Herzlichkeit aus. Ein Abend, der sich anfühlt wie eine Wirklichkeit gewordene Utopie.

„Diggi, das ist Neonschwarz, can you handle it?“

Doch Neonschwarz, 2012 gegründet, ist weit entfernt davon, sich in der eigenen Blase auszuruhen. „Clash“ beginnt zwar – hiphop-typisch – mit einem energiegeladenen Selbstbehauptungssong. Und mit der Beyonce-Gedächtnis-Frage: „Diggi, das ist Neonschwarz, can you handle it?“ Doch im Laufe des Albums packen die „Neonschwizzys“ in ihren akzentuierten Flow viel kritischen Input von der Zeitgeistanalyse bis zur Klaren-Kante-Haltung.

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Neonschwarz fotografiert von Robin Hinsch (v.l.): Marie Curry, Johnny Mauser, Spion Y und Captain Gips.

Der treibende Ausbruchssong „Maradona“ zeigt Leistungsdruck und Durchtaktung unserer Tage den Mittelfinger und beschwört den Mut zum Roadtrip, zum Abenteuer, zum Ungewissen. „Fieber“ schwingt inhaltlich auf einer ähnlichen Frequenz: Stress macht aggro, weshalb die „Schwizzy-Samariter“ anrücken müssen, um den Kurzatmigen das süße Leben zu bringen.

Besonders gut gefällt mir bei dieser Nummer der Wechsel zwischen entspannten Gesangspassagen, Slowmotionrap und Hochgeschwindigkeitssprechgesang. Als sei die Stimme auf einmal auf der Vorspultaste gelandet. Und auch der wohl dosierte Einsatz von Autotune passt zur fiebrigen Atmosphäre und wird nicht einfach als Modeeffekt eingesetzt.

Doppelmoral in der Seifenblase

In „2018“ seziert Neonschwarz im Wortgewitter an tollen orientalischen Klängen, wie dem Erstarken der Rechten zu begegnen ist. Und die Band fragt sich: „Was passiert, wenn sie immer lauter werden, / und schon morgen lauter sind, als die Alarmanlage schreit?“ Doch die vier predigen nicht nur den Konsens im eigenen Umfeld. In „Ananasland“ nehmen sie zudem die Doppelmoral in der eigenen nachbarschaftlichen Seifenblase auseinander: Alle sind öko und kreativ, aber bitte die unhippen Obdachlosen und lauten Clubs aus Blick- und Hörfeld schaffen. „Geistig vertrocknet, moralisch flexibel.“

Der Song ist blitzgescheit, blitzschnell, blitzhumorig. Und musikalisch spannend mit sprödem wütendem Rap, mit Breaks, Samples und sattem Schub. „Und ging mal ganz schlimm was daneben / dann schwingen wir den Besen“, rappt Marie Curry und setzt mal eben einen feinen Seitenhieb auf die blitzblanke(nese) Aufräumaktion in der Schanze nach G20.

Ernsthafte Inhalte mit ultimativem Groove

Neonschwarz schielt nicht mit Provokation und Gangsta-Attitüde nach der Chartsspitze, wie die Crew in „Gleis 13“ mehr als deutlich macht. Was ich wirklich beeindruckend finde: Wie das Quartett auf „Clash“ ernsthafte Inhalte mit ultimativem Groove, Funk und Flow verbindet.

„Verrückt“ zum Beispiel ist ein Motivationssong, der positive Energie gegen den Irrsinn unserer Zeit setzt – und das mit reichlich „Wohoo“-Handclap-Charme. Und Neonschwarz schafft den Spagat, selbst ein Stück wie „Klatsche“ über psychische Störungen und Ängste mit „Hände in die Luft“-Atmosphäre aufzuladen.

Neonschwarz, Band, Album, Clash, Release, Record, Label, Audiolith, Hiphop, Marie Curry, Johnny Mauser, Spion Y, Captain Gips, Cafe Buena Vista, Hamburg, Diebsteich, Candle, Beer, FC St. Pauli, roses Völlig begeistert bin ich, das bei Neonschwarz mit Marie Curry eine Rapperin am Start ist, die von Album zu Album stärker wird. Ihr ist anzuhören, dass sie mit dem ganzen Körper, mit vollem Herzen singt und rappt. Dunkel, kehlig, rau. Mit viel Soul wie in „67“ oder ultracool wie in „Neonröhren“. Oder im lässigen Fluss bei „St. Pauli“, einer angenehm unkitschigen Lokalhymne. Durch die Straßen ziehen zwischen Kiezgebrüll und Dampferqualm, Kleine Pause und Quatschen mit Überdosis Ehrlichkeit. Eine flüchtige Romantik. Ein Hamburg, wie ich es liebe. So wie es auch beim Release-Abend im Café Buena Vista zu spüren ist.

Neonschwarz, Band, Album, Clash, Release, Record, Label, Audiolith, Hiphop, Marie Curry, Johnny Mauser, Spion Y, Captain Gips, Cafe Buena Vista, Hamburg, Diebsteich, Bingo, Game, Luck, Numbers Die Sonne ist mittlerweile irgendwo hinter den Gleisen untergegangen. Drinnen sitzen alle an rustikalen Holztischen, während Audiolith-Labelchef Lars Lewerenz die Zahlen in den Raum ruft, die die Bingo-Trommel ausspuckt. Jung und alt kreuzen die Nummern auf ihren Bingo-Zetteln ab.

Der Erlös aus dem Verkauf der Lose geht zur einen Hälfte an den Verein Cadus, der in Syrien und dem Irak medizinische Hilfe organisiert. Die andere Hälfte fließt an die Hamburger Initiative Oll Inklusiv, die Menschen 60+ hinaus aus der Einsamkeit und hinein in die Clubs bringt. Eben Mitmischen auf allen Ebenen.

Sonst noch neu in Hamburg diese Woche:

Bosse: „Alles ist jetzt“ (Album, Universal) – besprochen von den Kollegen von Musikblog.
Erregung öffentlicher Erregung: „TNG“ (EP, Euphorie Records) – präsentiert von den Kollegen von ByteFM.

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Reeperbahn Festival, Tag 2 – preisverdächtig

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Wieso besuchen Menschen eigentlich das Reeperbahn Festival? Der stets süffisante wie satirische Kollege Linus Volkmann singt in seinem neuesten Video für das WDR-Format „Cosmo“: „Wer will betrunkene Plattenbosse sehen? Der muss diese Woche nach Hamburg gehen.“ Ha ha, herrlich. Klar, Netzwerken beim Bier gehört gewiss zu diesem Poptrubel dazu. Aber zum Glück geht es ja letztlich doch um: Musik.

Der Täubling, Rap, Hiphop, Bunny, weird, Reeperbahn Festival, Prinzenbar, Hamburg, Clubs, Pop Und viel spannender (sowie hochgradig irritierender) als betrunkene Plattenbosse finde ich zum Beispiel einen rappenden Typen, der aussieht, als habe der Joker aus Batman einen Hasen gefrühstückt. Der Täubling aus Leipzig sorgt am zweiten Tag des Reeperbahn Festivals in der Prinzenbar rasch für Einlassstopp. Zu old-schooligen Beats feuert dieser horrormaskierte Typ wie ein degenerierter Hase Cäsar seine Frontalbeschimpfungen heraus. Flankierend schenkt ein barbrüstiger Lakai Champagner aus und ein androgynes Wesen im Regenmantel tanzt sich schlängelnd um den Hauptperformer herum.

Zwischen Der Täubling und Altın Gün: Kontrast ist Königin

Das Reeperbahn Festival lebt für mich davon, sich wechselbadend in unterschiedliche popmusikalische Zustände begeben zu können. Der Satz „and now to something completely different“ lässt sich hervorragend praktizieren. Das hält die Synapsen auf Trab. Zum Beispiel, wenn es nach Der Täubling direkt zu Altın Gün in den Kaiserkeller geht. Eine Art türkische Variante von Sly And The Family Stone. Satt groovende, psychedelische Funk- und Rock-Energie, die sofort meine innere Lavalampe anschaltet. Das Sextett aus Amsterdam ist toll aufeinander eingespielt. Betörender Gesang, grandios verschachtelte Rhythmik, fließende Melodien von Gitarre, Keyboard und Saz.

Und dies sind nur zwei Beispiele aus der zweiten Nacht des Reeperbahn Festivals, die zeigen: Kontrast ist Königin.

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Natürlich ist das Reeperbahn Festival für mich tatsächlich auch eine gute Gelegenheit, Menschen und ihr Musikbusiness kennenzulernen. Ich kann zudem Leute treffen, mit denen ich bisher nur gemailt, aber noch nie von Angesicht zu Angesicht gesprochen habe. So habe ich zum Beispiel ein interessantes Gespräch mit Hele Maurer von Rola Music.

Die Firma mit Sitz in Portland, Wien und neuerdings auch Hamburg bietet Booking, Management und Promotion schwerpunktmäßig für Newcomer. Das finde ich großartig, denn ich liebe es, unbekannte Bands zu entdecken. Haley Heynderickx etwa, eine der Rola-Künstlerinnen, ist eine Amerikanerin mit philippinischen Wurzeln, die einen irisierenden, intensiven sowie warm verzerrten Folkrocksound produziert.

Helga Award, die wahnwitzigste Gala auf dem Reeperbahn Festival

Vom Onyx Hotel, wo viele Business-Meetings stattfinden, eile ich einmal quer über die Reeperbahn zum Imperial Theater. In der plüschigen Spielstätte wird der Helga Award verliehen – ein Preis, der die Festivalkultur des Landes auszeichnet. Und der als die wahnwitzigste Gala des Reeperbahn Festivals gilt.

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Im Namen der famosen Initiative Oll Inklusiv, die Menschen 60+ in die Clubs dieser Stadt bringt, überreiche ich den Preis für das „aufregendste Festival für alte Menschen“. Oder, wie ich es nenne: das ollste dollste Festival. Zur Begrüßung auf der Bühne gibt es aber erst einmal ein Bier als Pausenbrot, das mir eine Hand aus einer Klappe reicht. Das nenne ich mal gastfreundlich.

Oll Inklusiv gratuliert dem A Summer’s Tale Festival

Es gewinnt das A Summer’s Tale, das seit vier Jahren in der Lüneburger Heide ein nachhaltig angelegtes Mehrgenerationen-Kulturprogramm bietet. Stephan Thanscheidt vom Veranstalter FKP Scorpio nimmt die lustig schwingende Helga-Trophäe (und eine Flasche Jägermeister) entgegen. Glückwünsch und Prost!

Zu den weiteren Gekürten zählen unter anderem das Watt En Schlick sowie das Dockville Festival, laudatiert von Helen Schepers von der Fahrradgarderobe. Zudem schmettert der Hamburger Kneipenchor unter Leitung von Stefan Waldow inbrünstig einige Lieder. Und unter immer lauter werdenden Helga-Rufen steuert diese etwas andere Award-Show dem großen Finale mit Gruppenfoto entgegen. Eine absolut glückselig machende Veranstaltung, die vor der Türe in anbrechender Dunkelheit weiter gefeiert wird.

Harte Tür bei den VUT Indie Awards

Ich verquatsche mich so schön, dass ich im Anschluss in die Verleihung der VUT Indie Awards im Schmidts Tivoli – trotz braver Anmeldung vorab – nicht mehr hineinkomme. Zu spät dran. Vermutlich sitzen dort all die betrunkenen Plattenbosse, von denen Linus gesprochen hat. Aber harte Tür ist nun mal harte Tür.

Apropos hart. Nachts texte ich wieder mit einer Freundin, die ebenfalls auf dem Reeperbahn Festival unterwegs ist. Und die ich bisher nicht getroffen habe, weil unsere Timetables zu unterschiedlich sind. Ihr Highlight des Tages: Gzuz von 187 Straßenbande am Kiosk stehen sehen. Mmh, diesen Programmpunkt habe ich gar nicht in der Festival-App gefunden. War bestimmt ein Secret Act.

Wie mein erster Tag auf dem Reeperbahn Festival 2018 verlief, lässt sich hier nachlesen.

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