Silvester halte ich gerne ganz klassisch Rückschau auf das zu Ende gehende Jahr. Ich blättere durch meinen Kalender und schaue, wer und was mich inspiriert und bewegt hat. Nach dem auf vielen Ebenen äußerst herausfordernden Jahr 2022 habe ich erst recht das Bedürfnis, mich ein wenig zu sortieren und auch nach Lichtblicken zu suchen. Für diesen Blogpost möchte ich ein popkulturelles Thema pro Monat vorstellen, das mich besonders begeistert oder zum Nachdenken angeregt hat. Mit dem ich mich beruflich als Journalistin, Texterin und Moderatorin beschäftigt habe. Oder das mich schlichtweg aus Leidenschaft angesprungen hat. Häufig sind die Grenzen da ohnehin fließend.
Januar: sich der Welt öffnen mit Mischpoke
Im Laufe der Corona-Zeit habe ich die Beziehungen in meinem Leben noch einmal intensiver schätzen gelernt. Seien es kurze „Zufallszwischenmenschlichkeiten“, wie die Autorin Katja Kullmann es nennt (mehr dazu im Dezember 2022). Seien es langjährige liebevolle Freundschaften. Oder seien es neue Begegnungen. Im Januar habe ich die Band Mischpoke kennengelernt, die mich für einen Pressetext zu ihrem fünften Album „Heymland“ gebucht hat.
Heimat – was ist das? Ort oder Gefühl? Fragen wie diese verhandelt Mischpoke in einer Mischung aus Klezmer, Jazz, Tango, Weltmusik und Klassik. Fünf starke Künstlerpersönlichkeiten, die sich dem Weltgeschehen öffnen. Nach der Albumveröffentlichung hat Mischpoke das Programm „displaced“ entwickelt — gemeinsam mit der iranischen Autorin Maryam Goudarzi, die über Geflüchtete in Hamburg geschrieben hat. Auch an diesem Projekt haben wir zusammen gearbeitet. Was für ein Geschenk: Wenn neue Verbindungslinien entstehen. Wenn sich neue Räume des Austauschs eröffnen. Wenn es klickt.
Februar: Popkultur im Zeichen des Krieges mit Neonschwarz
In diesem Jahr habe ich Pressetexte und Bios für ganz unterschiedliche Künstler*innen, Bands und Institutionen geschrieben. Besonders markant war für mich die Veröffentlichung des Neonschwarz-Albums „Morgengrauen‟ am 25. Februar – einen Tag, nachdem der Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hatte. Ich habe zum Release einen Talk mit der Band im Gängeviertel moderiert. Als Stream noch unter Corona-Bedingungen. Für mich steht dieser Abend sinnbildlich für eines der prägenden Themen 2022: Kulturproduktion im Zeichen komplexer Krisenlagen. Der Song „Flugmodus“ auf der Platte handelt wiederum von der digitalen Reizüberflutung unserer Tage. Und wie wir uns da herausziehen können. Ich finde, Marie Curry rappt und singt in dem Track besonders grandios.
März: Auflegen im „Winter Wonderland“ auf der Barkasse Frau Hedi
Nach zweieinhalb Jahren habe ich am 31. März 2022 abends das erste Mal endlich wieder auf der Hedi aufgelegt. Permission to dance nach pandemie-bedingter Pause. Allerdings unter besonderen Bedingungen. Noch bevor ich am Morgen meine Vorhänge zur Seite gezogen hatte, ereilten mich auf dem Handy Nachrichten wie: „Und, heute auf dem Eisbrecher unterwegs?“ Hamburg lag auf einmal unter Schnee. Mit weiterem Nachschub von oben.
Also zusätzlich ein paar saisonale Hits eingepackt. Und mit „Winter Wonderland“ und „Sleigh Ride“ starteten wir auf der Barkasse der Herzen zum party-induzierten Schippern über die Elbe. Und endlich konnte ich all das spielen, was sich so angesammelt hat. Mein Eindruck: Diejenigen, die sich durch die Kälte zum Hafen aufgemacht hatten, wollten es dann aber auch so richtig wissen. Was für eine famose ausgelassene Sause. Und wie wunderschön, mit der tollen Hedi-Crew wieder auf den Planken zu schwanken. Danke an Kapitän Rainer, an Nono, Susanne und Johannes!
April: Serien-Ereignis des Jahres mit „Pachinko“
Im Laufe der vergangenen drei Jahre habe ich ein große Passion für koreanische Kultur entwickelt. Angefangen mit K-Dramas, also Serien, die mich im Lockdown in neue Erzählwelten geführt haben. Langsamer und poetischer, aber auch over the top und absolut up to date. Wie sich die Liebe zum Detail, zu Gesten und Nuancen mit einem ultimativen Trend- und oftmals auch Technikbewusstsein verbindet, fasziniert mich sehr. Und begeistert bin ich auch, wie selbstverständlich Popmusik in das Storytelling integriert wird.
Über K-Pop landete ich schließlich auch bei der entsprechenden Literatur, wobei es mir der Roman „Pachinko“ der amerikanisch-koreanischen Autorin Min Jin Lee besonders angetan hat. Sie erzählt äußerst kunstvoll von Lebenslinien, die sich von Korea über Japan bis in die USA erstrecken. Und als ich erfuhr, dass das Buch als Serie verfilmt wurde, fieberte ich dem Release natürlich sehr entgegen. Zumal einer meiner Lieblingsschauspieler, Lee Min-ho, die Rolle des Hansu übernahm. Allein die siebte Episode, in der sich Hansu durch die Wirren des Kantō-Erdbebens von 1923 bewegt, gehört für mich zu den großen und wahrhaftigen Serien-Ereignissen des Jahres. Und über den sehr schönen Vorspann zu „Pachinko“ habe ich den famosen Song „Let’s Live For Today“ von The Grass Roots aus dem Jahr 1967 neu für mich entdeckt.
Mai: auf den Spuren von „Hamilton“ in New York
Als große New-York-Liebhaberin habe ich den Hype um das Musical „Hamilton“ seit 2015 verfolgt. Divers besetzter Cast in einer Hip-Hop-Show über einen der US-Gründerväter. Die Obamas als Megafans. Karten zu utopischen Preisen. Umso euphorischer war ich, dass ich im Mai auf Pressereise in meine Schatzstadt gehen konnte. Die Stage Entertainment führte uns zu den Ursprüngen des Broadway-Erfolgs. Als Vorbereitung auf die deutschsprachige Premiere im Hamburger Operettenhaus im Oktober 2022.
Allein wieder in die Skyline von Manhattan einzutauchen, hat mich schon enorm glücklich gemacht. Highlight der Reise war jedoch der Interview-Nachmittag im Drama Book Shop. Nach den unzähligen Zoom-Calls der Corona-Zeit endlich wieder vor Ort Interviews führen. Und dann unter anderem auch noch mit Lin Manuel Miranda, dem Schöpfer von „Hamilton“. Ein entspannter und absoluter eloquenter Typ. Unter einer voluminösen Bücherinstallation erzählte er davon, wie er einst im Weißen Haus die ersten Verse von „Hamilton“ vorstellte. Definitiv eine Motivation, groß zu träumen. „I am not throwing away my shot“.
Juni: Fan-Energie bei Harry Styles im Hamburger Stadion
Für mich ist Harry Styles einfach der Popstar des Jahres 2022. Omnipräsent, androgyn, freundlich, mit Haltung. Zu „As It Was‟ habe ich im Frühjahr auf meiner ersten richtigen Privatparty seit Corona endlich wieder ausgelassen getanzt. Und fürs Abendblatt habe ich über sein Stadionkonzert in Hamburg geschrieben (siehe Titelfoto). Umgeben von den wunderbaren Kolleginnen Susanne Hasenjäger vom NDR und Katja Schwemmers von der Mopo. Die warme Energie, die die vielen jungen Fans da hergestellt haben, hat mich sehr berührt. Und wie sie bei „As It Was‟ aus voller Seele mitgesungen haben: „Answer the phone / „Harry, you’re no good alone / Why are you sittin‘ at home on the floor? / What kind of pills are you on?‟ Das Thema Mental Health in so einem populären Song anzupacken — mega.
Juli: Clubkultur im Kleinen mit Anoki, Hazlett und Masha The Rich Man
Konzerte in und vor Musikclubs hatten es im Jahr 2022 über weite Strecken nicht leicht. Ein Publikum, das in den Ausläufern der Pandemie noch zurückhaltend ist. Der Krieg und seine Folgen. Fachkräftemangel, Kostensteigerung und Energiekrise (siehe dazu auch meinen Blogpost zur Applaus-Verleihung der Initiative Musik). Doch wie bereichernd gerade die Nähe solcher Konzerte sein kann!
Stellvertretend für die vielen kleinen bis mittelgroßen Shows möchte ich an dieser Stelle die Knust Acoustics auf dem Lattenplatz nennen. Den Berliner Sänger, Rapper und Musiker Anoki hatte ich im April in meiner Blogreihe „Mein Beitrag“ vorgestellt. Und daher habe ich mich außerordentlich gefreut, diesen charismatischen Menschen persönlich kennenzulernen und live zu erleben. Wie er mit seiner Band im Flow war. Wie er sich ins Publikum stellte und zum Mitsingen animierte. „Is ok, is ok, is ok“. Mit dabei waren an diesem Sommerabend auch der Singersongwriter Hazlett, der seine ganze Freundlichkeit in seine Songs goss. Und Masha The Rich Man, die auch einen Folksong aus ihrer ukrainischen Heimat anstimmte. Fühlte sich an wie ein Zuhause.
August: zukunftsweisendes Festival-Erlebnis bei der Pop-Kultur Berlin
Das erste Mal habe ich dieses Jahr das Pop-Kultur Festival in Berlin besucht und darüber hier auf dem Blog geschrieben. Ich war sehr beeindruckt, wie viele tolle Ansätze das Team realisiert hat in Bezug auf Diversität, Inklusion und Ausloten von zeitgenössischer sowie zukunftsweisender Popmusik. Äußerst inspirierend fand ich die Performance der Musikerin Güner Künier, in der sie sich mit den Traditionen ihrer türkischen Familie und ihren eigenen Freiheitsbedürfnissen auseinandersetzt. Im Dezember 2022 ist ihr Debütalbum „Aşk‟ erschienen. Unbedingt auschecken!
September: Reeperbahn Festival zwischen Krisen und Popkulturliebe
Der September steht stets im Zeichen des Reeperbahn Festivals. In 2022 pendelte die Atmosphäre für mich heftig zwischen Krisenszenarien und Popkulturliebe. Diese Gemengelage führte meines Erachtens dazu, dass die Gespräche während des Festivals offener und ehrlicher waren. Die Frage „Wie geht’s?“ reichte schneller in die Tiefe. Sowohl in Einzelgesprächen in Clubs, auf der Straße und beim Networking. Als auch auf den Panels der Reeperbahn Festival Konferenz. Ich war eingeladen, zum Thema „Trusted Transmission“ zu diskutieren. Zusammen mit den wunderbaren Kolleg*innen Dalia Ahmed von FM4, Ruben Jonas Schnell von ByteFM und Maik Brüggemeyer vom Rolling Stone Magazin. Es ging um den Status quo von musikjournalistischen Audioprogrammen. Und warum wir diesen vertrauen. Meines Erachtens führen gerade Podcasts dazu, dass viele bisher ungehörte Stimmen und Meinungen einen Raum finden. Super!
Aber ich finde, dass auch bei diesem relativ jungen Medium noch reichlich Luft nach oben ist. Die Frage ist ja, welche Formate von Firmen und Sponsoren gepusht werden. Sind es die Podcasts, in denen zwei weiße Cis-Dudes ihre Fachsimpeleien ins Internet verlegen? Oder sind es Reihen und Sendungen, die verstärkt auf Vielfalt setzen? Als energische Fürsprecherin für mehr Gendergerechtigkeit habe ich dieses Jahr die Musikerin Charlotte Brandi erlebt. Sowohl künstlerisch bei ihrem tollen Festival-Auftritt im Nochtspeicher. Als auch verbal auf den Panels der Konferenz Operation Ton (siehe November). Im Februar 2023 erscheint ihr Album „An den Alptraum“. Gute Aussichten auf Krawall und Schönheit.
Oktober: Ausgeherlebnisse der Generation 60+ im sanierten Teehaus
Seit 2018 engagiere ich mich ehrenamtlich für die gemeinnützige Initiative Oll Inklusiv. Gegründet von der fabelhaften Mitra Kassai, um Menschen 60+ mit innovativen Kultur- und Freizeitangeboten eine beschwingte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Von Anfang an gehört es zum Konzept, moderne Räume der Stadt zu erschließen. Vor allem Musikclubs, die nachmittags für Konzerte, Lesungen, Tanz und vor allem Klönschnack genutzt werden. Und seit Herbst diesen Jahres hat Oll Inklusiv ein wirklich wunderbares neues Zuhause: das sanierte Teehaus bei der Rollschuhbahn in Planten un Blomen. Mit den Glasfronten fühlt es sich so an, als sitze man unmittelbar im Grünen.
Anfang Oktober2022 war ich das erste Mal an diesem magischen Ort. Bei der Reihe „Erzähl doch mal“ berichteten die Ollen, wie wir sie liebevoll nennen, von ihren früheren Ausgeherlebnissen. In Begleitung von Mutti in den Star-Club (da noch nicht volljährig). Mit der Beat-Band die Szene in Langenhorn aufgemischt. Den Verzehrzwang mit einem Trinkgeld an die Kellner umgangen. Ich hätte noch ewig zuhören können bei all diesen Anekdoten. Wie jung alle im Herzen sind!
November: Workshop zum Bandbio-Schreiben bei Operation Ton
Äußerst gehaltvoll war für mich in diesem Jahr die zweitägige Musikkonferenz Operation Ton, organisiert von dem wie immer top aufgestellten Team von RockCity. Am Samstag gab ich einen Workshop zum Thema Bandbio schreiben. Frei nach Dolly Partons Motto: „Find out, who you are, and do it on purpose“. Meine Lieblingsbeschäftigungen Popkultur und Texten praktisch zu vermitteln, hat einfach unfassbar Spaß gemacht. Mit den geschätzten Kolleg*innen Caro Schwarz vom Blog Musicspots und Sascha Krüger habe ich im Anschluss dann noch 1:1-Beratungen zur eigenen Band- bzw. Artistbio gegeben. Der aufrichtige Austausch, der da jeweils zustande kam, war wirklich sehr bereichernd. Ein Angebot, das ich 2023 definitiv ausbauen möchte.
Dezember: NDR Nachtclub Überpop mit Autorin Katja Kullmann
Im Verbund mit den Kolleg*innen Siri Keil, Henning Cordes und Andreas Moll sowie Redakteurin Angela Gobelin moderiere ich weiterhin die Sendung „Nachtclub Überpop“ auf NDR Blue. Im Dezember nun wurde mein Gespräch mit der Autorin Katja Kullmann ausgestrahlt. Ihr Buch „Die Singuläre Frau“ gehört für mich zu den Lese-Highlights des Jahres. Beschreibt sie doch ausgeruht, amüsant und klug, wie sich das weibliche Sololeben als Daseinsform immer selbstverständlicher durchsetzt. Auf meiner Leseliste für 2023 steht übrigens das Pendant „Allein“ von Daniel Schreiber ganz oben.
Ich hatte Katja Kullmann zum Interview in ihrer Wahlheimat Berlin getroffen und sie als äußerst zugewandte Gesprächspartnerin erlebt. Das Tolle: Sie hatte Songs über freiheitsliebende und alleinlebende Frauen durch die Jahrzehnte hinweg ausgewählt. Los ging’s mit dem hervorragenden „Für die große Liebe hab ich keine Zeit“ von Trude Berliner. Zum Abschluss gab’s Hip-Hop und Grime von Lady Leshurr. Und auch alles dazwischen lässt sich online nachhören.
Nachdem ich 2019 mit reichlich Imposter Syndrome beim NDR eingestiegen bin, habe ich nun das Gefühl, mich langsam hineingefuchst zu haben in die Materie. Eine sehr schöne Bestätigung war diesbezüglich auch die Nominierung für den International Music Journalism Award des Reeperbahn Festivals in der Kategorie Audio. Konkret ging es um meine Radiosendung aus dem März 2022 zum Thema „Klangkörper Frau“ mit der Kulturanthropologin Catharina Rüß. Vielen lieben Dank dafür!
Konfetti, gute Musik und alles Liebe für 2023!
Von Herzen wünsche ich Euch nun ein tiefes Durchatmen nach 2022 und ein gesundes sowie inspirierendes 2023 mit Glück, Erfolg, Offenheit und Liebe — Eure Biggy Pop.